# taz.de -- Gedenken an die Toten von Babyn Jar: Wir haben nur Worte | |
> In diesen Tagen wurde in Kiew der Toten des NS-Massakers von Babyn Jar | |
> gedacht. Bis heute wird dort ums Gedenken gerungen. Ein Ortsbesuch. | |
Bild: Gedenken an die Opfer von Babyn Jar: Einschusslöcher in spiegelndem Meta… | |
Kiew taz | Es sei „ein schwerer Weg hierher“, sagt Frank-Walter Steinmeier, | |
und es klingt, als bedauere er sich. „Als Deutscher und als deutscher | |
Bundespräsident ist es ein schwerer Weg hierher.“ Er meint die | |
Gedenkveranstaltung, auf der er spricht – in Babyn Jar, die am Mittwoch auf | |
dem Gelände der Kiewer Schlucht stattfand, wo die deutschen Nazis | |
Hunderttausende Menschen erschossen. Innerhalb von zwei Tagen töteten sie | |
fast 34.000 Jüdinnen und Juden. Dann sagt er: „Es waren Deutsche, die diese | |
Gräuel begangen haben. Worte versagen vor dem Ausmaß ihrer Grausamkeit und | |
Brutalität.“ | |
Wir haben aber nur Worte. Mit ihnen muss das Schweigen gebrochen werden. | |
Das Schweigen ist „die zweite Schuld“, so nannte es der Publizist Ralph | |
Giordano. Denn es verschweigt Unrecht und schützt die Täter. Aufgrund des | |
Schweigens gibt es auch nicht so viele Leute in Deutschland, denen Babyn | |
Jar etwas sagt. | |
In der Ukraine wiederum war das Gedenken an die Opfer auch schwierig. | |
Die Melnykovastraße hoch, die jetzt Illyenkastraße heißt – vom | |
Lukyanivskaplatz aus kommend, auf dem brüchigen Trottoir. Dazu der Lärm. | |
Busse, Trolleybusse, Lastwagen, Autos fahren über schleifenden Asphalt. Der | |
Krach ist ein stetes Pulsieren. „Kiew ist immer laut“, sagt Hanna | |
Hrytsenko. Sie geht den Weg, den die Jüdinnen und Juden Ende September 1941 | |
gingen, hin zur Schlucht Babyn Jar, wo sie erschossen wurden. Damals soll | |
es in den Straßen gespenstisch still gewesen sein, nur das Geräusch der | |
Schritte, ein endloser Zug. So habe es eine Zeitzeugin erzählt. Anders als | |
heute säumten da noch keine Hochhäuser die Straße. Babyn Jar lag am | |
Stadtrand, dort wo auch Friedhöfe waren. | |
Nun jährte sich das Massaker an den Juden zum 80. Mal. In Kiew aber ist der | |
Streit, wie der ungeheuren Wucht, die auf Babyn Jar liegt, angemessen | |
gedacht wird, nicht zu schlichten. Der Streit übers Gedenken ist selbst | |
Teil der Geschichte. Wem gehören die Toten? | |
Die Autorin Hanna Hrytsenko forscht zu Faschismus und der Neuen Rechten. | |
Sie redet rasend schnell. Sie versucht, das Ungeheure zu benennen, das mit | |
den Nazis anfing und sich als Unsagbares ins Gedächtnis der Menschen in der | |
Ukraine gebohrt hat. Sie erzählt, dass die Deutschen nur zehn Tage vor dem | |
jüdischen Exodus Kiew eingenommen hatten; erzählt, dass die Leute nur die | |
Grausamkeiten der Sowjets kannten, deshalb dachten, die Nazis seien | |
Befreier; sie erzählt, dass fünf Tage nach dem Einmarsch das Stadtzentrum | |
in Flammen aufging; erzählt, dass die Nazis dies zum Anlass nahmen, die | |
jüdische Bevölkerung aus der Stadt zu führen, direkt ins Verderben. Geplant | |
war der systematische Massenmord der jüdischen Bevölkerung schon vorher. | |
## Und dann. Dann. | |
Babyn Jar war eine enge Schlucht, einst Teil eines Flusstals, das durch | |
Laufänderungen austrocknete, zweieinhalb Kilometer lang. Die Nazis sahen | |
sofort, dass die Topografie für ihren Massenmord passte, den sie am 29. und | |
30. September 1941 kaltblütig durchführten. Binnen 36 Stunden waren | |
mindestens 33.771 Kiewer Juden und Jüdinnen tot, erschossen, eine | |
unvorstellbare Zahl. Sie geht aus dem Bericht der Sondereinsatzgruppe | |
hervor. Einsatzgruppen folgten der Wehrmacht, Polizeieinheiten, die der SS | |
unterstellt waren. Es waren die, die schossen. An den Rand der Schlucht | |
