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# taz.de -- Künstler über NS-Familiengeschichte: „Es gibt keine Entlastung�…
> Zwei Künstler:innen haben eine Debatte über NS-Familiengeschichten
> angestoßen. Leon Kahane, ebenfalls Künstler, vermisst jüdische
> Perspektiven.
Bild: In der Videoinstallation „Jerricans to can Jerry“ ist der Wehrmachtsk…
taz: Herr Kahane, die Künstler:innen [1][Moshtari Hilal und Sinthujan
Varatharajah haben kürzlich ein Instagram-Video veröffentlicht] mit dem
Titel „Nazierbe: Kapital und Rassismus bei Menschen mit Nazihintergrund“.
Sie sprechen darin über Kontinuitäten von Kapital aus der NS-Zeit. In
sozialen Medien wurde das als „Enthüllung“ gefeiert. Verdienen die beiden
den Applaus?
Leon Kahane: Nein, das denke ich nicht. Wir können gleich beim Titel
anfangen. Der Nationalsozialismus weist sich explizit durch den
Vernichtungs- und Erlösungsantisemitismus aus. Das war ein Teil der
kulturellen Ideologie. Die Welt sollte von den Juden erlöst werden, und
das, was als jüdisch identifiziert wurde, haben die Nationalsozialisten als
das Böse und Verderbende gesehen. Wenn im Titel von Hilal und Varatharajah
Nationalsozialismus explizit genannt wird, dann darf man den Antisemitismus
nicht so unterschlagen.
Der wird aber ausgeklammert.
Genau. Und das ist ein Riesenproblem, weil Jüdinnen und Juden nun mal die
Hauptopfergruppe der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie waren.
Natürlich gab es im Kontext des Nationalsozialismus auch noch andere
Opfergruppen, die man nicht verschweigen darf: Roma, Sinti, Menschen mit
Behinderung, psychisch Kranke, Homosexuelle, politische Gegner und People
of Color.
In den sozialen Medien heißt es, die Künstler:innen sprächen als Erste
ein Thema an, das lange beschwiegen worden sei.
Die Rezeption des Videos ist extrem problematisch. Es wird ja geradezu so
getan, als wären sie darauf gekommen. Seit Ende des Krieges kämpfen Juden
für die Aufarbeitung. Die beiden haben sich eigentlich nur auf ein Thema
gesetzt, das sowieso gerade im öffentlich-rechtlichen Abendprogramm
besprochen wurde, in der Sendung von Jan Böhmermann zum Beispiel. Wenn
Juden dieses Thema aber ansprechen, wird gerne relativiert oder
geschwiegen.
Als sogenannte Nazierbinnen werden die Kunstsammlerin Julia Stoschek und
Emilia von Senger genannt. Letztere betreibt den queerfeminististischen
Buchladen „She said“ in Berlin. Sie wurde beschuldigt, ihren Laden aus dem
NS-Familienerbe finanziert zu haben. Von Senger bestreitet das. In der
Diskussion darüber wurde zwar nicht direkt zum Boykott des Buchladens
aufgerufen, aber er wird suggeriert. Sind solche Forderungen problematisch?
Ich möchte Emilia von Senger nicht in Schutz nehmen. Deutsche, die solche
Vergangenheiten haben, müssen sich damit auseinandersetzen. Sie müssen sich
die Kritik anhören, auch nicht zu knapp. Es wird aber gar nicht klar,
welche Forderungen Hilal und Varatharajah stellen. Dass auch
Mitarbeiterinnen und Autorinnen des Buchladens in Mitleidenschaft gezogen
werden, ist ein Resultat dieser Unklarheit und widerspricht dem, was
Jüdinnen und Juden wollen: Wiedergutmachung und Aufarbeitung. Man kann
nicht einfach irgendwelche politischen oder gar ideologischen Forderungen
an die Frage nach Wiedergutmachung knüpfen, die mit den Betroffenen nichts
zu tun haben.
Jüdinnen und Juden haben sich früh Fragen darüber stellen müssen: Wie gehen
wir eigentlich damit um, weiter in Deutschland zu leben? Wie gehen wir mit
Wiedergutmachung um? Als hätten wir Juden nicht Verwandte hier und in
Israel, die sich immer gesträubt haben, deutsche Produkte zu kaufen. Als
würden wir nicht wissen, wie die BRD und Israel in Luxemburg Verhandlungen
über Wiedergutmachung geführt haben. Auf Englisch, obwohl alle am Tisch
Deutsch gesprochen haben, aber die Israelis haben sich verweigert, die
Sprache der Täter zu sprechen. Verhandelt wurde trotzdem. Juden wissen das.
Man hätte sie also fragen können.
Sie selbst haben sich im vergangenen Jahr künstlerisch mit der
NS-Familiengeschichte von Julia Stoschek auseinandergesetzt. „Jerrycans to
can Jerry“ heißt Ihre Arbeit. Worum geht es da?
Ich wurde zu einer Ausstellung eingeladen, im Nachbargebäude der Julia
Stoschek Collection, ihrer privaten Kunstsammlung. Von ihrer
Familiengeschichte hatte ich gehört, also habe ich angefangen zu
recherchieren. Das Skandalöse ist: Man findet zur
Stoschek-Familiengeschichte viel, aber es wird im Kunstfeld nicht darüber
gesprochen. Meine Arbeit hat sich speziell auf ein Produkt bezogen: den
Einheitskanister der Wehrmacht. Den hat die Familie Stoschek von
Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs produzieren lassen. Und die
Familie hat letztlich auch einen Persilschein erhalten. In meiner Arbeit
erzählt dieser Kanister seine Geschichte wie ein Zeitzeuge.
