# taz.de -- Social Media und NS-Familiengeschichte: Menschen mit Nazihintergrund | |
> Auf Instagram diskutiert das woke Dorf, wie Deutsche mit | |
> NS-Familiengeschichte umgehen. Im Fokus: eine Buchhändlerin. Das falsche | |
> Ziel. | |
Bild: Politikerin mit Nazihintergrund: Beatrix von Storch (AfD) im Bundestag | |
Mein Großvater väterlicherseits war bei der SS. Das habe ich erst nach dem | |
Tod meines eigenen Vaters erfahren. Als ich versucht habe, darüber in | |
meiner Familie zu recherchieren, sagte mir ein Verwandter: „Aber nicht, | |
dass du darüber einen Artikel schreibst.“ | |
Die Recherche dauert an. Sie ist zeitaufwendig. So weit, so ungewöhnlich | |
für Menschen mit „Nazihintergrund“. Diesen Begriff haben die Künstlerin | |
Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah, Essayist:in, kürzlich [1][in | |
einem auf Instagram erschienenen Video] vorgeschlagen, das viel geteilt und | |
diskutiert wird. Die Bezeichnung soll für Menschen dienen, deren Vorfahren | |
NS-Täter:innen waren. In dem Video eröffnen die beiden Kulturschaffenden | |
eine Diskussion darüber, inwiefern Menschen mit Nazihintergrund heute noch | |
über monetäres, soziales und kulturelles Kapital verfügen – und Einfluss | |
haben. | |
Varatharajah und Hilal nennen viele Beispiele. Zwei Personen aus dem | |
Berliner Kulturbereich stehen im Fokus: die Buchhändlerin Emilia von Senger | |
und die Galeristin Julia Stoschek. Beide sind Nachfahrinnen hochrangiger | |
Nazis. Julia Stoscheks Urgroßvater Max Brose war Unternehmer. Er wurde mit | |
der Herstellung von Rüstungen für die Wehrmacht reich und war | |
NSDAP-Mitglied. Julia Stoschek ist heute Milliardärin. Emilia von Sengers | |
Familie ist alter Adel. Ihr Urgroßvater war hochrangiger Wehrmachtsgeneral, | |
ihr Großvater war im Krieg in Russland und später Nato-Oberbefehlshaber. | |
Für Stoschek und von Senger gilt: Beide Familien blieben auch nach Ende der | |
NS-Zeit gut vernetzt. | |
Stoschek hat auf das Video bislang nicht reagiert. Von Senger [2][hat einen | |
Instagram-Post] veröffentlicht, in dem sie schreibt: „Einen | |
queerfeministischen Buchladen zu eröffnen und gleichzeitig nicht über seine | |
Nazi Familiengeschichte (sic) zu sprechen, geht nicht.“ Ihr Buchladen sei | |
„ein Gegenentwurf zu allen Werten, für die die drei Großväter standen“. | |
Weiter schreibt sie, dass das Geld für ihren Buchladen nicht von den zuvor | |
erwähnten Großeltern väterlicherseits stamme, sondern mütterlicherseits – | |
und damit aus dem Zeitungsgeschäft, genauer gesagt den Dortmunder Ruhr | |
Nachrichten. Dass von Senger ihren Nazihintergrund transparent macht, ist | |
gut und sollte in Deutschland zur Gewohnheit werden – auch ohne | |
öffentlichen Druck. Aber die Frage ist: Wie geht es nur weiter? | |
## Und Instagram streitet über einen Buchladen | |
Auf Instagram wird nicht direkt zum Boykott des Buchladens aufgerufen, aber | |
er wird suggeriert. Der Buchladen „[3][She Said]“ von von Senger hat einen | |
queerfeministischen Schwerpunkt, verkauft nur Bücher von Frauen und queeren | |
Autor:innen. In der NS-Zeit wurden Queers verfolgt. Die Bücher, die man | |
heute in Sengers Buchhandlung kaufen kann, wären damals verbrannt worden. | |
Es ist wichtig, die Geschichten von Menschen mit Nazihintergrund zu | |
analysieren und Kontinuitäten aufzuzeigen. Doch die Diskussion um die | |
familiären Verbindungen einzelner Menschen drohen rechte Gefahren, die bis | |
heute auf NS-Ideologien zurückgreifen, in den Hintergrund rücken zu lassen. | |
2012 [4][wurde Burak Bektaş in Berlin-Neukölln erschossen]. Sein Tod ist | |
bis heute nicht aufgeklärt. In [5][Neukölln gibt es außerdem eine | |
Anschlagsserie] auf migrantische Unternehmen, einen migrantischen linken | |
Politiker und linke Einrichtungen. Im Dezember wurde ein Schwarzer Mann tot | |
in einem Berliner Kanal gefunden. Antisemitismus ist in Deutschland Alltag. | |
Und Instagram streitet über einen Neuköllner Buchladen. | |
Dabei ist es ein Buchladen, der sich dezidiert gegen NS-Ideologie stellt, | |
während gleichzeitig Menschen wie Beatrix von Storch im Bundestag sitzen. | |
Ein Mensch mit Nazihintergrund, [6][ihr Großvater war NSDAP-Mitglied | |
Nikolaus von Oldenburg,] der den Vernichtungskrieg seiner Partei zur | |
persönlichen Bereicherung nutzen wollte. Ein Mensch, dessen Politik auf | |
Menschenverachtung fußt. | |
Warum investieren Leute auf Instagram ihre Energie darein, die nächste Sau | |
durchs woke Dorf zu jagen, weil man endlich einen Bruch in der Biografie | |
einer Einzelhändlerin gefunden hat? | |
Nazis müssen zur Verantwortung gezogen werden. Und ihre Nachfahren sind | |
aufgefordert, sich ihrem Familienerbe zu stellen. Doch die gefährlichsten | |
Nazinachfahren sitzen an anderer Stelle als in einem Buchladen. Sie sitzen | |
in Machtpositionen in deutschen Institutionen. Beide, sowohl von Storch als | |
auch von Senger, haben Profit gezogen aus ihrer Familiengeschichte. Nur tut | |
die eine viel dafür, mit der Menschenverachtung ihrer Vorfahren zu brechen, | |
die andere nicht. | |
18 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.instagram.com/tv/CLU2dZiqvMG/?utm_source=ig_web_copy_link | |
[2] https://www.instagram.com/p/CLZBUyWnHM1/) | |
[3] /Frauenbuchhandlung-in-Berlin/!5666653 | |
[4] http://xn--:%20Eine%20Skulptur%20fr%20Burak%20Bekta&-4id#x15f; | |
[5] http://xn--:%20Rechter%20Tatort%20Neuklln-5oc | |
[6] /Das-Haus-Oldenburg-und-die-Nazis/!5359430 | |
## AUTOREN | |
Caren Miesenberger | |
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