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# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Nur die Vorhänge tanzen im Wind
> Tag für Tag versucht unser Autor, Menschen zum Verlassen ihrer Häuser zu
> bewegen. Die Kälte sitzt ihm im Nacken, oft kommt er zu spät.
Bild: In zerstörten Häusern sucht unser Autor nach Überlebenden
Der 35-jährige Georgy Zeykov arbeitet seit Kriegsbeginn als Freiwilliger
bei der humanitären Organisation [1][Rescue Now UA] und hilft bei der
Evakuierung in und um Charkiw, seiner Heimatstadt. Zeykov war vor dem Krieg
Unternehmer, designte Mode und Accessoires.
Bei unserer Ankunft in den Wohnräumen, unseren Einsatzorten, wirkt es für
uns manchmal so, als sei dort zuvor ein riesiges Kind herumgetobt. Als habe
es alles darin Befindliche, jede Deko, jedes Möbelstück, in seine mächtigen
Pranken genommen, hochgehoben und auf den Boden geschmettert. Unmöglich, in
so einer Zerstörung irgendetwas wiederzufinden.
Langsam betrete ich das Schlafzimmer. Der makelloseste Gegenstand in dieser
Umgebung ist mein Erste-Hilfe-Kasten, den ich mitgebracht und auf den
Nachttisch neben dem Bett gestellt habe. Das sauberste, unversehrteste
Objekt und gleichzeitig das unbrauchbarste. Die Frau, für die ich Einkäufe
mitgebracht habe, ist nirgends zu finden. Auf ihrem Bett liegen die
blutverschmierten Glasscherben des Fensters gegenüber. Eine Granate hat es
zerschmettert. Der zerrissene Vorhang tanzt im Wind wie eine Banshee aus
gruseligen irischen Märchen. Ich hebe die Kiste mit den Einkäufen hoch und
gehe zurück durch die gesprengte Tür Richtung Straße.
Auf dem Hof kommt mir ein Husky entgegen. Er mustert mich mit neugierigem
Ausdruck. Die Kiste in meinen Armen wiegt schwer. Sie ist inzwischen zu
einer Art Maskottchen für mich geworden, das ich mit mir herumtrage, ohne
es jemals loszuwerden. Ich habe eine Liste mit Namen und Adressen
potenziell evakuierbarer Menschen. Wir versuchen, sie zum Gehen zu bewegen
oder ihnen Hilfe anzubieten, wenn sie bleiben wollen. Heute war ich bereits
in zwei Häusern, in denen Menschen hätten sein sollen. Doch die Häuser
waren zerstört, die Räume verlassen.
## Wir arbeiten gegen die Zeit. Die Kälte sitzt uns im Nacken
Ich stelle die Kiste mit den Einkäufen ab und rufe den Hund vorsichtig zu
mir. Er starrt mich weiter an und bewegt sich nicht. Plötzlich zuckt der
Husky zusammen und rennt Richtung Tor, hinaus aus meinem Blickfeld. Ich
greife wieder die Kiste und folge ihm. Am Tor schaue ich mich um, aber der
Husky bleibt verschwunden. Explosionen erschrecken die Tiere. Ich hätte den
Hund gerne gerettet, aber ich habe keine Zeit, ihn einzufangen. Im Oktober
wird es schnell dunkel.
Unser Geländewagen parkt unter einem Apfelbaum. Baumkronen schützen gut vor
russischen Armeedrohnen. Für Freiwillige an der Front gibt es zwei
verbindliche Regeln. Die erste lautet: Verstecke dein Fahrzeug unter
dichtem Geäst, die zweite: Schau, bevor du aussteigst, auf den Boden unter
deinen Füßen. Einmal ist ein Freiwilliger auf eine Mine getreten. Es hat
ihn nicht umgebracht, aber er lebt nun mit einer Behinderung. Ich stelle
die Kiste auf den Rücksitz und setze mich neben den Fahrer ins Auto. Er
wirft mir einen fragenden Blick zu, ich schüttle den Kopf. Wieder kein
Erfolg.