wurden die Menschen geführt, mussten sich ausziehen, hinabsteigen, sich | |
hinlegen mit dem Gesicht nach unten. Und dann. Dann. | |
„Ich möchte weinen und weine nicht“, sagt eine Frau, die gefragt wird, was | |
ihr Babyn Jar bedeutet. Überall seien damals Menschen erschossen worden. | |
1,5 Millionen in Osteuropa wird geschätzt. „Holocaust durch Kugeln“, heißt | |
es. | |
Nicht nur die jüdische Bevölkerung Kiews wurde in Babyn Jar ausgelöscht. | |
Wenige Tage zuvor hatten die Nazis in der Schlucht Menschen aus einer | |
psychiatrischen Klinik erschossen, als wäre es die Generalprobe. Bis 1943 | |
mordeten sie dort weiter. Roma, Kriegsgefangene, Behinderte, Partisanen, | |
Zivilisten. Bis zu 200.000 Opfer soll es gegeben haben. Als die Deutschen | |
1943 auf dem Rückzug waren, wollten sie die Spuren verwischen. | |
Zwangsarbeiter mussten die Leichen von Babyn Jar ausgraben und verbrennen. | |
Dann wurden auch sie ermordet. Viele der Mörder aber haben nach dem Krieg | |
unbehelligt in Deutschland weitergelebt. | |
Offiziell gedacht wurde der Opfer in der Sowjetunion, zu der die Ukraine | |
nach 1943 wieder gehörte, nicht, obwohl es schon früh informelle | |
Erinnerungsmomente gab. Abgelegte Blumen. Kerzen. Kleine Menschengruppen, | |
die an Jahrestagen zur Schlucht gingen. Die Sowjets bauten lieber ein | |
Stadion auf dem Gelände und fluteten die Schlucht mit Abraum aus einer | |
Backsteinfabrik in der Hoffnung, das Flussbett so zu füllen. Es | |
funktionierte nicht, ein Damm brach und riss 1961 bis zu 2.000 Menschen in | |
den Tod. Erst 1976 nahmen die Sowjets die Stimmung der Bevölkerung auf und | |
bauten ein monumentales Mahnmal, das an die ermordeten Kiewer | |
„Sowjetbürger“ erinnert. Über das Auslöschen der jüdischen Bevölkerung… | |
Wort. | |
Nach und nach hätten, erzählt Hanna Hrytsenko, Menschen kleine Gedenkorte | |
auf dem Gelände eingerichtet. Zeitweise habe sie bis zu 37 gezählt. Sie | |
führt an einigen vorbei, die blieben und größer wurden. Jener Leiterwagen, | |
der an die ermordeten Roma erinnert. Das kleine Denkmal, das den ermordeten | |
Kindern gewidmet ist, Grabsteine, die an die jüdischen Toten erinnern, die | |
Menora auf dem Hügel, hinter dem noch ein Rest der von Birken bewachsenen | |
Schlucht ist. „In der Ukraine muss man die Sachen selbst in die Hand | |
nehmen“, sagt Hrytsenko. | |
## Bauen es auf Tote | |
Vor fünf Jahren, zum 75. Jahrestag des Massakers, wurden die Ergebnisse | |
eines unabhängigen Architekturwettbewerbs zu Babyn Jar präsentiert. Chancen | |
auf Verwirklichung hat keiner. Denn gleichzeitig kam privates Geld ins | |
Spiel. Oligarchen, fast alle jüdischer Abstammung und gut vernetzt mit | |
Russland, gründeten mit anderen einflussreichen Persönlichkeiten eine | |
Stiftung: das Babyn Yar Holocaust Memorial Center. Sie denken groß, ihre | |
Verbindungen zur Politik sind eng. Jetzt bauen sie es auf dem Gelände. | |
Bauen es auf Tote. | |
Bei einer Pressekonferenz kurz vor der Gedenkveranstaltung zum 80. | |
Jahrestag sitzen sieben Männer des Stiftungsrats auf dem Podium, darunter | |
die Oligarchen Mikhail Fridman, German Khan oder Victor Pinchuk, aber auch | |
Wladimir Klitschko, Bruder des Kiewer Bürgermeisters. Sie haben es sich zu | |
eigen gemacht, dass des Holocausts gedacht werden müsse in Babyn Jar, denn | |
80 Jahre sei nichts passiert, wie einer sagt. „Wir sind das erste Holocaust | |
Memorial Center, das direkt am Ort des Geschehens gebaut wird“, sagt ein | |
anderer. Den künstlerischen Leiter, Ilya Khrzhanovsky, der, so der Vorwurf, | |
in seinen früheren Projekten manipulatives und übergriffiges Verhalten | |
förderte, nennen sie „ein Genie“. Fragen danach, wie sie die | |
Zivilgesellschaft einbeziehen, ob sie die Disneylandisierung des Gedenkens | |
