# taz.de -- Berlinale Forum: Rückblicke auf vergangene Katastrophen | |
> Mehrere Dokumentarfilme im Programm des Forums untersuchen die | |
> Konfliktzonen und Kämpfe früherer Jahrzehnte – und leuchten die | |
> Erinnerungen daran aus. | |
Bild: Brutalistisches Schiff für Südkoreas Antikommunismuspolitik: Das Freedo… | |
Mit „What’s next“ – nach einem Filmbeitrag aus Hongkong – hat | |
Forumsleiterin Barbara Wurm das Programm des diesjährigen „Forums“ | |
übertitelt. Der Kurzsatz trifft auch – ins Bittere gewendet – treffend auf | |
die in schnellem Takt kommenden Attacken, unter denen unser Leben in Europa | |
zurzeit einer „ungewissen katastrophischen Zukunft“ (so Wurm) | |
entgegentaumelt. In einer solchen Situation sind Rückblicke auf vergangene | |
Katastrophen vielleicht nützlich. Es passt also, dass neben Arbeiten zum | |
Pogrom des 7. Oktober 2023 in Israel und der Ukraine eine ganze Reihe an | |
Dokumentarfilmen im Programm des Forums Konfliktzonen und Kämpfe | |
vergangener Jahrzehnte und die Erinnerungen daran untersuchen. | |
So beschäftigt sich die japanische Filmemacherin Kaori Oda in „Underground“ | |
mit dem Gedenken an Opfer des Zweiten Weltkriegs, die im April 1945 bei | |
Landung der [1][US-Truppen auf der Südinsel Okinawa] aus Angst vor | |
Gewaltakten der Amerikaner in Erdhöhlen kollektiven Suizid begingen. Dabei | |
setzt der Film der mehrfach ausgezeichneten Experimentalkünstlerin neben | |
den Erläuterungen eines ehrenamtlichen Scouts zum historischen Geschehen | |
auf eine ausgetüftelte Komposition aus Licht- und Klangeffekten und eine | |
mysteriöse junge Frau als spirituelles Medium. Oda selbst spricht von ihrem | |
Film als einer „lebendigen Spur“ gegen die Sterblichkeit der Menschen. | |
Aus dem Dunkel der Höhle zu flackernden, teils sepiaeingefärbten | |
Schwarz-Weiß-Bildern, die Tatiana Fuentes Sadowski in „La memoria de las | |
mariposas“ als Ausgangspunkt zu einer Reise in die Zeiten früher | |
Industrialisierung und postkolonialer Ausbeutung nimmt. Sie zeigen Wasser | |
und Hütten in der üppigen Vegetation des Regenwalds. Gewalt und | |
Zwangsarbeit. | |
Und – in einem alten Fotoalbum aus der peruanischen Dschungelstadt Iquitos | |
am Oberlauf des Amazonas – ein Bild zweier junger indigener Männer, die | |
1911 von dem britischen [2][Konsul Roger Casement] nach London gebracht | |
wurden. Dort sollten sie Zeugnis gegen die Geschäfte der 1907 an die Börse | |
gegangene Kautschuk-Firma Casa Arana abzulegen, die von Casement der | |
schweren Misshandlung indigener Arbeiterinnen und Arbeiter bei der | |
Gewinnung des für die Industrialisierung bedeutenden Rohstoffs angeklagt | |
war. | |
## Kunstvoll bearbeitete Filmschnipsel | |
Sadowskis Film rekonstruiert die Geschichte von Omarino und Aredomi aus | |
Tagebüchern und Briefen Casements und unterlegt sie mit kunstvoll | |
bearbeiteten Filmschnipseln unterschiedlicher Quellen. Die insgesamt | |
spärlichen Zeugnisse verraten immerhin, dass die beiden „Boys“ später auf | |
eigenen Wunsch zurück nach Iquitos reisten, wo sich ihre Spuren verlieren. | |
Als die Filmemacherin in ihr Herkunftsdorf am Putumayo reist, wo vermutlich | |
letzte Nachfahren leben, gibt es eine zeremonielle Verabschiedung. Aber | |
auch den Wunsch, die „Tür in die Erinnerung“ nicht weiter zu öffnen, „w… | |
wir sie nicht wieder schließen können“. | |
Von den Opfern polizeilicher Verfolgung in der Türkei der 1970er und | |
80er-Jahre leben viele noch – oft im Exil. Einer ist der Partner von | |
Filmemacherin Nathalie Borgers, die erst nach Jahrzehnten des | |
Zusammenlebens die Macht der politischen Lebensgeschichte ihres Mannes | |
entdeckt und in „Scars of a Putsch“ filmisch erkundet. Abidin Ertuğrul | |
gehörte zu den idealistischen jungen Linken, die damals für eine | |
demokratische und sozial gerechte Türkei kämpften und dafür von | |
rechtsextremen Banden und staatlichen Autoritäten gejagt wurden. Abidin | |
überlebte nur durch großes Glück einen Mordanschlag mit sieben Schüssen | |
einer faschistischen Miliz. Dennoch weigerte er sich bis zum Militärputsch | |
von 1980, die Türkei zu verlassen. | |
Auch andere exilierte MitstreiterInnen kommen in diesem Film zu Wort. Der | |
