# taz.de -- 80 Jahre Massaker bei Kiew: Picknick oder Gedenken | |
> Vor 80 Jahren erschossen Nazis und Helfer 33.771 Jüdinnen und Juden in | |
> Babyn Jar nahe Kiew. Heute wird um den Ort und das Gedenken gerungen. | |
Bild: Grünanlagen im Park von Babyn Jar nahe Kiew | |
Nur wenige hundert Meter vom U-Bahn-Ausgang Dorogoshitschi entfernt, wo | |
abgehetzte KiewerInnen ihre Masken wieder ablegen, einige von ihnen sich am | |
Kiosk eine Cola und ein „Wiener Küchlein“ holen, andere nervös nach der | |
Fahrkarte kramen, dort wo der grüne Park beginnt, fand [1][das Massaker von | |
Babyn Jar] statt. | |
Vor genau 80 Jahren, am 29. und 30. September 1941, kurz nach der Eroberung | |
Kiews durch die Wehrmacht, erschossen hier innerhalb von zwei Tagen | |
deutsche SS- und Polizeieinheiten mit Unterstützung der Wehrmacht sowie | |
ukrainischen Helfern 33.771 Jüdinnen und Juden. Es war das größte einzelne | |
Massaker im Zweiten Weltkrieg. Hier auf dem Gelände neben der | |
U-Bahn-Station kann man an Mahnmalen nachvollziehen, welche Schrecken jene | |
ukrainischen Jüdinnen und Juden an diesem Ort 1941 erlebt haben. Wenn man | |
es denn will. | |
Denn die meisten BesucherInnen dieses Parks, der zugleich Gedenkstätte ist, | |
scheinen das nicht zu wollen. Jogger mit Handy in der Hand rennen durch den | |
Park, junge Familien machen es sich mit einer Decke und einem Picknickkorb | |
bequem, an anderer Stelle sonnt sich ein junger Mann auf dem Bauch liegend | |
auf einer Parkbank und Kinder tummeln sich an einem eisernen Wagen. | |
Wahrscheinlich wissen weder sie noch ihre Eltern, dass dieser Wagen an die | |
ebenfalls hier ermordeten Roma erinnern soll. | |
Artur Solotarenko, Leiter des staatlichen Museums im Nationalen | |
Historischen Memorial-Komplex Babyn Jar, findet dieses Nebeneinander von | |
Erholungsort und Erinnerungsstätte unpassend. „Ich finde, man sollte dieses | |
Gelände umzäunen, so wie es an der Gedenkstätte in Auschwitz gemacht worden | |
ist“, sagt er. Dann deutet er auf eine Stelle unweit des U-Bahn-Ausganges: | |
„Hier hatten wir einen Graben von 30 Metern Tiefe und dieser war am 30. | |
September 1941 bis an den Rand voller Leichen, das Blut ist in Bächen | |
geflossen.“ | |
## Babyn Jar und die Erholungssuchenden | |
Vielen sei gar nicht bewusst, dass sie sich an einem Ort einer großen | |
Tragödie befinden. Fast 45 Prozent der UkrainerInnen wissen nicht, wo Babyn | |
Jar liegt. Das hat das Kiewer Internationale Institut für Soziologe erst | |
kürzlich durch eine Umfrage herausgefunden. | |
Die Möglichkeit im Park picknicken zu können oder sich zu sonnen, würde | |
Solotarenko gerne einschränken. Ein einfaches Unterfangen sei dies nicht, | |
sagt er. Babyn Jar sei für die gestressten Stadtbesucher ein | |
Erholungsgebiet mitten in der Stadt. Dies einfach zu sperren, könnte zu | |
sehr viel Unmut führen. Und auch für die Eltern derer, die sich jetzt im | |
Park tummeln, war dies in der Vergangenheit ein Park und keine | |
Erinnerungsstätte. Schon zu Sowjetzeiten wollte man die Geschehnisse von | |
Babyn Jar verdrängen. Damals sei der Ort ein „Park der Kultur und der | |
Erholung“ gewesen, sagt Solotarenko. | |
Einer, der genau weiß, was hier passiert ist, ist der 86-jährige Michail | |
