| # taz.de -- Wo die Bundeskanzler wohnen: Hier ist nicht Wünsch-dir-was | |
| > Wie sieht es eigentlich in Gmund aus, dem Nebenwohnsitz von Friedrich | |
| > Merz am Tegernsee? Ein Ortsbesuch. | |
| Bild: „Hier geht es eigentlich ganz gut“: Ein Porsche-Cabrio düst durch Gm… | |
| Die drei jungen Frauen schauen auf, als würden sie etwas Verbotenes aus | |
| ihrem Auto holen und nicht Eimer, Glasreiniger und Lappen. „Keine Zeit, | |
| Arbeit“ – und schon sind sie verschwunden in dem Haus, das sie jetzt putzen | |
| werden, direkt am Ufer des Tegernsees in Oberbayern. Blickt man von hier | |
| aufs Wasser, schmiegt sich rechts die Villa von Uli Hoeneß an den | |
| herbstbelaubten Hang. Weiter hinten steht Manuel Neuers „Glaspalast“, und | |
| am linken Ufer, über dem Dorf Sankt Quirin, das zur Gemeinde Gmund gehört: | |
| der Nebenwohnsitz von Friedrich Merz. | |
| Es ist 10 Uhr. Der See ist heute klar und ruhig, doch der Bundeskanzler | |
| schlägt Wellen. Von einem Problem im deutschen Stadtbild sprach er am 14. | |
| Oktober. Sein bayerischer Bundesinnenminister sei deshalb dabei, „jetzt in | |
| sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen“. | |
| Die AfD raunt seit Jahren von abzuschiebenden „Ausländern im Stadtbild“. | |
| CDU-Kanzlerin Angela Merkel konterte das 2017 einmal so: Sie könne auf der | |
| Straße Menschen mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft nicht | |
| unterscheiden. Merz aber blieb bei seiner Aussage, trotz massiver Kritik. | |
| Wer die eigenen Töchter frage, sagte er am Montag schmunzelnd, werde | |
| vermutlich „eine ziemlich klare und deutliche Antwort“ darauf bekommen, was | |
| er gemeint haben könnte. Eine Andeutung, ein Signal. | |
| ## Schon Ludwig Erhard residierte hier | |
| Wie damals, als Merz sagte, Deutschland, das sei nicht Berlin-Kreuzberg, | |
| sondern Gillamoos, ein bayerischer Traditionsjahrmarkt. In Berlin, Kiel, | |
| Halle und Frankfurt demonstrieren Frauen jetzt unter dem Slogan „Wir sind | |
| die Töchter“, sie wollen nicht „Feigenblatt für rechte Narrative“ sein.… | |
| hier, in der zweiten Heimat des Kanzlers, in seinem, im richtigen | |
| Deutschland? | |
| Gmund, also. Das sind 45 Gemeindeteile, 5.813 Seelen und mindestens so | |
| viele Parkplätze. 950 Jahre feiert Gmund gerade. In Sankt Ägidius, der | |
| katholischen Kirche, in der auch Merz ab und an zur Messe geht, haben | |
| Kinder ihre Jubiläumswünsche auf eine Pappe gemalt: „Frieden“, | |
| „Gemeinschaft“, „mehr Dönerläden“. Nebenan, über dem Portal des | |
| historischen Rathauses, verkünden Großbuchstaben: „Oberstes Gesetz ist das | |
| allgemeine Wohl.“ | |
| Das allgemeine Wohl – für Franz Kasparek hat es vor allem mit Gerechtigkeit | |
| zu tun. Kasparek, Vollbart, Strickjacke, Installateur im Ruhestand, sitzt | |
| mit seiner Schäferhündin Finni, einem Kaffee und der Tegernseer Zeitung in | |
| der Sonne vor seinem Bauernhaus. Er sei ein CSUler, das wüssten alle hier, | |
| sagt Kasparek. Aber einer mit Solarstrom auf dem Dach. Er zwinkert. | |
| Manche im Land könnten unbesteuert Milliarden vererben, sagt Kasparek. Und | |
| hier, wo die zugezogenen Reichen die Preise in die Höhe getrieben haben, | |
| „kann man nicht einmal mehr eine Wohnung an die Kinder vererben“. Er zeigt | |
| auf sein hübsch renoviertes Haus, seit Generationen in der Familie, sei es | |
| mittlerweile drei oder vier Millionen wert. „Wer soll dafür die | |
| Erbschaftsteuer bezahlen können?“ Dass Kinder hier ihre Elternhäuser | |
| verkaufen müssten, das sei ungerecht. Kasparek zwinkert nicht mehr. | |
| ## Drogen gabs hier schon immer | |
| Und was ist mit dem Stadtbild? „Ich habe 58 Jahre lang gearbeitet“, sagt | |
