| # taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Stille in einer Zeit des Lärms | |
| > Der Verstand schafft sich seine eigene Realität. Er verwandelt | |
| > Kriegssituationen in geistige Memes. Dann klingt ein Raketenwerfer wie | |
| > ein Wasserfall. | |
| Bild: Blick auf ein zerstörtes Charkiv am 25. Juni | |
| Der 35-jährige Georgy Zeykov engagiert sich seit Kriegsbeginn bei der | |
| Planung und Durchführung von Evakuierungen in und um Charkiw, seine | |
| Heimatstadt. Er arbeitet als Freiwilliger für die humanitäre Organisation | |
| [1][Rescue Now UA]. Zeykov war vor dem Krieg Unternehmer, designte Mode und | |
| Accessoires – er beschreibt sich selbst als „Modefreak“, dem seine äuße… | |
| Erscheinung bis vor Kurzem noch sehr wichtig war. | |
| Ich habe angefangen, mir häufiger die Sterne anzuschauen. Denn nun sind die | |
| Sterne nicht mehr hinter einem Vorhang aus Straßenlaternen und den hellen | |
| Lichtern von Hochhäusern verborgen. Sobald die Ausgangssperre näher rückt, | |
| wird die Stadt in Dunkelheit getaucht. Wenn du auf dem Balkon stehst und in | |
| den Nachthimmel blickst, hast du nicht das Gefühl, dich in der zweitgrößten | |
| Stadt der Ukraine zu befinden. | |
| Stattdessen scheint es, als verabschiedest du dich von dem Tag, kurz bevor | |
| du irgendwo in der Natur schlafen gehst. Dann, wenn alle an der Expedition | |
| teilnehmenden Menschen bereits in ihre Zelte geklettert sind, aber trotzdem | |
| diesen Moment nicht loslassen wollen. Du bist wahnsinnig müde von diesem | |
| endlosen Tag, du hast auf diesen Punkt hingearbeitet, du hast den Gipfel | |
| des Berges erreicht, und wenn du jetzt einschläfst – wird sich morgen früh | |
| alles wiederholen. Auf diesem Berg, in dieser Stadt versammelt ihr euch | |
| jeden Tag. | |
| In dem Haus gegenüber wohnt niemand, in keinem einzigen Fenster dieses | |
| Hauses habe ich je ein Licht gesehen. Ich hoffe, es ist niemand da. Wenn | |
| eine Granate in meine Richtung abgefeuert wird, wird ebenjenes Haus | |
| gegenüber zu meinem Schutzwall. Bis zum 24. Februar schützte mich das | |
| Gebäude vor dem Straßenlärm. Jetzt muss es das nicht mehr tun. | |
| Manchmal vermisse ich diesen Lärm sogar, den Klang von Musik aus offenen | |
| Fenstern, Kindergeschrei, Hundegebell bei Spaziergängen. All diese | |
| Geräusche sind ein Indikator für den Rhythmus und den Puls des | |
| Stadtlebens. Ohne diese Symbiose aus Geräuschen, ohne dieses Summen ist es | |
| schwieriger zu schlafen als mit ihm. [2][Stille in einer Zeit des Lärms ist | |
| seltsam]. | |
| Die einzigen Geräusche, die ich nicht vermisse, sind das Pfeifen einer | |
| vorbeiziehenden Granate und das Donnern ihres Falls. Die russische Armee | |
| macht es den Ukrainern unmöglich, diesen Klang zu vergessen – insbesondere | |
| all den Menschen, die jetzt noch in Charkiw leben. Dasselbe gilt für | |
| diejenigen, die die Stadt und die dort lebenden Menschen verteidigen. Es | |
| mag seltsam klingen, aber genau aus diesem Grund putze ich meine Wohnung | |
| nur noch selten. Energie auf die Reinigung eines Ortes zu verwenden, der | |
| jeden Moment zerstört werden könnte, entbehrt für mich jeglicher Logik. | |
| ## Donner und Wasserfall statt Granaten | |
| Mein Verstand versucht derweilen, alle Prozesse und Haltungen gegenüber | |
| dieser oder jener Erscheinungsform des Krieges zu optimieren. Ich habe vor | |
| Kurzem begriffen, dass ich beginne, die Geräusche des Krieges anders | |
| wahrzunehmen. Ich fühlte mich von mir selbst ertappt: Das Grollen einer | |
