| # taz.de -- Denis Côté über „Paul“: „Er hat mir nie in die Augen gesch… | |
| > Denis Côté folgt in seinem Dokumentarfilm „Paul“ (Panorama) einem | |
| > schwergewichtigen Mann. Seine Ängste überwindet der, indem er für Dominas | |
| > putzt. | |
| Bild: Filmemacher Denis Côté in Berlin | |
| taz: Ein Held, der 136 Kilo wiegt und Sozialphobien und Angststörungen hat, | |
| ist kein offensichtlicher Held für einen Film, oder? | |
| [1][Denis Côté:] Nein. Ich will nicht böse sein, aber er ist nicht sehr | |
| cineastisch, nicht besonders charmant oder gutaussehend. Er hat keine | |
| besonders starke Präsenz. Da hatte ich beim Dreh plötzlich Zweifel und | |
| fragte meinen Cutter: Magst du das Material mit Paul? Und er sagte mir: | |
| „Ja, er hat was, dieser Typ, mach weiter.“ Da habe ich Vertrauen gefasst. | |
| Irgendwann findet man ihn liebenswert. | |
| taz: Und anrührend … | |
| Côté: Das auch. Unser Problem war, dass er nicht mit Männern spricht, | |
| wahrscheinlich wegen der schwierigen Beziehung zu seinem Vater. Er hat mir | |
| nie in die Augen geschaut. Also habe ich die Produktionsleiterin als | |
| Vermittlerin benutzt, damit sie ihn abends anruft und versucht, etwas über | |
| seinen Gemütszustand und seine Gefühle zu erfahren. Deswegen war der Film | |
| schwer zu drehen. Denn es ist das erste Mal, dass ich einen Film gemacht | |
| habe, bei dem ich mich nicht zu 100 Prozent mit dem Protagonisten verbunden | |
| fühle, den ich filme. Er selbst ist aber sehr zufrieden mit dem Film. | |
| taz: Wie haben Sie die Schwierigkeiten überwunden? | |
| Côté: Irgendwann hat eine seiner Dominas ihn gefragt: „Bist du nett zu | |
| Denis?“ Dann sagte Paul: „Nein, ich schreibe ihm nur kurze E-Mails.“ Dann | |
| fragte sie: „Warum? Er macht einen Film über dich. Aber er ist sehr groß. | |
| Er hat viele Tätowierungen. Schüchtert dich das ein?“ Und dann sagte er: | |
| „Ein bisschen.“ Er hatte also kein großes Interesse daran, den Film zu | |
| drehen, weil er nicht wusste, worauf er sich einlässt. Aber er hoffte, dass | |
| er ihm zu Bekanntheit verhelfen würde. Und er will Follower auf Instagram. | |
| Und ich wollte einen Film. Es war also eine Art Tauschhandel. | |
| taz: Wie würden Sie ihn beschreiben? | |
| Côté: Er ist sehr intelligent. Er hat soziale Ängste, ist aber nicht | |
| dysfunktional. Er hat zwei Safe Spaces. Sein Telefon, weil er dort sein | |
| Image kontrollieren kann. Sein Handy ist wie sein verlängerter Arm. Und er | |
| will immer von Frauen umgeben sein. Er hat sich eine Gemeinschaft von | |
| Dominas aufgebaut, Frauen, die „kinky“ sind, ihre Sexualität zur Schau | |
| stellen und sich in sexy Outfits präsentieren. Er hat sie durch seine | |
| Präsentation auf Tinder gefunden: „Ich möchte für dich putzen, kostenlos.�… | |
| Dabei war er damals nicht mal ein guter cleaner. Er möchte Geschenke, | |
| Bestrafungen oder Demütigungen. Und es gibt viele Frauen, die das für ihren | |
| Content auf ihren Websites nutzen. Etwa die Domina, die ihm eine | |
| Einhornmaske aufsetzt. Sie verlangt bei anderen für so etwas 400 Dollar pro | |
| Stunde. | |
| taz: Wie lernten Sie ihn kennen? | |
| Côté: Über eine Bekannte. Die sagte eines Nachts plötzlich: „Ich werde Pa… | |
| anrufen.“ Und Paul kam mit dem Auto und fuhr sie nach Hause. Kostenlos, mit | |