| er, auch in München, er kenne das Stadtbild dort. Die Goethestraße, die | |
| Schillerstraße, den Bahnhof. „Wenn einer nicht arbeitet und den Sozialstaat | |
| schwächt, das ist ungerecht. Egal aus welchem Land er kommt.“ Wenn aber ein | |
| Ausländer nicht arbeitet, habe er keine Berechtigung zu bleiben. Da müssten | |
| Merz und Söder etwas tun. Aber wirklich. Kasparek überlegt kurz. „Wenn es | |
| unverschuldet ist, dann ist das etwas anderes.“ Hündin Finni gähnt. | |
| Der erste Kanzler mit Residenz in Gmund war Ludwig Erhard,Vater des | |
| Wirtschaftswunders', parteilos, spätere CDU-Mitgliedschaft historisch | |
| umstritten. 1977 begrub man ihn auf dem Bergfriedhof. Auf einem Schild am | |
| menschenleeren Ludwig-Erhard-Platz steht: „Störende Musik verboten! Betteln | |
| verboten! Fußballspielen verboten! Hier kein Hundeklo!“ | |
| Sabine Seifert hat zum allgemeinen Wohl ein Plastiktütchen in der | |
| Manteltasche, für die Häufchen ihrer Mischlingsdame Zelda. „Der Herr Merz | |
| hat insofern recht“, sagt Seifert, „als unser Stadtbild im ein oder anderen | |
| Fall vielleicht ein bisschen gefährlich erscheinen mag. Aber das hat nichts | |
| mit Migration zu tun.“ | |
| Seifert, 63, lebt am nahen Ammersee, sie ist in ihrem Heimatort, um sich am | |
| Nachmittag um das Grab ihrer Eltern zu kümmern. „Selbst hier gab’s zu | |
| meiner Zeit schon Drogen an der Schule, da brauche ich nicht warten, bis | |
| ein Migrant kommt.“ Und überhaupt: „Ich hatte meine Eltern hier in dem | |
| Krankenhaus. Wenn man da die Migranten alle rausnimmt, dann wird’s da | |
| zappenduster! Warum machen die sich AfD-Themen zu eigen?“ Drei Frauen, die | |
| gerade mit ihren Hunden vorbeikommen, sehen das ganz ähnlich. | |
| ## Gehoben oder abgehoben? | |
| Das Problem sei Armut, sagt Sabine Seifert. Junge Männer – migrantisch oder | |
| nicht – wüssten oft nicht, wo sie mit sich hinsollen, und hingen dann am | |
| Bahnhof ab. Das sei immer so gewesen, das könne sich hochschaukeln. „Da | |
| müsste der Sozialstaat halt auch aktiver werden.“ Seifert zeigt hinauf zum | |
| Ackerberg. Ins alpenländische Bild passt er nicht so richtig, der Bungalow, | |
| den Ludwig Erhard hier in die Wiesen setzen ließ. Erhard-Bunker, sagen die | |
| Nachbarn dazu. Seine Sommer und seine späten Jahre verbrachte der „Vater | |
| der sozialen Marktwirtschaft“ in dem modernistischen Haus. Gut Kaltenbrunn, | |
| eine Stufe unterhalb am Ackerberg, wirkt da schon besser integriert. Auf | |
| den ersten Blick. | |
| „Wild auf Trüffel?“, fragt ein Banner an der Einfahrt zum einst | |
| klösterlichen Gut. Es ist Mittag, eine junge Frau winkt mit einer | |
| schwarz-weißen Rallye-Fahne eine Schlange von SUVs in den Gutshof: Audi hat | |
| seine High-End-Händler aus der ganzen Welt ins schöne Bayern eingeladen. | |
| Auf dem Klosterhof können sie ausprobieren, ob es der Q3 tatsächlich | |
| schafft, automatisiert einzuparken. Junge Männer aus der arabischen Welt, | |
| hier sind sie erwünscht. | |
| Gut Kaltenbrunn, betrieben von Feinkost Käfer, ist eine gehobene Location. | |
| Manche im Tal sagen: abgehoben. Einmal im Jahr kommen die ganz | |
| Großkopferten zum Ludwig-Erhard-Gipfel hierher. | |
| Der Gipfel sei „quasi die Keimzelle der neuen Bundesregierung“, sagte | |
| Christiane Goetz-Weimer stolz bei ihrer Eröffnungsrede im Mai. Von ihrem | |
| Mann Wolfram hat sie die Geschäftsführung der Weimer Media Group | |
| übernommen, die das Treffen von Geschäftsleuten, Bankern und | |
| Politiker:innen seit 2014 veranstaltet. Tradition trifft Innovation, | |
| Schöpfung trifft Wertschöpfung am Tegernsee. | |
| ## Die „Tegernsee-Connection“ | |
| Friedrich Merz hatte Wolfram Weimer kurz zuvor zum Kulturstaatsminister | |
