Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Zum Teufel mit den „Raschisten“
> Raketen schlagen ein, Tarnnetze werden geknüpft. Im Theater ist
> Vorstellung – und im Café träumen sie vom Urlaub. Ein Telefon-Tagebuch
> aus Lwiw.
Bild: Alik Olisevych
Alik Olisevych, 1958 in Lwiw geboren, war einer der Gründer der dortigen
Hippie-Bewegung. Lange Haare, westliche Musik und nonkonformes Denken
machten die Hippies verdächtig, sie galten den KP-Funktionären in Kiew und
Moskau als „bourgeoise Nationalisten“, „antisowjetische Agitatoren“ oder
einfach als „geisteskrank“. Vor die Musterungskommission trat Alik mit
wehendem Haar und Kriegsbemalung.
Die Kommission hielt ihn für „wehrunwürdig“ und wies Alik in die
Psychiatrie ein. Nach einem Monat kam er wieder frei und schlug sich als
Nacktmodell an der Kunstakademie durch. Seit den achtziger Jahren arbeitet
er als Beleuchter im Opernhaus. Über Alik und das Leben der Hippies von
Lwiw erzählt Andrej Kurkow in seinem Roman „Jimi Hendrix live in Lemberg“.
Dienstag, 3. Mai
Weißt Du, was gerade passiert ist? Sie haben Lwiw bombardiert, fünf
Raketen. Sie haben Elektrostationen getroffen, Umspannwerke, halb Lwiw ist
ohne Strom. Eine Rakete ist über mein Haus hinweg gezischt, drei Kilometer
weiter ist sie eingeschlagen.
Plötzlich bricht die Leitung zusammen. „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann
der Abonnent Ihren Anruf nicht entgegennehmen“, wiederholt eine
Frauenstimme auf Ukrainisch.
Mittwoch, 4. Mai
Das Telefonnetz ist gestern Abend zusammengebrochen. Aber seit heute früh,
sechs Uhr, haben wir hier wieder Strom. Eine ganze Brigade war unterwegs
und hat die Leitungen repariert. In einem anderen Stadtteil haben sie aber
bis heute Abend immer noch kein Licht. Direkt neben unserem Hof führt eine
10.000-Volt-Leitung vorbei zu einem Umspannwerk. Das wurde getroffen.
Drei Ziele haben die Russen gestern angegriffen. Einige Menschen wurden
verletzt, darunter ein junger Motorradfahrer. Aber es ist Gott sei Dank
keiner gestorben. Zum ersten Mal seit zwei Monaten haben sie auch Wolowez
in den Karpaten angegriffen. Die Rakete traf einen Gasverteiler. Wolowez
ist ein malerischer Ort, jedes Jahr haben wir uns dort zu einem
Hippie-Festival getroffen. Und jetzt beschießen es die Raschisten mit
Raketen. Ich nenne die Russen „Raschisten“, es ist ein Wort aus Russia und
Faschisten.
Ich bin jetzt seltener im Freiwilligenzentrum am Markt, wo wir Tarnnetze
für die Armee herstellen. Da gibt es inzwischen ein großes Problem. Es gibt
nicht mehr genügend Stoff, den wir in die Netze knüpfen können. Wir
brauchen leichte Stoffe, grüne, olivfarbene und dunkle. Wer uns in
Deutschland dabei helfen will, kann die Leiterin Tatjana Pilipez anrufen
(+38-067-476-31-91).
Das Opernhaus hat wieder geöffnet und ich arbeite wieder als Beleuchter,
allerdings viel auf Zuruf. Wirklich planen lässt sich jetzt nichts. Einen
Monat lang haben wir von Freitag bis Sonntag jeweils um fünf Uhr für eine
Stunde Vorstellungen angeboten. Es war eine Art Kurzrevue mit
Sicherheitsvorkehrungen.
So ist nur das Parkett besetzt, etwa 300 Plätze. Die Ränge dagegen bleiben
leer. Es würde zu lange dauern, sie über die Treppen zu räumen. Wenn es zu
Luftalarm kommt, kann nur das Parkett schnell geräumt werden, und alle
finden im Luftschutzkeller dann auch Platz.
Aber trotz aller Einschränkungen, die Leute sollen doch wenigstens einmal
abschalten können, Musik hören, Ballett genießen. Es gibt viele, die unter
der Anspannung leiden, die sich Sorgen machen um ihre Kinder, ihre Söhne an
der Front, ihre Verwandtschaft. Es gibt Menschen, die bekommen einen
Herzinfarkt. Die halten das einfach nicht mehr aus.
