| # taz.de -- Architektur in Montreal: Die Zukunft von gestern | |
| > Vor 50 Jahren wurde in Kanada der Wohnungsbau neu erfunden. Zur | |
| > Weltausstellung in Montreal entstand Habitat 67, ein Komplex aus | |
| > Betonboxen. | |
| Bild: Wohnkomplex Habitat 67 am alten Hafen von Montreal | |
| George und Christine Boynton stehen vor der alten Kirche in der rue | |
| Sainte-Catherine, Ecke Boulevard Bourassa und warten auf den Bus. Ein | |
| kanadisches Ehepaar, Ende sechzig, auf dem Weg nach Hause. „Wenn wir zu Fuß | |
| gehen, brauchen wir mindestens eine halbe Stunde“, sagt George. Er meint | |
| das nicht als Vorschlag, er will einfach nur erklären, warum er lieber den | |
| Bus nimmt – ist ja auch praktisch, wenn man einen privaten Shuttleervice | |
| benutzen kann. Die Boyntons leisten ihn sich gemeinsam mit ihren Nachbarn. | |
| Wir steigen ein, der Bus rollt durch Montreal, die Metropole der | |
| frankofonen kanadischen Provinz Quebec, und braucht nur ein paar Minuten | |
| für die Fahrt vom Stadtzentrum hinunter zum Hafen am Sankt-Lorenz-Strom. | |
| Noch eine scharfe Linkskurve, dann erreichen wir die Cité du Havre, eine | |
| schmale Landzunge, die den Fluss am Hafen in zwei Arme teilt. Dort befindet | |
| sich die Endstation: Habitat 67. | |
| Eine Wohnanlage, die aussieht, als hätte ein Riese einen Sack mit | |
| gigantischen Bauklötzen ausgeschüttet. Dass dieser Gebäudekomplex auf | |
| dieser Landzunge steht, liegt daran, dass im Sommer 1967 eine | |
| Weltausstellung stattgefunden hat. Damals feierte das Land Kanada seinen | |
| hundertsten Geburtstag und nutzte die Expo 67 in Montreal, um sich als | |
| aufstrebende moderne Nation zu präsentieren. Dazu lieferte die neue | |
| Wohnanlage die passende Architektur: experimentell, progressiv und | |
| unübersehbar. „Ein bleibendes Symbol der Expo“, schrieb die New York Times | |
| nach der Eröffnung mit visionärem Gespür, und die New York Herald Tribune | |
| glaubte sogar eine „Architekturrevolution“ zu erkennen. | |
| Auch jenseits des Atlantiks gab es viel Lob für den futuristischen Bau. Der | |
| Bertelsmann-Verlag präsentierte ihn in einem Bildband unter dem Titel „Alle | |
| Wunder dieser Welt“ neben dem Pariser Eiffelturm und dem Brüsseler Atomium | |
| und feierte den jungen Architekten Mosche Safdie, damals noch keine 30 | |
| Jahre alt, als „rechtmäßigen Erben Le Corbusiers“. Ein halbes Jahrhundert | |
| später sind Eiffelturm und Atomium weltbekannte touristische Hotspots, | |
| während Habitat 67 ein Geheimtipp für Kanadareisende geblieben ist – auch | |
| wenn das Bauwerk unter Fachleuten als Ikone der modernen Architektur gilt. | |
| ## Das neue Konzept | |
| „Amazing spot for pictures“, steht auf der Internetseite von Tourisme | |
| Montreal. „Habitat 67 ist wirklich etwas Besonderes, es ist einzigartig“, | |
| sagt George Boynton, der seit vielen Jahren darin wohnt. Der Architekt | |
| Mosche Safdie, ein Kanadier mit israelischen Wurzeln, schaffte mit seinem | |
| Debüt auf Anhieb den internationalen Durchbruch. | |
| Dahinter steht eine Vision: „Wir müssen neue Formen des Wohnungsbaus | |
| entwickeln“, schrieb der junge Architekt nach einer Studienreise durch | |
| Nordamerika in einem persönlichen Manifest. Als Alternative zu endlose | |
| Suburbs und tristen Hochhaussiedlungen sollte etwas Neues entstehen: | |
| dörflich strukturierte Wohnanlagen mit günstigen Apartments, die den | |
| Komfort von Häusern bieten. Auch technisch wollte Safdie neue Maßstäbe für | |
| den Wohnungsbau setzen und industrielle Produktionsmethoden anwenden. | |
| Sein Plan: Gebäude bauen wie Autos oder Flugzeuge. Das Ergebnis: Habitat | |
| 67, eine Stadt vom Fließband, zusammengesetzt aus vorfabrizierten, | |
| standardisierten Betonboxen, die der Anlage ihre kantige Form geben. | |
| „Mosche Safdie hatte damals eine visionäre Idee, und er konnte sie | |
| realisieren, weil er die richtigen Leute kannte“, sagt George Boynton, | |
| während vor uns eine gläserne Schiebetür mit einem leisen Zischen den Weg | |
