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# taz.de -- Erinnerungskultur in der Kleinstadt: Gedenken mit Abstrichen
> Schwarzenbek bei Hamburg ringt mit der Vergangenheit. Neu ist ein
> Gedenkstein für Zwangsarbeiter:innen – auch wenn er etwas anders
> geplant war.
Bild: Manchmal ist der Standort eines Gedenksteins noch wichtiger als seine Ins…
Michael Brodowika wurde nur zwei Monate alt, Irena Ryklo starb mit drei
Monaten und 19 Tagen. Ihre Namen sind auf einer Tafel im Friedensraum der
St. Franziskus Kirche im [1][schleswig-holsteinischen Schwarzenbek]
aufgeführt: gleich links, wenn man die von außen wuchtige Kirche betrifft,
die sich im Inneren angenehm schlicht und zurücknehmend zeigt.
Die damalige Pastorin Christiane Klinge hatte mit einer
Konfirmand:innengruppe im Jahr 2010 begonnen, anhand der kirchlichen
Sterbebücher akribisch die Namen und Sterbedaten von 23
Zwangsarbeiterinnenkindern zu ermitteln. Man hatte sie ihren Müttern
weggenommen und sie nicht ausreichend versorgt: maximal einen halben Liter
kaum verdauliche Kuhmilch billigte man diesen Kindern zu. Mit ihren
Recherchen gingen die Pastorin und ihre Konfirmand:innen schließlich an
die Öffentlichkeit.
Beerdigt liegen einige der Kinder auf dem Neuen Friedhof, ganz in der Nähe
der Kirche. Dort steht inzwischen auch ein Gedenkstein: Nicht explizit für
sie, die zwischen einem Tag und zehn Monaten alt wurden, sondern allgemein
für die damaligen Zwangsarbeiter:innen. Und eigentlich sollte der Stein
auch an ganz anderer Stelle aufgestellt werden.
Schwarzenbek ist eine Kleinstadt, 20 Bahnminuten östlich von Hamburg. 2.300
Einwohner:innen zählte man hier im Jahr 1939. Dann wurden ab 1941
mindestens 2.000 Zwangsarbeiter:innen vorwiegend aus Polen und der
Sowjetunion hierher verschleppt. Später kamen noch Flüchtlinge aus den nun
ehemaligen baltischen Ländern., darunter auch Kinder, von denen gleichfalls
in den kommenden Jahren 23 starben.
Für sie gab es bereits einen Stein, nun sollte auch der
Zwangsarbeiter:innen gedacht werden. Es ging ein wenig hin und her: Wo
soll der Stein hin? Was darf draufstehen? Was nicht? Dann war alles klar:
Der Gedenkstein für die Schwarzenbeker Zwangsarbeiter:innen sollte vor
der Zentrale des Unternehmens LMT Group aufgestellt werden. Aus gutem
Grund: Hier standen einst die Baracken, in denen die
Zwangsarbeiter:innen untergebracht waren.
## Am Ort des Geschehens
Außerdem war der Vorläufer der LMT Group, die Firma Wilhelm Fette
Präzisionstechnik, ein kriegswichtiger Betrieb, der allein sieben
Arbeitslager unterhielt. Am Ort des Geschehens also sollte gedacht,
erinnert und informiert werden.
Dann aber zog das Unternehmen seine Zusage wieder zurück. Beließ es bei
einer vagen Erklärung, man wolle Rücksicht auf seine ausländischen Besucher
nehmen. Das Unternehmen hat eine wichtige Zweigstelle in Nanjing, China. Da
kommt man auf Gedanken.
Der Friedensraum hat noch einen zweiten Teil, der eher ein Kriegsteil ist:
Hier wird zunächst der drei Schwarzenbeker Soldaten des Krieges von 1870/71
gedacht, die nicht wiederkamen. In eine dunkel-hölzerne Platte sind
anschließend die Namen der ums Leben gekommenen Soldaten des Ersten
Weltkrieges tief hineingeschnitzt.
Und dann ist da noch das Buch: fast quadratisch, schwer und groß, mit
stabilen Seiten. Man muss sehr tief ein- und wieder ausatmen, wenn man die
Texte liest. Alphabetisch erinnert man hier Seite für Seite an die
Gefallenen, an die nicht mehr wiederaufgetauchten Soldaten des Zweiten
Weltkrieges: an einen Unteroffizier, der bei den „harten Vormarschkämpfen
auf Stalingrad“ dabei war, wie man lesen kann; an einen SS-Rottenführer
oder an einen Feldwebel, der schon 1938 unterwegs war, die Spanische
Republik zu zerstören – deswegen „Spanienkreuz in Silber“ – wie stolz
vermerkt ist.
Gleich um die Ecke ist dann noch das Schwarzenbeker Markcafé: gut besucht
und angenehm lärmig heute – auch der Kaffee ist gut und stark genug, dass
man sich ein wenig erholen kann, hier in Schwarzenbek.
21 Dec 2021
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzenbek
## AUTOREN
Frank Keil
## TAGS
Schleswig-Holstein
Erinnerungskultur
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