# taz.de -- Neuer Roman von Katerina Poladjan: Russische Erfahrungen | |
> Katerina Poladjan erzählt tieftraurig über den Tag, als Gorbatschow | |
> sowjetischer Staatschef wurde. Ihr Roman lässt sich als Kommentar zum | |
> Krieg lesen. | |
Bild: Empfangsbereite literarische Antennen: Autorin Katerina Poladjan | |
Katerina Poladjans neuer Roman „Zukunftsmusik“, es ist der fünfte der 1971 | |
in Moskau geborenen und seit 1979 in Deutschland lebenden Autorin, spielt, | |
so beginnt er, „Tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von | |
Moskau“. Gleich wird dieses Buch, mit aller gebotenen Vorsicht, in diesem | |
Text sogar als tieftrauriger literarischer Kommentar zum Krieg gegen die | |
Ukraine verstanden werden, denn auch wenn es natürlich vorm Kriegsausbruch | |
längst fertig geschrieben worden ist, lässt sich in dieser Beziehung doch | |
manches in es hinein- oder auch aus ihm herauslesen. Doch bevor man das | |
tut, sollte man erst einmal von der Leichtigkeit erzählen, die dieser Roman | |
eben auch hat. | |
So durchstreift die Szenen etwa ein Kater, er hört auf den Namen Gagarin. | |
Ohne großes Aufheben ruft allein schon dieser Name einen ganzen Horizont | |
auf, Bilder von sowjetischen Glanzzeiten, Kosmonaut, [1][erster Mensch im | |
Weltraum.] Jedoch: „Im vergangenen Jahr war das Fell des alten Katers | |
stumpf geworden“, und es gibt die Befürchtung, das Tier werde bald sterben. | |
Aber, so der knappe Kommentar, der Kater „dachte nicht daran“. | |
Diese Episode, nur ein Beispiel von vielen, lässt sich symbolisch | |
verstehen: Glanzzeiten sind stumpf geworden, aber noch im Gedächtnis, wie | |
alles Sowjetische im Niedergang der achtziger Jahre halt. Sie lässt sich | |
aber auch ganz realistisch lesen: Ein Kater ist ein Kater. Eine Vielzahl | |
solcher sprechenden Miniaturen finden sich in diesem Buch. Katarina | |
Poladjan trumpft mit solchen Einfällen keineswegs auf, aber manchmal stellt | |
man sich beim Lesen vor seinem inneren Auge vor, wie sie als Autorin selbst | |
über solche Dinge lächelt. | |
Außerdem ist „Zukunftsmusik“ ein Buch über Gerüche in der Küche, wenn in | |
einer Wohnung dichtgedrängt verschiedene Familien einquartiert worden sind | |
und zusammenwohnen müssen, [2][als sogenannte „Kommunalka“.] Es ist, wie | |
schon der Titel nahelegt, ein Roman über Musik. Chopins Trauermarsch, | |
zweite Klaviersonate, dritter Satz, klingt zu Beginn aus dem Radio, was den | |
Bewohnern der Kommunalka signalisiert, dass ein hohes Tier des Politbüros | |
gestorben sein muss. Und gegen Ende soll es ein Konzert in der Küche geben, | |
ein „Kvartirnik“, mit punkiger Undergroundmusik. David Bowie taucht auf | |
einer Kassette auf. | |
Es ist auch ein literarisch verspielter Roman, in dem es in einem Zimmer | |
plötzlich ein Loch in der Decke gibt, durch das man bis zum Himmel sehen | |
kann und durch das einer der Bewohner der Kommunalka entflohen ist, | |
mithilfe eines selbstgebastelten Sprungbretts. Und es ist ein Roman, der | |
mit wenigen Strichen ein schönes Gefühl dafür vermitteln kann, wie es ist, | |
mit einem plappernden dreijährigen Kind im Park spazieren zu gehen und | |
dabei dessen Hand zu halten und nicht zu wissen, ob man als Erwachsener in | |
so einer Situation die eigene Hand lieber locker lässt oder doch die Hand | |
des Kindes drückt. | |
## Liebe zur russischen Literatur | |
Und schließlich sind da diese speziellen Dialoge. Sie haben immer wieder | |
etwas von einer so ausgestellten Höflichkeit und kunstvollen | |
Wohlformuliertheit, dass man nicht recht weiß, ob damit auf die großen | |
russischen Romane des 19. Jahrhunderts angespielt wird oder ob sich | |
Vertreter der sowjetischen Intelligenzia untereinander tatsächlich so | |
leicht gestelzt unterhalten haben. | |
All diese Dinge werden von Katerina Poladjan nicht breit ausgemalt, sondern | |
eher hingetuscht und erzählerisch verknüpft, mit einem großen Willen zu | |
erzählerischen Freiheiten und mit ebenso viel Liebe zur russischen | |
Literatur in ihrer ganzen Bandbreite vom Realismus bis zur Groteske im | |
Hintergrund. Anspielungen auf Tolstoi, Tschechow, Turgenjew finden sich, | |
Spezialisten finden bestimmt viele mehr. | |
Dieses Schwebende möchte man beim Lesen unbedingt retten. Zum einen macht | |