| in die Lobby frei macht. Während wir mit dem Fahrstuhl hinauffahren, | |
| erfahre ich, dass die Anlage aus 354 „Modulen“ besteht. | |
| Die Module sind bewohnbare Betonkästen mit identischen Abmessungen: elf | |
| Meter lang, drei Meter hoch, fünf Meter tief. Ursprünglich wollte der | |
| Architekt 1.000 Module aufstellen und nicht nur Wohnungen bauen, sondern | |
| auch Läden und eine Schule in seine Wohnanlage integrieren, aber dafür | |
| reichte sein Budget nicht. Gebaut wurden schließlich nur Wohnungen. So | |
| gesehen, ist sein Konzept einer Stadt in der Stadt unvollendet geblieben. | |
| Trotzdem gilt Habitat 67 heute als Meilenstein der Architekturgeschichte | |
| und als eines der originellsten Beispiele für einen Stil, der Brutalismus | |
| genannt wird. | |
| ## Harte Kanten, viel Beton | |
| Typische Merkmale dieses Stils: harte Kanten und sehr viel Beton. Von | |
| beidem bietet die monumentale Wohnanlage eine Menge. Die grauen Fassaden | |
| von Habitat 67 ziehen sich auf einigen Hundert Metern die Uferstraße | |
| entlang. Die Module sind kreuz und quer aufeinandergestapelt, aufgetürmt zu | |
| drei Betonbergen, die an den höchsten Punkten zwölf Geschosse haben. Einige | |
| sind im Inneren durch Treppen verbunden, bilden Apartments auf mehreren | |
| Ebenen. Andere sind von außen über halbseitig überdachte Korridore, Brücken | |
| und Fahrstühle erreichbar. Insgesamt gibt es 158 Wohnungen, große und | |
| kleine, jede hat mindestens eine Dachterrasse, manche haben zwei oder drei. | |
| In die Wände sind rechteckige Fenster eingelassen, die die Form der | |
| Betonboxen optisch akzentuieren. Manche Module sind nur an einer Seite mit | |
| der tragenden Struktur verbunden und ragen auf der anderen Seite so weit | |
| ins Freie, dass sie in der Luft zu schweben scheinen. Das Ziel unseres | |
| Rundgangs befindet sich ganz oben, in 40 Meter Höhe. Apartment 1011. Der | |
| Eigentümer ist Mosche Safdie, der Architekt. Früher hat seine Frau in 1011 | |
| gewohnt, doch seit ihrem Auszug steht das Apartment leer. „Es wäre der | |
| ideale Ort für einen Showroom oder ein kleines Habitat-Museum“, sagt George | |
| Boynton. | |
| Denn potenzielle Besucher sind auch schon da – fast jeden Tag kommen | |
| Touristen und wollen die Anlage besichtigen. Wegen der vielen externen | |
| Interessenten ist der Plan entstanden, ein Apartment in einen Showroom | |
| umzuwandeln – damit der Besucherstrom ein Ziel bekommt und besser gesteuert | |
| werden kann. | |
| Bisher kann man Habitat 67 nur als Teilnehmer einer geführten Tour | |
| besichtigen, und das auch nur dann, wenn George Boynton Lust und Zeit für | |
| eine Tour hat. Apartment 1011 ist besonders sehenswert, weil in den Räumen | |
| das Interior Design der sechziger Jahre erhalten ist. | |
| Die Module befinden sich auf zwei Etagen, sind durch elegante Holztreppen | |
| verbunden und mit hellem Stäbchenparkett ausgelegt. Das Badezimmer ist eine | |
| beigefarbene Fiberglaskabine aus einem Guss, die wie eine Flugzeugnasszelle | |
| aussieht. Im Originalzustand erhalten sind auch die Schiebetüren zwischen | |
| den Räumen, dezente schwarz-weiße Lichtschalter und eine Einbauküche im | |
| Mid-Century Modern Style. Es fällt allerdings schwer, sich auf das echte | |
| Retrodesign zu konzentrieren, weil das Auge des Betrachters durch das | |
| grandiose Panorama abgelenkt wird. | |
| ## Licht und Luft | |
| Durch bodentiefe Fenster wandert mein Blick über den Sankt-Lorenz-Strom und | |
| die Stromschnellen, auf denen im Sommer viele Surfer reiten, über den Hafen | |
| von Montreal mit seinen Piers und Frachtschiffen, über die Skyline mit | |
| ihren Wolkenkratzern und über einen grünen Hügel, den Mont Royal, der sich | |
| hinter der Skyline abzeichnet. Wenn man die Türen zur Terrasse öffnet oder | |
| hinaustritt, kann man den Sankt-Lorenz-Strom auch hören. Weite Ausblicke | |
| über Fluss und Stadt bieten auch die kleineren Apartments – darauf hat der | |
| Architekt bei der Konzeption der Modulstruktur geachtet. Viel Licht und | |