vorantreiben, ob es später Eintritt kosten wird, schmettern sie ab. | |
„Sie machen das, was die Leute bisher gemacht haben, klein, wischen es vom | |
Tisch“, sagt Hanna Hrytsenko.“ | |
Und so ist es ja auch. Im Entstehen ist eine von Kunst inspirierte | |
Holocausterlebniswelt, die vor allem die Verbrechen an den Juden | |
thematisiert. Immerhin, sie wird Menschen aus aller Welt anziehen. Damit | |
sie erfahren, was hier geschah. | |
Das Babyn Yar Holocaust Memorial Center hat zum Jahrestag mehrere | |
Installationen dem Publikum übergeben. Darunter das Spiegelfeld des | |
Künstlers Denis Shibanov und des Sounddesigners Maksym Demydenko. Ein | |
glänzendes Metallfeld mit Stelen, das die Erde durch die Spiegelung mit dem | |
Himmel verbindet. Die Metallflächen wurden durchlöchert und zwar mit Kugeln | |
desselben Kalibers, mit dem auch die Nazis in Babyn Jar schossen. Dazu | |
wurden die Namen von Opfern in Sound umgesetzt, die Vibrationen hämmern | |
gegen die Platten und stören den Gang. | |
## Fragile Koordinaten | |
Die Installation arbeitet mit der gleichen Bildsprache wie das | |
Holocaustmahnmal und der Garten im Jüdischen Museum Berlin: Alle drei | |
zeigen, wie fragil die Koordinaten sind, auf die man sich als Mensch | |
verlässt. Auf Orientierung, Gleichgewicht, auf das, was man kennt. | |
Diese Installation verbindet das Land der Opfer mit dem Land der Täter. Was | |
es nicht löst: Der Ort, wo gedacht wird, müsste in Deutschland sein, wie | |
der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker sagt. „Die Deutschen müssten | |
wissen, was Babyn Jar war.“ | |
Verbindend ist auch die Musik, die bei der Gedenkveranstaltung aufgeführt | |
wurde. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin war eingeladen, | |
Schostakowitschs Sinfonie „Babi Jar“ zu spielen. Er hatte Anfang der 60er | |
Jahre ein Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko vertont und damit dazu | |
beigetragen, dass über Babyn Jar in der Sowjetunion gesprochen wurde. | |
Paul Celan übersetzte ein paar Zeilen daraus so: „Über Babij Jar, da redet | |
der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum an, mit | |
Richter-Augen. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, | |
ich fühle, ich werde grau. Und bin – bin selbst ein einziger Schrei ohne | |
Stimme über tausend und abertausend Begrabene hin.“ | |
Und musikalisch? Da wird sanfte Melodie verdrängt von einem unerhörten | |
Zusammenspiel von allem, zusammengehalten von tiefen Männerstimmen, die | |
etwas wie Trost und Sanftheit und Seele sind. Nur nicht für lange. Schon | |
schlägt die Musik wieder dagegen, wird Schrei und Geplärr und wieder kommt | |
doch auch Sanftheit und Linderung. Und draußen, auf der anderen Seite des | |
durchsichtigen Zelts, ist Wind, der die trockenen Blätter wiegt. | |
Warum nur tiefe Stimmen, wird der Dirigent Thomas Sanderling, der | |
russisch-deutsch-jüdischer Herkunft ist, gefragt. Er kannte Schostakowitsch | |
gut. Müsste da nicht Schreien und Wimmern sein? Es sei Schostakowitsch | |
nicht darum gegangen, ein Bild zu zeigen. „Die Aufgabe für Schostakowitsch | |
war, sich zu empören“, antwortet er. | |
Und was machen die Kiewer und Kiewerinnen? Sie haben tags darauf einen | |
Stolperstein verlegt für [1][Dina Pronitschewa], die Babyn Jar überlebte, | |
aus der Grube kroch und Zeugnis ablegte schon 1946 vor Gericht. | |
Denn es gibt nur Worte. Und die Musik. Und Gras, das auf Toten wächst. | |
Die Recherche für diesen Text wurde unterstützt vom Auswärtigen Amt. | |
9 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://(https://www.youtube.com/watch?v=g42AvLG1s1E | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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