Seit Anfang Mai gibt es endlich wieder richtige Ballettaufführungen und sie
beginnen, wie bei uns üblich, um sechs. Giselle dauert etwa zwei Stunden.
Um acht gehen die Besucher nach Hause. Der Beginn der Sperrstunden wurde
von 22 auf 23 Uhr verlegt. Es ist ein kleines bisschen mehr Normalität.
Donnerstag, 5. Mai
Heute war ich im Opernhaus. Es war Orchesterprobe, morgen soll es ein
großes Konzert geben, das online übertragen wird. Die Vorbereitungen
laufen, die Leute sind ziemlich nervös. Hoffentlich gibt es keinen
Luftalarm morgen. Danach bin ich kurz ins Freiwilligenzentrum.
Dort übernachten immer noch Flüchtlinge, aber es sind weniger geworden.
Einige sind zurückgekehrt in ihre Städte, nach Poltawa, Tscherkassy. Später
bin ich in ins armenische Café Virmenka, mein Stamm-Café. Bei dem Wetter
sitzen wir auf der Straße. Worüber wir uns unterhalten? Jedenfalls kaum
über Krieg und Politik. Die meisten haben es satt.
Die Leute brauchen Abwechslung, Austausch, andere Gedanken. Man redet über
Reisen oder man träumt zumindest davon. Manche waren aber an der polnischen
Ostsee, andere in Österreich, Deutschland. Man will den Krieg einfach mal
vergessen.
Freitag, 6. Mai
Um elf Uhr bin ich ins Opernhaus. Den ganzen Nachmittag war Generalprobe.
Mit dem Konzert beginnt ein neues Kulturprojekt, das ukrainische Künstler
und ukrainische Kultur bekannt machen will. Jeder kann mit einer Spende
online beim Konzert dabei sein. Das Geld fließt in einen Fonds, mit dem
ukrainische Kulturprojekte unterstützt werden.
Im Parkett wurde die Übertragungstechnik aufgebaut. Die Plätze unten aber
blieben ausnahmsweise leer. Die Stühle im Parkett wurden mit Blumen
geschmückt zum Gedenken an die vielen Toten, von Charkiw, Kiew, Butscha,
Irpin und natürlich Mariupol.
Unser Generalmusikdirektor Ivan Cherednichenko leitete das Konzert. Er hat
im März seine Eltern verloren. Sie wurden von russischen Soldaten in Irpin
ermordet. Cherednichenko dirigierte die 3. Symphonie von Boris
Lyatoshynsky.
Er war ein ukrainischer Komponist der Sowjetzeit, die Symphonie entstand
nach dem Krieg, als Widmung hatte Lyatoshynsky über das Werk geschrieben:
„Frieden wird den Krieg besiegen“. Sofort nach der Uraufführung wurde das
Werk von sowjetischen Kulturfunktionären als bürgerlich-pazifistisch und
anti-sowjetisch diffamiert.
Lyatoshynsky wurde gezwungen, das Finale umzuschreiben, damit es
„optimistischer“ klingt. Das Orchester, in dem auch Musiker aus Charkiw,
Kiew und Mariupol mitwirkten, spielte natürlich die Ur-Fassung von 1951.
Der Abend war sehr feierlich. Das Orchester nahm auf der Bühne Platz und
wir Beleuchter haben den ganzen Raum in rotes, gelbes und weißes Licht
getaucht. Und es blieb alles ruhig. Kein Luftalarm.
An diesem Wochenende ist übrigens keine weitere Vorstellung mehr. Alle
befürchten, dass die Russen im Vorfeld des 9. Mai Raketenangriffe geplant
haben.
Montag, 9. Mai
Heute ist der „Tag des Sieges“. In Russland feiern sie. Früher war dieser
Tag auch bei uns ein Feiertag. Da sind die Veteranen, behangen mit Orden,
durch Lwiw gezogen. Nach 1991 ist er dann um einen Tag vorgerückt. Wir
begehen ihn wie andere Länder auch am 8. Mai. Zum Feiern aber war mir nie
zumute.
Ich bin ein friedliebender Mensch, militärische Feiertage bedeuten mir
nichts. Ich bin da völlig gleichgültig. Und das, obwohl mein Vater Anfang
Mai 1945 in Berlin war. Gefeiert hat auch er nicht. Der toten Kameraden
gedacht, das schon, in der Armee und im Lager. Doch feiern? Gar auf die
Rote Armee anstoßen? Niemals.