| Geschenken. Also habe ich mich erkundigt: „Wer ist dieser Herr?“ Dann hat | |
| sie mir erzählt, dass sie ihn über eine Domina kennengelernt hatte, für die | |
| sie gearbeitet hatte. Nach dem Job wollte Paul mit ihr in Kontakt bleiben | |
| und sagte: „Madame, ich werde Sie fahren, wohin Sie wollen.“ Und da | |
| erinnerte ich mich an meinen Film [2][„Ta peau si lisse“ (A Skin So Soft),] | |
| bei dem ich sechs Monate lang Bodybuilder begleitet hatte. Das wollte ich | |
| auch mit ihm machen, einen Film, der sich auf der Schwelle zu Voyeurismus | |
| und Ausbeutung bewegt, aber nicht voyeuristisch, obszön oder exploitative | |
| ist. Der Film hat einen sehr beschützenden Blick auf Paul. | |
| taz: Welche Rolle spielen soziale Medien? | |
| Côté: Es geht um die Beziehung zu unserem Bild durch das Handy. Paul | |
| versteckt sich hinter seinem Handy, um sein Image zu gestalten. Im normalen | |
| Leben scheint er sich zu langweilen. Wenn er also mit seinem Telefon | |
| herumspielt, Montagen macht und Dominas trifft, muss es auf sozialen | |
| Netzwerken zu sehen sein. Man muss ein gutes Image haben. Und wenn es nicht | |
| funktioniert, schneidet man es eben neu. Unser Film handelt von sehr | |
| aktuellen Themen. | |
| taz: Trennt Paul zwischen seinem Privatleben und seinem Leben auf | |
| Instagram? | |
| Côté: Manchmal saß ich mit meinem Kameramann im Auto und fragte: „Vincent, | |
| spielt Paul eine Figur?“ Vincent wusste es nicht. Nach den Drehtagen fragte | |
| ich mich immer wieder: „Hat Paul heute die Figur Paul gespielt?“ Der Film | |
| ist fertig und ich muss zugeben, dass Paul für mich immer noch ein Rätsel | |
| ist. | |
| taz: Wie haben Sie die Sado-Maso-Szenen gedreht und die gefilmten Personen | |
| einbezogen? | |
| Côté: Ich habe Paul gesagt, dass wir das Projekt erst beginnen können, wenn | |
| er mir sieben der Dominas vorgestellt hat. Ich habe sie in ihren Wohnungen | |
| aufgesucht, um das Licht und die Dimensionen zu prüfen, und ihnen Fragen | |
| gestellt: „Was willst du von Paul? Und wenn ich zum Filmen hierherkomme, | |
| kannst du die Kamera vergessen und genau das tun, was ihr sonst auch tut?“ | |
| Zwei der Frauen wollten nicht, dass man ihr Gesicht sieht. Eine wollte, | |
| dass wir ihre Stimme ändern. Meist ist das Gefilmte zu 100 Prozent echt. | |
| Ein oder zweimal haben wir ein bisschen geschummelt. Aber wir respektieren | |
| die Wahrheit von Pauls Alltag. | |
| taz: Ist das ein Prinzip Ihrer Regie, dass Sie nicht werten? | |
| Côté: Ja, und es hilft mir, dass ich mich in diesen Szenen, sei es BDSM | |
| oder alternative Sexualität, ein bisschen auskenne. Das sind keine Dinge, | |
| bei denen ich mit „Oh, my God!“ reagieren würde. Wenn Paul also sagt: „I… | |
| werde beim Putzen geschlagen“, hören mein Kameramann und ich ihm zu und | |
| versuchen nicht, mit unserer Kamera ein bürgerliches Publikum zu | |
| verschrecken. Dennoch ist es sehr marginal, was wir auf der Leinwand | |
| zeigen: BDSM und Sexualität. Die Aufgabe bestand also darin, es fast banal | |
| erscheinen zu lassen. | |
| taz: Künstler sollten auch nicht engstirnig sein, oder? | |
| Côté: Das darf man nicht, sonst wird man schnell reaktionär. Wenn ich heute | |