| Luft sollte sein Bau allen Bewohnern bieten und viel Platz. So viel Platz, | |
| dass die Menschen, die hier leben, sich problemlos aus dem Weg gehen | |
| können. | |
| Der riesige Komplex sieht zwar so aus, als gäbe es hier Wohnraum für | |
| Tausende – doch im Habitat 67 wohnen nur rund dreihundert Menschen, | |
| darunter viele Paare wie die Boyntons – obere Mittelschicht. George Boynton | |
| hat früher an der McGill University in Montreal das Executive Institute | |
| geleitet, eine Weiterbildungseinrichtung für Manager, und er ist auch im | |
| Habitat seit vielen Jahren am Management beteiligt. Seine Frau Christine | |
| hat 1967 auf der Weltausstellung gejobbt. | |
| Damals hat sie miterlebt, wie in Montreal ein Prototyp des Wohnens der | |
| Zukunft entstand. „Ich war total begeistert“, erzählt sie. „Damals gab es | |
| noch nicht die gläsernen Wolkenkratzer, die man heute überall sieht. Ich | |
| war begeistert von dem hellen Licht in den Habitat-Wohnungen, von den | |
| großen Fenstern und den klaren Grundrissen.“ Sie und George waren damals | |
| schon ein Paar. | |
| Die beiden wohnten im Zentrum von Montreal und träumten von einer Zukunft | |
| in dem hypermodernen Modulbau mit Blick auf den Sankt-Lorenz-Strom. Viele | |
| teilten in den siebziger Jahren diesen Traum. Für Wohnungen im Habitat 67 | |
| gab es eine lange Warteliste. Fünf Jahre mussten die Boyntons sich | |
| gedulden, bis sie den ersehnten Anruf der Hausverwaltung bekamen. In den | |
| achtziger Jahren wurde das Gebäude, das nach der Weltausstellung lange in | |
| öffentlicher Hand war, privatisiert. | |
| ## Eine Eigentümergesellschaft | |
| Die Mieter gründeten eine Eigentümergesellschaft, jeder Eigentümer kaufte | |
| Anteile entsprechend der Zahl der von ihm bewohnten Module. Um die | |
| laufenden Kosten zu decken, zahlen die Eigentümer jeden Monat Wohngeld in | |
| einen gemeinsamen Topf. Es wird für die Instandhaltung gebraucht und um die | |
| vielen Menschen zu entlohnen, die rund um die Anlage beschäftigt sind – | |
| Gärtner, Pförtner, Reinigungskräfte, Busfahrer, Hausmeister, insgesamt | |
| knapp zwanzig Arbeitskräfte. Wegen der hohen laufenden Kosten ist das Leben | |
| im Habitat 67 nicht billig. Für eine 120-Quadratmeter-Wohnung beträgt das | |
| monatliche Wohngeld rund tausendvierhundert Euro. | |
| George Boynton steht auf der Terrasse von Apartment 1011. „Wenn wir hier | |
| einen Showroom hätten, könnten wir Habitat 67 als Sehenswürdigkeit | |
| vermarkten und die Einnahmen für die Sanierung nutzen. Bei guter | |
| Vermarktung könnte Habitat 67, das Symbol der Montrealer Expo, eines Tages | |
| vielleicht doch noch so berühmt werden wie der Pariser Eiffelturm oder das | |
| Atomium in Brüssel“, meint er. | |
| 16 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Oliver Burgard | |
| ## TAGS | |
| Architektur | |
| Reiseland Kanada | |
| Montreal | |
| Brutalismus | |
| Stadtplanung | |
| Schwerpunkt USA unter Donald Trump | |
| IBA | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Ausstellung über Jugoslawiens Bauten: „Architektur hatte Verantwortung“ | |
| Die Schau „Toward a Concrete Utopia“ in New York zeigt, dass inspirierende | |
| Architektur auch in der sozialistischen Welt existierte. Ein Gespräch mit | |
| Kurator Vladimir Kulić. | |
| Guter alter New Urbanism: Ein Dorf für die Stadt | |
| Kinder und Alte, Pilger und Wohnungslose: Rund um St. Trinitatis in Altona | |
| will die evangelische Kirche neu bauen. Wie es dort einmal aussehen soll, | |
| gab sie jetzt bekannt | |
| Vor Donald Trump geflüchtet: Oh Kanada, oh Kanada | |
| Seit einem Jahr ist Trump US-Präsident. Tausende zogen seitdem ins | |
| Nachbarland Kanada. Manche freiwillig, andere, weil sie keinen anderen | |
| Ausweg sahen. | |
| Hansaviertel in Berlin wird 60 Jahre alt: Gebautes Glücksversprechen | |
| Das Hansaviertel war die Antwort Westberlins auf die Stalinallee. Es gilt | |
| inzwischen wieder als schick. Taugt es als Modell für den Städtebau von | |
| morgen? |