| ernannt. Der Interessenkonflikt wäre dann doch zu offensichtlich gewesen, | |
| wenn er weiter das „deutsche Davos“ ausrichten würde, wie man sich selbst | |
| gern nennt. Denn im Gegensatz zu den Publikationen der Group scheint der | |
| Ludwig-Erhard-Gipfel für die Familie Weimer ein einträgliches | |
| Geschäftsmodell zu sein, Tausende kostet eine Eintrittskarte. Audi gehört | |
| wohl eher zu den kleineren Sponsoren. | |
| Das Haus der Weimers hier in Gmund liegt neben dem von Merz, die Familien | |
| sind seit Langem befreundet, man wandert und gipfelt zusammen. Auch | |
| Katherina Reiche gehört zur „Tegernsee-Connection“, war von Anfang an beim | |
| Ludwig-Erhard-Gipfel dabei, früher als Vorstandsvorsitzende von | |
| Westenergie, 2025 dann als Wirtschaftsministerin. | |
| Soziale Marktwirtschaft, das bedeute Eigenverantwortung, Risiko und | |
| Wettbewerb, sagte sie in ihrer Rede. Christiane Goetz-Weimer lobte | |
| Argentinien als einen Schlüsselstaat, es erlebe „mit dem exzentrischen | |
| Milei ein wahres Wirtschaftswunder“. Allgemeines Wohl sah Goetz-Weimer auch | |
| in Deutschland aufziehen: „An beiden Enden der Wohlstandsverteilung geht es | |
| kräftig voran.“ | |
| Am anderen Ende der Wiesseer Straße sieht man das noch nicht so deutlich. | |
| Die Tafel Gmund verteilt hier samstags Lebensmittel. Nebenan, in der | |
| „Ringelsocke“, dem Sozialkaufhaus der Diakonie, steht Karin Pulch, 82, | |
| hinterm Tresen. „Also wenn ich in München bin, Vorsicht, Vorsicht. | |
| Frankfurt muss eine Katastrophe sein“, sagt sie zur Stadtbilddebatte. | |
| ## „Wir sind kein Basar“ | |
| Vier Kinder habe sie großgezogen und Enkel habe sie auch, sagt Pulch. Sie | |
| steht zwischen Maxi-Cosi-Kindersitzen, Wintermänteln und Möbeln. Auf einem | |
| Schild an der Kasse steht „Wir sind hier nicht bei Wünsch-Dir-was! sondern | |
| bei SO ISSES!“ Seit vier Jahren hilft Pulch ehrenamtlich mit, hier und im | |
| Inner Wheel, dem Frauen-Ableger des Rotary-Clubs. Eine sinnvolle Tätigkeit | |
| habe sie gefunden. „Das macht mir wahnsinnig viel Spaß, mit den Leuten zu | |
| reden und mit anderen Kulturen auch mal zu diskutieren und denen | |
| klarzumachen, dass wir kein Basar sind, sondern: Preise sind Preise.“ | |
| Ob es nicht seltsam sei, dass es am reichen Tegernsee, im reichen | |
| Deutschland, eine Tafel brauche und ein Sozialkaufhaus? „Die braucht es. | |
| Das sind vielfach Rentner, die eine viel zu niedrige Rente haben. Und wir | |
| haben, ich würde mal sagen, bestimmt 80 Prozent Leute, die nicht, also die | |
| – in Anführungsstrichen – Ausländer sind.“ | |
| Und die Probleme im Großstadtbild, kann man die mit Abschiebungen lösen? | |
| „Da geht es doch nur um die Illegalen und die Straftäter“, sagt Karin | |
| Pulch, „Und die gehören ruckzuck raus! Also da bin ich auch total auf der | |
| Seite von Friedrich Merz und Alexander Dobrindt.“ | |
| Eine gute Woche nach seiner Stadtbild-Aussage rudert der Kanzler etwas | |
| zurück. Menschen mit Migrationshintergrund seien ein unverzichtbarer | |
| Bestandteil des Arbeitsmarktes, sagt er am Mittwoch. Ohne Gastarbeiter | |
| hätte auch Ludwig Erhard sein Wirtschaftswunder nicht vollbringen können, | |
| mag man in Gmund denken. | |
| Aber weil sich die Gastarbeiter:innen im „Tal der Reichen“ keine | |
| Wohnung leisten können, verschwinden sie nach Feierabend wieder aus dem | |
| Stadtbild, mit dem Auto, dem Bus 354 oder dem 18 Uhr Zug Richtung München | |
| Hauptbahnhof. „Hier läuft das ganz gut“, sagt Karin Pulch. Mit den – in | |
| Anführungsstrichen – Ausländern. | |
| 24 Oct 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Hunglinger | |
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