| herabfallenden Granate assoziiere ich mit Donner im Mai, das Geräusch eines | |
| Mehrfachraketenwerfers mit dem eines Wasserfalls. Vielleicht ist es eine | |
| Reaktion des Geistes, ein Versuch, die Psyche zu schützen. | |
| Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich um eine gefährliche | |
| Selbsttäuschung handelt. Alle Kriegsgeräusche sollten mit höchster | |
| Aufmerksamkeit wahrgenommen werden, mit sensiblem Bewusstsein und | |
| schonungslos. Diejenigen, die Charkiw in den ersten Kriegstagen verlassen | |
| haben und erst vor Kurzem in die Stadt zurückgekehrt sind, schätzen die | |
| Gefahr falsch ein. Sie haben ein höheres Sterberisiko – so wie ein Freund | |
| von mir. Am 26. Mai kehrte er in die Stadt zurück. Er war seit zwei Monaten | |
| weg und wurde an seinem ersten Tag in Charkiw getötet. Neun Menschen | |
| starben mit ihm, 17 wurden verletzt. | |
| Die Gründe für die Rückkehr in die Stadt sind unterschiedlich – vor allem | |
| fehlt es an Geld. Die Menschen verließen die Stadt in den ersten Tagen der | |
| Invasion und versuchten, an einem sicheren Ort zu bleiben, aber nun zwingt | |
| sie ihre schwierige wirtschaftliche Lage zur Rückkehr. Ich kann diese | |
| Beweggründe nachvollziehen. Die bewusste Relativierung von Gefahren ist ein | |
| weiteres Problem. | |
| Die Menschen kehren nach Charkiw zurück, weil sie nicht wahrhaben wollen, | |
| dass unsere Stadt für lange Zeit zu einer unsicheren Frontzone mit | |
| ständigen humanitären Problemen werden könnte. In gewissem Sinne sind sie | |
| noch frei, denn sie haben den Krieg nicht in seiner vollen Breitseite | |
| erlebt. Nur ist ihre Freiheit auch gleichbedeutend mit Wehrlosigkeit, und | |
| ihr Weg in der Realität des Krieges hat gerade erst begonnen. Sie sind | |
| nicht zu beneiden. | |
| Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die nicht gehen werden – unabhängig | |
| von den weiteren Ereignissen. Sie leben in Kellern, in baufälligen Häusern. | |
| Niemand und nichts kann sie dazu bewegen, ihre Unterkünfte zu verlassen. | |
| Besonders deutlich wird dies in der Region Donezk. | |
| ## Krieg geht nicht ohne Zynismus | |
| Sowohl in den großen Städten als auch in den kleinen Dörfern dort gibt es | |
| viele Menschen, die sich vor dem Krieg verstecken. Sie warten bis zum | |
| letzten Moment. Sie hoffen, dass der Krieg in der Nähe ihrer Stadt oder | |
| sogar vor ihrem Haus endet – oder zumindest der Feind gestoppt wird. | |
| Schließlich werden diese Menschen entweder von Freiwilligen oder dem | |
| Militär evakuiert. [3][Diese beiden Gruppen riskieren bei solchen | |
| Evakuierungen jedes Mal ihr Leben.] Ich nenne sie „Kellner“. Als solche | |
| erscheinen sie gleichzeitig in meinem Kopf als Memes. Zynisch, werden | |
| diejenigen vielleicht sagen, die das hier lesen. | |
| Aber ich werde antworten, dass es sich hier um Krieg handelt. Und vom Krieg | |
| Mitleid zu erwarten, ist zynisch gegenüber mir selbst. Es ist zynisch | |
| gegenüber den Menschen, mit denen ich verhandeln werde, um die Wartenden | |
| und Hoffenden evakuieren zu können. Ich führe Verhandlungen mit denen, die | |
| die Situation in einen kritischen Zustand gebracht haben. | |
| Wir alle erwarten den Sieg und hoffen auf ein baldiges Ende des Krieges, | |
| aber wir müssen dies an einem sicheren Ort tun. Wenn ich mit | |
| Evakuierungsteams spreche, bestehe ich immer darauf, das Risiko zu | |
| minimieren, vor allem für das Evakuierungsteam. Wenn sie sterben oder ihre | |