| an Projekten arbeite, sind meine Mitarbeiter oft jünger. Insofern haben mir | |
| Paul und meine jungen Mitarbeiter geholfen. Ich bin immer der Älteste, aber | |
| ich habe nicht das Recht, dabei mit überholten Ideen anzukommen. | |
| taz: Wie entscheiden Sie, ob Sie Spiel- oder Dokumentarfilme drehen? Oder | |
| passiert das zufällig? | |
| Côté: Dieses Projekt kam auf jeden Fall zufällig, weil ich plötzlich auf | |
| eine Perle gestoßen bin. Wenn ich einen Dokumentarfilm mache, möchte ich, | |
| dass er fiktional ist. Wenn man sich „Paul“ ansieht, würde ich mir | |
| wünschen, dass man sagt: „Ah, da erkenne ich Denis Côté wieder“, weil ich | |
| eine Persönlichkeit und einen eigenen Blick habe und weil mir diese Dinge | |
| sehr wichtig sind. Bei „A Skin So Soft“ etwa hatte ich das Gefühl, dass ich | |
| der einzige Mensch bin, der diesen Film so gedreht hätte. Das bedeutet, | |
| dass ich eine Handschrift habe, ein spezieller Auteur bin. | |
| taz: Arbeiten Sie auch spontan? | |
| Côté: Ja, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Thema mit drei Freunden und | |
| einer Kamera gemacht werden kann, dann werde ich das mit vollem Engagement | |
| angehen. Bei „Paul“ habe ich immer noch das Gefühl, dass ich damit ein | |
| Statement abgegeben habe. Wir haben diesen Film hier mit zweitausend Dollar | |
| angefangen und erst später Förderung vom Kulturministerium von Québec | |
| bekommen, um ihn fertigzustellen. Ich habe ein gewisses Standing, ich kann | |
| mir das leisten. Ich bin 51 Jahre alt. (selbstironisch:) Ich bin kein | |
| Bourgeois geworden. Ich bin in der Lage, DIY zu machen. Damit will ich auch | |
| jungen Filmemachern in Québec zeigen, dass es möglich ist, Filme zu machen, | |
| ohne ewig auf Förderung warten zu müssen. | |
| 16 Feb 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Film-Un-ete-comme-ca-auf-der-Berlinale/!5831925 | |
| [2] /Dokumentarfilm-ueber-Bodybuilder/!5520683 | |
| ## AUTOREN | |
| Kira Taszman | |
| ## TAGS | |
| Kanada | |
| Depression | |
| Putzen | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Feinde der Pressefreiheit | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Regisseurin über „My Undesirable Friend“: „Es wird immer Menschen geben,… | |
| Julia Loktev begleitete für eine Dokumentation unabhängige Journalistinnen | |
| in Russland. Nach dem Angriff auf die Ukraine mussten ihre Protagonistinnen | |
| das Land verlassen. | |
| Debütfilm von Constanze Klaue: Mit den harten Jungs abhängen | |
| Romanverfilmung: „Mit der Faust in die Welt schlagen“ (Perspectives) | |
| betrachtet nüchtern das Heranwachsen im Ostdeutschland der Neunziger. | |
| „Dreams“ von Michel Franco: Die Grenzen der Zuneigung | |
| Der Film „Dreams“ ist ein Liebes- und ein Migrationsdrama. Michel Franco | |
| seziert die Folgen ungleicher Machtverhältnisse für eine Beziehung. | |
| Neuer Film von Anna Muylaert: Camping in São Paulo | |
| Anna Muylaert ist für packende Sozialdramen bekannt. „A melhor mãe do | |
| mundo“ handelt von einer Müllsammlerin, die ihre Kinder beschützen muss. | |
| 75. Berlinale: Was bisher geschah: Sinn für Parapsychologie | |
| Glamour im grauen Winter: Die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle setzte | |
| bei der Eröffnung des Filmfestivals auf Unterhaltung statt auf Politisches. |