ist eine engagierte persönliche Spurensuche nach den Nachwirkungen des | |
Militärputsches, ergänzt um eine versuchte Analyse der türkischen Politik | |
der letzten Jahrzehnte. Allerdings wird die prinzipiell einleuchtende | |
These, dass mit der Amtszeit des durch den Putsch an die Macht gelangten | |
Generals und [3][Staatspräsidenten Kenan Evren] und seiner Unterstützung | |
durch den Westen die Wurzeln für die heute fatale Verbindung von Islamismus | |
und Neoliberalismus gelegt wurden, im Detail zu wenig konkretisiert. | |
Das Freedom Center in Seoul wurde 1964 von Architekt Kim Swoo Geun | |
errichtet. Es ist der zentrale Ort für den antikommunistischen Kampf des am | |
16. Mai 1961 an die Macht geputschten Militärregimes unter General Park | |
Chung Hee. Das brutalistische Betongebäude in Form eines Schiffes protzt | |
auch sonst mit politischer Symbolik. Dem Filmessay „The Sense of Violence“ | |
des koreanischen Filmemachers Kim Moo-young dient das Freedom Center als | |
Gerüst für eine reichhaltige Versammlung von audiovisuellem Archivmaterial, | |
Ortsbesichtigung weiterer antikommunistischer Monumente und einem mit | |
weiblichem Vibrato vorgetragenen Erklärkommentar. | |
## Krasse Misogynität | |
Kontrastiert wird das Center später durch ein anderes Gebäude, geplant von | |
demselben Architekten. Es vertritt als nach außen abgeschirmte | |
Polizeistation und Gefängnis die [4][düstere Realität des südkoreanischen | |
Regimes]. Wir sehen Bilder von Massenaufmärschen, Demonstrationen und | |
gewaltsamen Polizeieinsätzen. Und viele Ausschnitte aus Spielfilmen, deren | |
ideologische Eindeutigkeit die staatliche Filmzensur mit einem Verbot von | |
Metaphern und dem geballten Einsatz nordkoreanischer Spione und krasser | |
Misogynität erzwang. „The Sense of Violence“ bietet als Crashkurs | |
erhellende Innenansichten eines Landes, das gerade durch die Verleihung des | |
Literaturnobelpreises an Han Kang und die jüngsten Ereignisse um die | |
Ausrufung des Kriegsrechts durch Präsident Yoon Suk-yeol verstärkt in unser | |
Bewusstsein geriet. | |
Angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Weltpolitik wirkt ein Film | |
schon prophetisch, der in fast unterkühltem Tonfall von einer ähnlich | |
gewaltigen Ideologie- und Machtmaschine erzählt, nun aber in den USA: der | |
Ende der 1960er Jahre von dem Chemieindustriellen John M. Olin gegründeten | |
Olin-Foundation. Sie pumpte mehr als 370 Millionen Dollar in Publikationen, | |
Thinktanks und Studiengänge für die Sache eines radikalen Kapitalismus. | |
Später erweiterte John M. Olin sein Wirkspektrum mit den Organisationen | |
Federalist Society, Focus on the Family oder Alliance Defending Freedom auf | |
die Justiz und auf die öffentlichen Diskussionen über sogenannte | |
Familienwerte, Religion und die Leugnung des Klimawandels: Die mit | |
Sprengstoff und Waffen in zwei Weltkriegen reich gewordene Olin Company ist | |
etwa mit dem Insektizid DDT auch einer der größten ökologischen | |
Verschmutzer der USA. | |
Auch Regisseurin Lee Anne Schmitt arbeitet mit historischem Archivmaterial, | |
legt als „Beweismittel“ aber auch ganze Stapel von Büchern mit markierten | |
Textstellen auf den Tisch, die sie zitiert. Und sie lässt punktuell | |
(begleitet von Vogelgezwitscher und dem fantastischen Gitarrenspiel ihres | |
Partners [5][Jeff Parker]) das eigene Privatleben einfließen – gewidmet ist | |
der Film ihrem Vater. Der arbeitete jahrzehntelang für „Olin“. | |
„Evidence“ ist ein in der stringenten Argumentation überzeugender und in | |
seinem Befund erschreckender Film, der zeigt, wie es zu der Situation | |
kommen konnte, mit der wir jetzt konfrontiert sind. Dabei ist unter dem | |
nüchternen Vortrag Schmitts ihr Zorn über den Ausverkauf an das Kapital zu | |
spüren. Viel Hoffnung gibt es nicht (ja, Elon Musk kommt auch vor …), auch | |
keine Gegenmittel neben der Aufklärung. Es stellt sich die Frage, wie lange | |
dieser von privaten Stiftungen finanzierte Film in den heutigen Vereinigten | |
Staaten zu sehen sein wird. | |
20 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Silvia Hallensleben | |
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