# taz.de -- Bachmann-Preis 2015, 1. Tag: Missbrauch eines One-Night-Stands | |
> Nabelschau, große Gefühle und ein bisschen Sex: Am Donnerstag begann das | |
> Wettlesen um den Bachmann-Preis. Eine Favoritin gibt es schon. | |
Bild: Nora Gomringer in Klagenfurt. | |
Klagenfurt taz | Ein bisschen schlicht geht es los, dieses Jahr in | |
Klagenfurt, mit einer Szene wie einem Stillleben: Frau in schwarzem Kleid | |
sitzt vor weißem Grund und liest. Wobei schlicht – in Klagenfurt – bestimmt | |
nicht zum Konzept gehört. Der Rest hingegen schon: „Bühnenbild“ nennen sie | |
hier in Österreich die polierten Plakatwände, die von der ORF-Studiodecke | |
hängen, leere Blätter sinngemäß, vor denen bis Sonntag der Wettbewerb um | |
den Bachmann-Preis ausgetragen wird. Vier Autoren und zehn Autorinnen lesen | |
aus ihren gerade entstehenden Romanen oder eigens für diese „39. Tage der | |
deutschsprachigen Literatur“ gefertigten Texten. Zehn Autorinnen, in 39 | |
Malen ist das einmalig. | |
Den Anfang in schwarz also macht Katerina Poladjan, eine gebürtige | |
Moskauerin, die seit 1979 in Deutschland lebt und gestern noch gefragt | |
hatte, ob nicht jemand mit ihr tauschen will – als bei der Eröffnungsfeier | |
ausgelost wurde, dass sie sich als erste der Jury stellen muss. Ihre | |
Geschichte ist die von Ann und Luc, zwei sich Fremden, die im Bett landen. | |
Es ist aber auch die Geschichte von Ann und Ed, ihrem verstorbenen Mann, an | |
den Ann denkt, während sie sich mit Luc die Matratze teilt. Und es ist die | |
Geschichte von Theo, Anns Sohn, der leidet, wie alle Beteiligten innerhalb | |
dieser komplexen Konstellation leiden: Einer vermisst seinen Vater. Eine | |
vermisst ihren Mann. Einer vermisst ein anderes Leben. Einer ist tot. Okay, | |
der hat vermutlich ausgelitten. | |
Und so fragt Hildegard Elisabeth Keller, Literaturwissenschaftlerin und | |
schon lange Jurorin beim Bachmann-Preis, auch bald, um wen es denn, bei | |
derlei vielen Perspektivwechseln, vordergründig geht. „Welche Figur steht | |
eigentlich im Zentrum?“ Hubert Winkels, zum ersten Mal Juryvorsitzender in | |
Klagenfurt, erkennt trotz ruhiger Erzählweise, die einen „sanft mitträgt“, | |
in Poladjans Textaufbau den „Missbrauch eines One-Night-Stands“. Unendlich | |
viel hänge an dem: Der Tod ihres Mannes. Die Verzweiflung des Sohnes. | |
Ann-Ed-Ann-Luc-Theo-Ann. „Das ist zu viel für ein bisschen Sex.“ | |
Nee, wird Juri Steiner später finden – bis dahin mäandern die Urteile von | |
„a bisserl zu brav“ über „in seiner Machart perfekt“, zu Beginn hätte… | |
sich eher „einen grottenschlechten Text gewünscht“; hin zu „unglaublich | |
stimmungsstark, wie ein Trompetenspiel von Miles Davis“. Steiner nun ist | |
seit 2013 Juror und beim Thema Sex superwach – das Problem, sagt er, sei | |
ein ganz anderes als das, worüber man rede: „Nämlich, dass wir zu | |
orgiastisch denken.“ An keiner Stelle sei der Geschichte zu entnehmen, dass | |
es – ausgezogene Stiefel hin oder her – tatsächlich einen One-Night-Stand | |
gegeben hat. Einzig wir, die Leser, nähmen das an, „wenn wir nach diesem | |
Orgasmus hecheln“. Lacher im Publikum, Aha-Effekt bei Winkels: Ist ja wie | |
bei den Clintons hier! Zumindest wird dieselbe Frage gestellt. „Wann fängt | |
Sex an?“ | |
## Stickig und heiß | |
Zweite Leserin ist dann direkt eine, die umhaut. Mit Favoritenpotenzial und | |
einer Wucht trägt sie ihren Text vor, dass es Bravo-Rufe gibt und der | |
Applaus euphorischer wird als man es für möglich halten würde in diesem | |
stickigen Raum, die Strahlerhitze prallt von oben, die Sommerhitze von | |
außen. „Recherche“ heißen Nora Gomringers 16 Seiten, denen die Erfahrung | |
der Autorin – preisgekrönt, Mitglied im PEN, Künstlerhausleitung, | |
Poetikdozenturen –, und deren Medienaffinität anzumerken sind. 16 Seiten, | |
auf denen Nora Gomringer ein Rollenspiel aufführt und sich als die über | |
Kärnten hinaus hinlänglich bekannte Schriftstellerin Nora Bossong ausgibt, | |