Sidko. Er ist heute der einzige Überlebende von Babyn Jar. Zum Zeitpunkt | |
des Massakers war er sechs Jahre als. Als die Deutschen am 19. September | |
1941 in Kiew einmarschiert waren, seien sie von Bewohnern der Stadt, unter | |
ihnen auch Juden, mit Salz und Brot begrüßt worden, erzählte Sidko, der | |
seit 2000 in Israel lebt, gegenüber dem ukrainischen Fernsehen im Jahr | |
2016. Man habe nicht geglaubt, dass die Deutschen den Menschen in der | |
Besatzung etwas Schlimmes antun würden. | |
Auch nicht, als am 28. September 1941 in Aushängen die Juden der Stadt | |
aufgefordert wurden, am darauffolgenden Tag unweit der Schlucht Babyn Jar | |
zu erscheinen, mit den wichtigsten Habseligkeiten, Dokumenten und | |
Verpflegung für drei Tage. Auch Sidko ging mit seiner Mutter und seinen | |
drei Geschwistern am 29. September 1941 zur Melnikow Straße in der Nähe von | |
Babyn Jar. Musik sei gespielt worden für die Menschen, die angeblich | |
evakuiert werden sollten. Dass diese Musik den Zweck hatte, die Schüsse zu | |
übertönen, hatten die TeilnehmerInnen dieses Marsches erst begriffen, als | |
es schon kein Zurück und keine Fluchtmöglichkeit mehr gab. | |
## Michail Sidko und sein Bruder Grischa hatten Glück | |
„Am Schlagbaum hatten die Deutschen die Ankommenden in kleine Gruppen | |
eingeteilt“, erzählte Sidko. Eine alte Frau könne er nicht vergessen, die | |
noch am Schlagbaum zu den Soldaten gesagt habe, sie habe den Anschluss an | |
ihre Familie verloren, man solle sie noch durchlassen, damit sie gemeinsam | |
mit ihrer Familie evakuiert werden könne. „Man hat sie nicht durchgelassen | |
und so hat sie fünf Minuten länger leben können als ihre Familie.“ Michail | |
Sidko und sein Bruder Grischa hatten Glück. Während vor ihren Augen ihre | |
Mutter erschossen wurde, hatte ein Soldat den beiden Jungen zugeraunt, sie | |
sollten einfach schnell verschwinden. | |
Wie erinnert man an ein solches Verbrechen an einem Ort, der heute für die | |
meisten StadtbewohnerInnen nichts mit dem Schrecken von damals zu tun hat? | |
Der staatliche Nationale Historische Memorial-Komplex Babyn Jar jedenfalls | |
hat große Pläne. In den nächsten zwei Jahren wolle man eine „Allee der | |
Rechtschaffenen“ einrichten, erzählt der Leiter Artur Solotarenko. In | |
dieser Allee sollen Bücher ausliegen, in denen alle Ukrainer aufgelistet | |
sind, die Juden und anderen Verfolgten das Leben gerettet haben. | |
War das Gedenken an die Opfer von Babyn Jar bis 2016 vorwiegend ein | |
Anliegen einiger, vor allem jüdischer Gruppen, gibt es heute zwei | |
Organisationen, die an die Tragödie erinnern. Nur: Beide arbeiten eher | |
gegeneinander als miteinander. Neben dem staatlichen Erinnerungspark, für | |
den Solotarenko arbeitet, gibt es seit 2016 am selben Ort das private | |
Holocaust Memorial Center Babyn Yar, in dessen Beirat unter anderem auch | |
[2][Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko] sitzt. | |
Dass dieses ausgerechnet von den russischen Oligarchen Pawel Fuchs, German | |
Chan und Michail Fridman finanziert wird, ist für viele ein Ärgernis. Wenig | |
wohlwollend spricht Artur Solotarenko über die Konkurrenz, die mehr Geld | |
und mehr Publicity habe. Nach Angaben des Portals lb.ua haben die | |