es, dass dieses Buch tatsächlich wie ein historischer Roman funktioniert, | |
aber eben nicht als einer, der die historische Realität detailreich | |
nachzuzeichnen versucht, sondern als Sprachkunstwerk, das ein literarisches | |
Eigenrecht beansprucht. Und zum anderen zeigt sich darin eine Offenheit – | |
empfangsbereite literarische Antennen – für die Erfahrungen russischer | |
Menschen kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. | |
## An einer Zeitenwende | |
Im Gegensatz zur unkonkreten Angabe, wo der Roman spielt, ist die Angabe, | |
wann er spielt, sehr eindeutig: am 11. März 1985. Das wird einem so direkt | |
vermittelt, dass man gleich googelt und erfährt: Das war der Tag, an dem, | |
nach dem Tod des sowjetischen Staats- und Parteichefs Konstantin | |
Tschernenko (deshalb der Trauermarsch im Radio), ein gewisser Michail | |
Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden ist. Der Roman | |
spielt also, ohne dass seine Figuren das wüssten, an einer Zeitenwende, am | |
Beginn des endgültigen Endes des Sowjetunion. | |
Das Gefühl von Stagnation und Endzeit fängt Katerina Poladjan geschickt | |
ein. Die großen Erzählungen von Aufbau, Zukunft und Fortschritt laufen zwar | |
im Hintergrund irgendwie weiter – eine Glühbirnenfabrik und eine | |
Forschungsanstalt, in der die Auswirkungen hoher Gravitationskräfte auf den | |
menschlichen Körper untersucht werden, spielen eine Rolle –, aber niemand | |
glaubt mehr daran. Tatsächlich interessieren tut sich der Roman sowieso | |
eher für die kleinen Erzählungen: die Beziehungen der Bewohner und | |
Bewohnerinnen der Kommunalka untereinander, ihren Alltag, ihre Gedanken und | |
Hoffnungen. | |
Damit wären wir jetzt auf der Ebene, an dem man den Roman eben auch als | |
aktuellen Kommentar lesen kann. Er zeigt sehr eindringlich, wie sehr diese | |
Menschen einen Aufbruch, für den der Name Gorbatschow ein paar Jahre lang | |
stand, nötig gehabt hätten. Und zugleich ist in dem Roman eine Trauer | |
darüber da, dass dieser gesellschaftliche Aufbruch tatsächlich nicht | |
stattgefunden hat. | |
## Klopfende Herzen | |
Die Figuren des Romans wirken allesamt lost. Sie schlagen sich durch, sie | |
haben auch ihre freien Momente, sie wissen nicht, ob sie ein „Scheißleben“ | |
haben oder ob das Leben nicht doch auch schön ist, man kann sich auch gut | |
vorstellen, mit welch klopfenden Herzen sie auf die Nachrichten von | |
Glasnost und Perestroika reagieren werden. Und wenn man das Buch ausgelesen | |
hat, schwingt ein Mitleiden mit ihnen noch nach, daran, dass sich die | |
offene Gesellschaft nach dem Ende der Sowjetunion nicht realisiert hat. | |
Ohne dass der Name Putin fallen würde, ist klar: Die russische Gegenwart | |
ist auch ein Verrat an der Hoffnungsbedürftigkeit dieser Figuren. | |
Im Zentrum stehen vier weibliche Figuren, die sich in der Kommunalka ein | |
Zimmer teilen müssen: Kleinkind, Mutter, Großmutter, Urgroßmutter, die | |
jeweils zugehörigen Männer waren entweder nie präsent oder sind inzwischen | |
nicht mehr Teil des Bildes. An der dreijährigen Kroschka zeigt Poladjan die | |
Mühen des Alltags auf: In der Kita müssen die Kinder zusammen aufs | |
Töpfchen, die Erzieherin muss mit Strumpfhosen bestochen werden, damit sie | |
ein Auge zudrückt, wenn die berufstätige Mutter oder die Großmutter das | |
Kind nicht ganz pünktlich abgeben. | |
## Die kaputte Gitarre | |
Und die junge Mutter Janka steht für einen möglichen Aufbruch. Sie hört | |
Punk, „sie wollte brennend lieben“, heißt es am Anfang, und sie ist auch | |
diejenige, die das Konzert in der Küche geben will. Doch, wie es eben ist: | |
Ein Freund von ihr ist in ihre Gitarre getreten, er hat versprochen, ihr | |
eine neue Gitarre zu besorgen, hält das Versprechen aber nicht. | |
Genauso wie die Episoden mit Gagarin, der Katze, kann man das ganz | |
realistisch lesen – eine Gitarre ist eine Gitarre – oder aber symbolisch | |
überhöht. Was ist trauriger als ein Konzert, das an einem nicht gehaltenen | |
Versprechen scheitert? In solchen Details spiegelt sich die Trauer über | |
einen Aufbruch, den es nicht gegeben haben wird. | |
8 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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