| # taz.de -- Autor*in zur Stadtbild-Debatte: Der böse Traum vom gereinigten Deu… | |
| > Woran will Bundeskanzler Merz eigentlich das irregulär Migrantische | |
| > erkennen? Seine Äußerungen zum deutschen Stadtbild sind | |
| > menschenverachtend. | |
| Bild: Für ein sauberes Deutschland: Friedrich Merz auf dem Bundesparteitag der… | |
| In einer der Nächte nach Friedrich Merz' Auftritt in Brandenburg, bei dem | |
| er seine Sorge um das deutsche „Stadtbild“ mit der Öffentlichkeit teilte, | |
| hatte ich einen Traum. Uniformierte Frauen standen vor meiner Tür und | |
| erklärten, ich dürfe mir aussuchen, in welches Land ich abgeschoben werde. | |
| Dass es passieren würde, war nicht mehr Verhandlungssache, allerdings wurde | |
| mir die Gnade zuteil, selbst zu bestimmen, wohin. So weit, so unsubtil, da | |
| braucht es keine Traumdeutung. | |
| [1][Merz' Ansage] verfolgt mich immer noch, auch tagsüber: „Aber wir haben | |
| natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der | |
| Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch | |
| Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.“ | |
| Nun weiß ich natürlich, dass der Bundeskanzler nicht Leute wie mich meint. | |
| Ich bin aschkenasisch-jüdisch, schreibe Romane und Theaterstücke, führe ein | |
| bürgerliches Leben, manchmal trage ich sogar Anzüge. Ich werde weiß gelesen | |
| und als Frau. Wäre ich nicht non-binär und lesbisch, passte ich vermutlich | |
| optimal in Friedrichs Merz´ Vorstellung von jenen, die bleiben dürfen, | |
| während andere aus dem „Stadtbild“ und überhaupt aus Deutschland entfernt | |
| gehören. | |
| Die Öffentlichkeit durfte unlängst verfolgen, wie Friedrich Merz anlässlich | |
| der Wiedereröffnung der Münchener Synagoge mit einer Kippa auf dem Kopf | |
| [2][Tränen vergoss.] Er führte beispielhaft vor, wie ein deutscher | |
| Nazinachfahre das Leid millionenfach ermordeter Jüdinnen und Juden beweint. | |
| Ich habe keinen Anlass, ihm seine Erschütterung nicht zu glauben. | |
| ## Xenophobe Gewalt steigt | |
| Wenn Merz nun also andeutet, dass er Straßen und Plätze [3][säubern lassen | |
| wird,] dann meint er nicht jüdisches Leben, natürlich nicht. Er meint die | |
| „anderen“, die aus dem Osten, aus dem Nahen Osten, die Muslime, er meint | |
| alle Nicht-Regulierten. Woran erkennt man eigentlich das irregulär | |
| Migrantische, das Migrantische überhaupt? An den schwarzen Haaren, der | |
| schwarzen Haut, den Augen, dem Schnitt des Gesichtes, dem Kopftuch, der | |
| Sprache, die nicht westeuropäisch klingt? Sitzen die Irregulären in | |
| Shisha-Bars? | |
| Gibt man in diesen Tagen der Versuchung nach, zynisch zu werden, muss man | |
| feststellen: Die Verwirklichung des Kanzler-Traums von einem gereinigten | |
| Deutschland macht große Fortschritte. Nicht nur die rechtswidrige | |
| Asylpolitik hilft, längst kümmern sich schon gewaltbereite Rechtsradikale | |
| darum. | |
| In alten wie neuen Bundesländern steigt die xenophobe Gewalt. In Städten | |
| wie Magdeburg gehen migrantische Menschen oder diejenigen, die annehmen | |
| müssen, von anderen dafür gehalten zu werden (Hautfarbe, Haarfarbe, | |
| Augenfarbe), mittlerweile mit einem Alarmknopf in der Tasche auf die | |
| Straße. Sprachkurse müssen abgesagt werden, weil sich die Teilnehmenden | |
| nicht vor die Tür trauen. Begleitdienste für Frauen werden organisiert. | |
| In Sachsen-Anhalt liegt die AfD aktuell bei 40 Prozent, und wenn im | |
| September nächsten Jahres gewählt wird, ist sie auf den von der CDU | |
| bestrittenen Willen zur Zusammenarbeit – der auf kommunaler Ebene bereits | |
| praktiziert wird – womöglich schon nicht mehr angewiesen. | |
| ## Das Erbe ernst nehmen | |
| Um die Menschenrechtsanwältin Christina Clemm zu zitieren: „Wenn ein | |