die in einem Treppenhaus für ihren neuen Roman recherchiert. | |
Überhaupt wird in diesem zweiten, vorgetragenen Werk alles zum Spiel, | |
„Literatur in der Literatur in der Literatur“, heißt es in der Jury, | |
mitsamt Bezügen zur Branche und zum Bachmann-Preis selbst. Das ist Dada, | |
das ist kunstvoll und humorvoll, das ist Nachdenken über die Tätigkeit, die | |
die Touristen dieser Stadt momentan dauerbeschäftigt: „Man stochert also | |
nach“, steht in Gomringers Story. „Schreiben ist dann wie das Ablösen des | |
Teigs vom Stäbchen, mit dem man gebohrt hat. Vieles am Schreiben ist | |
widerlich.“ | |
Dabei ist die Story doch einfach – und einfach traurig: Ein Junge, | |
dreizehnjährig, stürzt sich vom Balkon. Rechercheschritt für | |
Rechercheschritt wird jeder Nachbar zu dem Unfall – oder Vorfall? – | |
befragt. Und jeder Nachbar trägt Mitschuld. Jeder weiß was. Jeder sagt was. | |
Mancher nicht genug. Dazwischen Nora Bossong, die in Wahrheit Nora | |
Gomringer ist, über das Leben und ihren Job sinnierend – und danach | |
Klagenfurts Jury, die sich überschlägt: „Eine meisterlich gemachte | |
Stimmenvielfalt.“ „Raffiniert abgründig.“ „Dass dieser Text keine Rett… | |
braucht, ist klar.“ | |
Winkels sagt: „Wir haben im Grunde gerade ein Hörspiel gehört“, worauf er… | |
recht gute Laune aufkommt und wie beflügelt von so viel Experimentierwillen | |
darüber diskutiert wird, seit wann diese Veranstaltung nochmal der Nabel | |
der Welt ist. Kann es sein, dass man da gerade „einem total gewieften, | |
medial inszenierten Text auf den Leim“ gegangen ist?, fragt Klaus | |
Kastberger. Österreicher. Professor. Leiter des Literaturhauses Graz. | |
## Funktioniert der einsam auch? | |
„Den Text gibt’s überhaupt nur, weil es uns gibt!“ Und Meike Feßmann, | |
Kritikerin aus Berlin, sagt – klar, das sei längst ein „kategoriales | |
Problem zwischen Performance und stiller Lektüre“: Der Text war für den | |
Vortrag gemacht. Für die Stimme designt, gewissermaßen. Aber fürs Lesen, zu | |
Hause? Funktioniert der einsam auch? „Raumschiff Klagenfurt“, lässt Winkels | |
noch fallen – und Kastberger freut sich: Eh unnötige Nörgelei, „man | |
beschäftigt sich sowieso am liebsten mit sich selbst.“ | |
So viel Abkehr vom Schlichten tröstet dann über die Stunden hinweg, in | |
denen die eine der nächsten beiden Leistungen als mittelprächtig abgetan | |
und die andere schier hingerichtet wird. Saskia Hennig von Lange tendiert, | |
so Winkels, mit einer unaufhörlich um sich kreisenden Figur, die einen | |
Lastwagen fährt – „ich fahre“, „ich will weg“, „ich bin müde“, … | |
kalt“ – zur „Blutleere und zur Langeweile“. Während der erste Mann, der | |
liest, Sven Recker, seine Figuren – Ärztin und Patienten – scheinbar direkt | |
„aus einem Klischeekaufhaus“ hat. Das jedenfalls meint Stefan Gmünder, | |
Literaturredakteur beim „Standard“, und die anderen meinen auch viel: | |
„Trash“. „Schreibweise der Neunziger“. „Fast journalistisch, es wird … | |
Vorgefundenes reproduziert“. Ohje. | |
Einigkeit dann wieder bei der Letzten für heute, der jungen Grazerin | |
Valerie Fritsch. Großes Kino. Große Gefühle! Gefühle, mit Eiseskälte | |
geschildert. Aus der Sicht eines Sohnes nämlich, der seinen Vater | |
beobachtet – auf dem Stuhl, vor dem Fernseher, am liebsten aber im Schlaf. | |
Dann nämlich vergisst der Vater jenen Schmerz, den er nicht überwinden | |
kann: Dass er ein Bein verloren hat. | |
“Ich spüre dieses Leid“, sagt da einer aus der Jury. „Beeindruckend“, … | |
zwei. Nur Hubert Winkels spürt was anderes: Dieser Vater – musste der | |
früher auch noch Tänzer gewesen sein? „Zu dick aufgetragen“, schließt | |
Winkels. Und damit „ein guter Text. Aber das ist es dann auch.“ | |
Genau: Aus, fertig. Next. Morgen kommt schließlich Ronja von Rönne dran. | |
Und auf die warten ja alle. | |
2 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Seubert | |
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