Oligarchen 100 Millionen Dollar für das Memorial Center zur Verfügung | |
gestellt. „In Russland kann man als Oligarch nur überleben, wenn man sich | |
gut mit der Regierung und Putin stellt“, sagt Solotarenko. Und in der Tat | |
gehören German Chan und Michail Fridman vom russischen Unternehmen Alpha | |
Group zu den Großen unter den russischen Oligarchen. | |
## Umstrittener künstlerischer Leiter | |
Umstritten ist auch der künstlerische Leiter des „russischen“ Projekts, | |
Ilja Chrschanowski. 2020 hatte Chrschanowskis Film „Dau – Degeneration“ | |
einen Sturm der Empörung ausgelöst, weil er Szenen zeigte, in denen | |
Kleinkinder gefesselt und gequält werden. Außerdem warfen Frauen dem | |
Regisseur übergriffiges Verhalten und Machtmissbrauch vor, [3][wie die taz | |
2020 berichtete]. Seitdem wird aus verschiedenen Lagern die Absetzung | |
Chrschanowskis gefordert. | |
Als Chrschanowskis Pläne für das Babyn Yar Holocaust Memorial Center | |
bekannt wurden, kündigten zwei Mitarbeiter ihre Teilnahme am Projekt: der | |
als leitender Kurator der Ausstellung engagierte österreichische | |
Kunsthistoriker und Museumsplaner Dieter Bogner und der niederländische | |
Historiker Karel C. Berkhoff. Chrschanowskis Konzept sah vor, BesucherInnen | |
durch interaktive Elemente in die Rolle von Opfern, von Kollaborateuren, | |
Deutschen oder Kriegsgefangenen zu versetzen. | |
Der Skandal um Chrschanowski hat sich ein Jahr danach gelegt, doch rund um | |
das Holocaust Memorial Center gibt es neue Konflikte. Eine sogenannte | |
symbolische Synagoge, die in einem Projekt aus Eichenholz angefertigt | |
wurde, steht auf dem Gelände eines alten christlich-orthodoxen Friedhofs. | |
In einem offenen Brief hatten das Ende 2020 ukrainische Juden, unter ihnen | |
Joseph Sisels, Co-Präsident des Verbandes jüdischer Organisationen und | |
Gemeinschaften (Vaad) der Ukraine, kritisiert. | |
Der Versuch, eine Synagoge auf dem Gelände des orthodoxen Friedhofs zu | |
bauen, sei ein Affront gegen jüdische geistige und moralische Werte, heißt | |
es darin. Wer heute das Gelände durchschreitet, kann den Lärm von | |
Baumaschinen nicht überhören. Emsig arbeitet das Holocaust Memorial Center | |
an neuen Projekten. So will man noch bis zum 6. Oktober eine 40 Meter lange | |
und drei Meter hohe „Kristallklagemauer“ und ein symbolisches Hügelgrab | |
fertigstellen. „Sehr unglücklich die Bezeichnung ‚Kristallklagemauer‘“, | |
sagt ein älterer Herr im Vorbeigehen. Wenn er das Wort Kristall höre, falle | |
ihm als erstes die „Kristallnacht“ ein. „Keine schöne Assoziation.“ | |
Angesichts der zahlreichen Konflikte um die Gedenkstätte sehen viele mit | |
gemischten Gefühlen dem 6. Oktober entgegen, an dem man dem 80. Jahrestag | |
des Massenmordes von Babyn Jar gedenken will. Weil Ende September das | |
jüdische Fest Simchat Tora stattfindet, hat man die Feierlichkeiten | |
verlegt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird dann in Babyn Jar | |
anwesend sein, ebenso die Staatsoberhäupter der Ukraine und Israels, | |
Wolodimir Selenski und Isaac Herzog. | |
29 Sep 2021 | |
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[3] /metoo-auf-der-Berlinale/!5666717 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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