| Bundeskanzler eine solche Aussage tätigt, dann muss es doch niemanden | |
| verwundern, dass selbstbewusste Neonazis es von sich aus vollstrecken und | |
| alle jagen und verprügeln, die nicht ins völkische Menschenbild passen.“ | |
| Ja, ich weiß, Friedrich Merz meint nicht mich, aber ich hatte diesen Traum, | |
| weil ich dennoch mitgemeint bin. Ich bin migrantisch. Deutsch ist nicht | |
| meine Muttersprache. Ich sitze gerne in Shisha-Bars. Meine Urgroßeltern | |
| waren Ärzt*innen bei der Roten Armee, sie haben die Scharfschützen von | |
| Stalingrad zusammengeflickt. Sie waren erklärte Antifaschist*innen. Und | |
| dieses Erbe nehme ich sehr ernst. | |
| So wie ich mir wünschen würde, dass ein Bundeskanzler, dessen Großvater | |
| sich früh um die Mitgliedschaft in der NSDAP bemühte, sein Erbe ernstnimmt | |
| und nicht vom Reinigungsbedarf deutscher Straßen und Plätze infolge | |
| unregulierter Migration fantasiert – ausgerechnet bei einem Auftritt in | |
| Brandenburg, wo bei der letzten Bundestagswahl 32,5 Prozent der | |
| Teilnehmenden die AfD wählten. | |
| Aber vielleicht ist die Stadtbild-Ansage ja gerade Merz' Art, mit seinem | |
| Erbe umzugehen. Einem Erbe, dem sich in Deutschland immer schon viele | |
| verpflichtet fühlten. 1995 kam ich hierher und wurde von Neonazis durch die | |
| Straßen einer westdeutschen Kleinstadt gejagt. Meine Familie und ich | |
| wohnten damals im Asylheim. | |
| Drei Jahre zuvor, 1992, wurde die Zentrale Aufnahmestelle für | |
| Asylbewerber*innen in Rostock-Lichtenhagen angegriffen, das | |
| dazugehörige Wohnheim in Brand gesteckt. Im selben Jahr ging in Mölln das | |
| Haus der Familie Arslan in Flammen auf. 1993 folgte der Brandanschlag in | |
| Solingen usw. Die Liste der Versuche, Deutschland rein aussehen zu lassen, | |
| ist unerträglich lang. | |
| ## Ausdruck eines völkischen Verständnisses | |
| Im aktuellen politischen Klima ist Merz' Aussage keine unglückliche | |
| Wortwahl, sondern eine Ansage. Es ist die Bekräftigung des AfD-Versprechens | |
| der sogenannten Remigration. Es ist der Ausdruck eines völkischen | |
| Verständnisses von Deutschland. Es ist menschenverachtend. Ein „Nie | |
| wieder!“ wird zur leeren Phrase, wenn nicht zugleich die Ursache der | |
| mörderischen Gewalt und ihre aktuellen Ausformungen in Politik, bei den | |
| Behörden und in Reden wie der von Friedrich Merz untersucht werden. | |
| Ich empfinde es als beschämend, dass der vermeintliche Schutz jüdischen | |
| Lebens als perfides Argument für die kontinuierliche Aushöhlung des | |
| Asylrechts missbraucht wird. Welche Art der Lehre aus der Vergangenheit | |
| soll das sein? | |
| Für Jüdinnen und Juden kann es aus der Geschichte nur eine Lehre geben: Die | |
| Einteilung in jene, die aus dem Stadtbild entfernt gehören, und in jene, | |
| die in das Stadtbild passen und deshalb verschont bleiben, ist nicht | |
| hinnehmbar. Verschont zu welchem Preis? Was wird von einem jüdischen | |
| Menschen gefordert, um Teil der deutschen Gesellschaft zu sein? Ganz | |
| offensichtlich die Komplizenschaft für eine Politik, die unser Überleben | |
| damals unmöglich gemacht hätte. | |
| Würde die deutsche Gesellschaft ihr Erbe wirklich ernst nehmen, gäbe es die | |
| AfD nicht und wir müssten nicht über das Verbot einer als gesichert | |
| rechtsextremistischen Partei debattieren. Wovon auch immer Friedrich Merz | |
| so tief ergriffen war, als er in der Münchner Synagoge Tränen über das Leid | |
| jüdischer Menschen in Deutschland vergoss, eines muss klar sein: Wenn er | |
| die Straßen und Plätze dieses Landes von migrantischem Leben reinigen will, | |
| dann reinigt er meines mit. | |
| 19 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sasha Marianna Salzmann | |
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