Was ist das besondere an dem Kanister?
Der Kanister hat insofern eine interessante Geschichte, als dass er zu
Kriegsende auch von den Briten produziert wurde. Das heißt, in meiner
Videoinstallation sitzt ein britischer Einheitskanister, der sogenannte
Jerry Can, und erzählt, wie er die Seiten wechseln und dann den Todeskult
der Nationalsozialisten bekämpfen konnte, obwohl er ursprünglich von denen
mit Zwangsarbeiterhilfe produziert wurde. Das war für mich wichtig, weil es
in der Erzählung eine Chance gibt. Es gibt keine Determinierung der
Geschichte. Man muss das Naziding nicht bis zum Ende durchziehen.
Im Zentrum ihrer Arbeit standen auch die Zwangsarbeiter:innen.
Eigentlich war der Kern meiner Recherchen herauszufinden, wer diese Leute
waren. Es ist mir nicht gelungen, weil die Familie Stoschek ihre
Familienarchive nicht öffnet. Meine Forderung ist deshalb immer gewesen,
dass diese Familie die Archive öffnen muss. Um die Zwangsarbeiter zu
entschädigen und sie damit auch zu entlasten. Damit sie überhaupt als
Individuen wieder in die Welt getragen werden und nicht einfach nur als
Kollateralschaden einer Fahrzeugteilfirma, die sich an ihnen bereichert
hat. Aber niemals hätte ich als Ziel gesagt, Frau Stoschek soll ausgegrenzt
werden, wie das im Fall der Buchhändlerin von Senger passiert ist.
Als Reaktion auf das Video teilen Menschen unter dem Hashtag
#meinNaziHintergrund Geschichten ihrer NS-Verwandten. Befremdet Sie das?
Soll ich das etwa lesen? Das schreiben die doch für sich selbst. Der
Hashtag ist extrem täterfixiert. Mich erinnert das an diese ZDF-Serie
„Unsere Mütter, unsere Väter“. Das war auch so selbstmitleidig. Ich finde
nicht falsch, dass Leute sich selbst reflektieren. Hierin steckt aber schon
wieder so eine Selbstentlastung, eine Art Beichte mit Gruseleffekt. Aber es
kostet doch schon etwas mehr, als Familienanekdoten auf Twitter oder
Instagram zu posten. Das widerspricht auch einer jüdischen Denkweise.
Die da wäre?
Es gibt im Judentum keine Entlastung. Ich hätte, wie auch in meiner Arbeit,
die Frage nach dem Leben gestellt. Und zwar für eine Gesamtgesellschaft.
„Warum sind wir nochmal hier?“, fragt der Kanister. Also, wie machen wir
die Zukunft der Erinnerung in einer diversen Gesellschaft? Nicht mit den
Tätern im Fokus, sondern den Betroffenen. In diesem Fall die
Zwangsarbeiter.
„Menschen mit Nazihintergrund“, heißt es im Video, sollen sich mit ihrer
NS-Familiengeschichte beschäftigen. „Menschen ohne Nazihintergrund“ werden
von einer Auseinandersetzung befreit. Liegt die Verantwortung nicht bei
allen Menschen?
Ich finde, dass das eine Selbstentmündigung ist. Natürlich ist es eine
Frage, wie man damit umgeht, dass eine Demografie sich so ändert, dass mehr
junge Leute oder deren Vorfahren keine direkte Verbindung mit dem
Nationalsozialismus hatten. Wie spricht man die an? Beim „Nie wieder“ geht
es um Lehren aus der Geschichte. Darum, dass man lernt zu identifizieren,
was Antisemitismus und Rassismus ist. Von Geschichtsaufarbeitung
profitieren alle. Juden dürfen dabei nicht unter den Tisch fallen.
Wie schnell Antisemitismus unsichtbar gemacht wird, zeigt sich aktuell an
der [2][Debatte um das Konzept „Multidirektionale Erinnerung“] des
Historikers Michael Rothberg. Im Zentrum steht die Neuverhandlung der
Erinnerungskultur in Deutschland. Vertreter:innen der Postcolonial
Studies wollen eine direkte Linie vom [3][Massenmord an den Herero] zur
Shoa ziehen. Was denken Sie darüber?
Beides sind schreckliche Menschheitsverbrechen mit Ähnlichkeiten und
Überschneidungen, aber großen Unterschieden in der Ideologie. Um heute
erkennen zu können, was Antisemitismus ist, reicht es nicht zu wissen, was
Rassismus ist – und andersherum genauso. Im Kolonialismus wurden Menschen
versklavt, Länder und Rohstoffe angeeignet und ausgebeutet. Die
Menschenbilder, die sich dabei entwickelt haben und das legitimiert haben,
finden sich bis heute im Rassismus wieder.
Im Antisemitismus aber ging es um die schnellstmögliche Vernichtung der
Juden, die als Ursprung des Bösen in der Welt gesehen wurden, koste es, was
es wolle. Das war nichts, was aus ökonomischer Sicht vernünftig war. Juden
wurden aus einer antikapitalistischen völkischen Ideologie zum Feindbild
gemacht. Im Kolonialismus wurden Menschen hingegen aus kapitalistischem
Interesse versklavt. Die multidirektionale Erinnerung verbirgt meiner
Ansicht nach die Unterschiede in den Ideologien mehr, als sie deutlich zu
machen, um die Ähnlichkeiten in den Erfahrungen zu unterstreichen. Gerade
da darf es auch beim Erinnern keine Abkürzungen geben.
16 Mar 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Erica Zingher
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NS-Gedenken
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