| Ressourcen zerstört werden, können sie die Menschen nicht mehr retten – und | |
| die Rettungen sind im Moment das Hauptziel. Wenn die Evakuierungsteams | |
| jeden Tag am Rande des Todes stehen, dann droht etwas in ihnen zu | |
| zerbrechen, obwohl sie starke Ukrainer sind. | |
| Am 28. März 2015 besuchte ich ein Seminar von Frank Pucelik, einem | |
| amerikanischen Psychotherapeuten und Militärarzt. Damals sprach er über die | |
| Arbeit mit Kämpfern, die nach Gewalt- und Kriegserfahrungen am | |
| Posttraumatischen Belastungssyndrom litten. Außerdem sprach er über die | |
| Nachwirkungen des Vietnamkriegs, verbunden mit seinen persönlichen | |
| Erfahrungen. Frank überwachte zu dieser Zeit, zu zweit und in der Nacht, | |
| ein bestimmtes Dschungelgebiet. Er beschrieb seine Aufgabe so: einfach an | |
| einen Ort kommen, sich mit dem Rücken zu diesem setzen und still in einen | |
| bestimmten Sektor schauen. | |
| Wenn du dann ein Geräusch machst, ist die Wahrscheinlichkeit deines | |
| schnellen Sterbens sehr groß. Nach einigen Stunden in völliger Dunkelheit | |
| und Stille beginnst du, dir deine eigene Realität zu bilden. Dein Hirn | |
| spielt ein Spiel mit dir. Du hörst Dinge, die nicht da sind. | |
| Doch dieses Mal hatte Frank eine besondere Herausforderung. Im Morgengrauen | |
| kehrte er in die Wohnung zurück, duschte und ging zu Bett. Eine Stunde | |
| später weckte ihn sein Unteroffizier und sagte ihm, er solle seine Sachen | |
| packen – der Krieg sei vorbei. Vierzehn Stunden später befand sich Frank in | |
| New York City, während der endlose Menschenverkehr des Times Square an ihm | |
| vorbeizog. | |
| Frank Pucelik konnte mehrere Jahre lang nicht mit dem Rücken zu Tür und | |
| Fenstern sitzen. In den Besprechungen wählte er immer den sichersten Tisch | |
| in der Ecke für sich. Viele aus seinem Zug hatten Selbstmord begangen, | |
| waren an einer Überdosis Drogen gestorben oder wegen unterschiedlich | |
| schwerer Verbrechen verurteilt worden. Frank und seine Kameraden wurden | |
| abrupt aus dem Krieg abgezogen, aber der Krieg verließ sie nicht. | |
| Unglücklicherweise wird die Ukraine nach ihrem Sieg vor dem gleichen | |
| Problem stehen wie die USA nach Vietnam. Alles, was vom Krieg berührt wird, | |
| geht zugrunde und wird entstellt. Das Bewusstsein, insbesondere das | |
| Bewusstsein, kann es nicht vermeiden. Dies gilt nicht nur für das Militär, | |
| sondern auch für die Zivilbevölkerung. | |
| Der Krieg muss in all seinen Erscheinungsformen akzeptiert und bekämpft | |
| werden. Wenn das nicht anerkannt wird, wird es schwierig sein, einen Platz | |
| in der neuen Realität zu finden. Die Menschen werden dann kein Ziel haben, | |
| und schließlich wird sie der Krieg auffressen. Richtig, unser Verstand ist | |
| eine komplexe und manchmal unberechenbare Sache. Aber er kann und muss | |
| gebändigt werden. Der Verstand ist die wichtigste Waffe der gesunden | |
| Menschheit. Und egal, wie schwer der Weg auch sein mag: Wir, die | |
| ukrainische Gesellschaft, werden dieses Gedankenspiel am Ende gewinnen. Ja. | |
| Wer auch sonst, wenn nicht wir? | |
| Aus dem Englischen von Frederike Grund | |
| Seit Beginn des Krieges ist die humanitäre Organisation Rescue Now UA in | |
| und um Charkiw tätig. 150 Freiwillige arbeiten mit. Die Organisation ist | |
| auf [4][Spendengelder] angewiesen. | |
| 7 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Georgy Zeykov | |
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