Meine Eltern stammen aus Kiew, sie haben 1941 geheiratet. Nach dem
Einmarsch der Deutschen wurden sie verschleppt und mussten auf einem
Bauernhof in der Nähe von Berlin arbeiten. Im Mai 1943 wurde dort meine
Schwester Galja geboren.
Sie haben nie ein schlechtes Wort über die Bauern verloren. Als die Rote
Armee das Dorf einnahm, kam mein Vater sofort in ein Strafbataillon. Er war
eigentlich nur Kanonenfutter. Meine Eltern galten als Volksverräter. Warum?
Weil sie für die Deutschen gearbeitet haben.
Als der Krieg aus war, wurde mein Vater von der Armee weg zu zehn Jahren
Arbeitslager verurteilt. Meine Mutter wurde, als sie in Kiew ankam, als
„Volksverräterin“ zu drei Jahren verurteilt. Außerdem glaubten sie, dass
Galja einen deutschen Vater hätte. Sie kam in ein Heim.
Nach der Haft holte meine Mutter Galja da heraus und zog mit ihr zu ihrer
Schwester nach Lwiw. Mein Vater kam nach zehn Jahren zurück, durfte aber
nicht nach Lwiw, sondern musste sich mindestens 101 Kilometer entfernt
aufhalten. Zwei Jahre arbeitete er als Bergmann im Donbass. 1957 war die
Familie endlich wieder zusammen. Im September 1958 wurde ich geboren.
Mein Vater, meine Mutter und meine Schwester Galja sind früh gestorben. Als
meine Mutter an Tuberkulose starb, war ich sieben. Die einzige, die mir
geblieben ist, ist meine Stiefmutter. Sie ist 87 Jahre alt. Es gibt keinen
Grund, den 9. Mai zu feiern.
Ich war mit Orest, einem Nachbarn, am See gegenüber angeln. Orest hat 2014
im Donbass gekämpft. Jetzt ist er 36 und hier bei seiner Familie. Dieser
kleine See ist ein unglaubliches Biotop und ein völlig friedlicher Ort.
Zwölf Schildkröten habe ich gezählt, die haben sich gesonnt. Auch eine Ente
hat sich ausgeruht. Dabei ist letzten Dienstag eine Rakete hierüber
hinweggeflogen. Und dann hat Orest einen fantastischen Fisch geangelt. Ein
Karpfen oder eine Karausche, er schillerte goldfarben.
Es war wie in einem russischen Märchen und wir haben uns gesagt, dass wir
nun drei Wünsche freihaben: Der erste, dass es Frieden wird. Der zweite,
dass die Menschen einander achten. Der dritte, dass wir reisen können, die
Welt sehen, einfach schöne Städte besuchen. Dann haben wir den Fisch wieder
ins Wasser gelassen.
Nach Telefongesprächen protokolliert von Thomas Gerlach.
14 May 2022
## AUTOREN
Alik Olisevych
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Lwiw
Lwiw
Ukraine
Ukraine-Konflikt
Ukraine-Krise
Serie: Notizen aus dem Krieg
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Ukraine-Krise
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Notizen aus dem Krieg: Stille in einer Zeit des Lärms
Der Verstand schafft sich seine eigene Realität. Er verwandelt
Kriegssituationen in geistige Memes. Dann klingt ein Raketenwerfer wie ein
Wasserfall.
Notizen aus dem Krieg: Es hilft mir, wütend zu sein
Früher glaubte sie, sie könne ihr Leben gestalten. Aber im Krieg habe man
keine Kontrolle mehr über das Leben, schreibt Iryna Kramarenko.
Der Krieg nimmt die Worte: „Mariupol war die Hölle auf Erden“
Weil die ukrainische Historikerin Ljuba Danylenko keine Worte mehr findet,
bittet sie andere, für sie zu sprechen – über den Alltag im Krieg.
Notizen aus dem Krieg: „Durch das Loch im Vorhang“
Fünf Tage lang versteckte sich Maria Tarasenko mit ihrer Familie vor den
russischen Soldaten in Butscha. Der Bericht einer Überlebenden.
Notizen aus dem Krieg: Routine und kleine Dinge
Im März hatte unsere Autorin an dieser Stelle ihren Alltag in der Ukraine
beschrieben. Nun hat sie Kyiv verlassen. Wie geht es ihr jetzt?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.