Heute sind wir [2][in dem Dorf Torske]. Anfang Oktober haben es die
ukrainischen Truppen zurückerobert. Während die Russen das Dorf verließen,
haben sie es vermint. Seither müssen alle ununterbrochen auf ihre Schritte
achten. Die Minen besorgen mich. Sobald der Winter einsetzt und der erste
unschuldige Schnee fällt, werden wir sie nicht mehr sehen können. Das wäre
das Ende unserer Arbeit – es würde einfach viel zu gefährlich. Ich
befürchte, dass mit dem Winter die Krankheiten zunehmen werden. Halten sich
die Menschen dann in den verminten Gefahrengebieten auf, werden wir ihnen
weder Medikamente noch Brennholz gegen die Kälte bringen können. Wir
arbeiten gegen die Zeit. Das kalte Wetter sitzt uns im Nacken.
Täglich treten wir mit Menschen in Kontakt, die sich weigern, [3][evakuiert
zu werden]. Wir versorgen sie mit dem Notwendigen und versuchen sie immer
wieder zu überzeugen, doch mitzukommen. Das braucht Zeit, aber ist besser,
als die Menschen im Winter in einem Kriegsgebiet zurückzulassen. Ich kann
sie nicht einfach so aufgeben.
Unser Auto fährt an einem Haus mit einer großen Kirschplantage vorbei.
Einige der Bäume sind bereits gefällt worden, sie dienen nun als Brennholz
für den Winter. Wenn ich abgeholzte Bäume sehe, fühle ich mich unwohl. Die
Gärten und Wälder der Ukraine sind weitere Opfer dieses Krieges.
Um die Heizperiode zu überstehen, schließen sich häufig fünf oder sechs
Familien zu kleinen Gemeinschaften zusammen. Womöglich verlassen sie die
Region dann gemeinsam. Aber oft scheitern alle Absprachen, weil eine Person
sich dann doch weigert. Alle oder niemand. Wenn eine Person nicht gehen
will, könnten alle sterben. Manchmal passiert genau das mit Menschen, die
ich zuvor vergeblich zu überzeugen versucht habe.
Das Adressbuch meines Handys ist voll mit Kontaktdaten Gestorbener: Die
Nummer einer älteren Dame, die nicht evakuiert werden wollte. Der Polizist
aus Liman, der bei einer Evakuierung ums Leben kam. Ein Kollege meldet sich
nicht mehr; auch die Nummer eines anderen erinnert mich daran, dass er
irgendwann einfach verschwand. Mir geht es nicht gut, wenn ich durch diese
Kontakte scrolle. Aber ich lösche sie nicht. Die Kontakte bleiben eine Art
Gedenkstätte im Telefonbuch.
Unsere Route führt uns an den Rand des Dorfes. Momentan einer der
gefährlichsten Orte im Umkreis. Theoretisch könnten die Kämpfe dort jeden
Moment beginnen. Aber heute ist es bewölkt und regnerisch, die Drohnen
fliegen bei diesem Wetter selten. Ein Schulbus kommt uns entgegen. Als er
an uns vorbeifährt, sehen wir die Leiche eines russischen Soldaten aus der
halb geöffneten Tür des Beifahrersitzes hängen. Ein ukrainischer Panzer
gleich dahinter. Wir werden langsamer, fahren an den Straßenrand und halten
schließlich an. Der Bus ist längst fort.
Ein Militäroffizier steigt aus dem Panzer aus. Wer wir sind, was wir hier
suchen, fragt er. Als wir ihm antworten, schüttelt er den Kopf und fordert
uns auf, den Motor abzustellen. Mit der Faust schlägt er auf sein eigenes
Fahrzeug, der Motor verstummt. Er hebt den Finger, fordert uns zum
Innehalten auf. Wir hören Schüsse. Am äußersten Rand des Dorfes, unserem
Zielort, wird gekämpft. Ein weiteres Mal schlägt der Soldat auf das Metall.
Das Fahrzeug springt wieder an und übertönt dabei die Schüsse. Während der
Soldat wieder einsteigt, zeigt er auf das gegenüberliegende Ende des
Dorfes. Dort gebe es ganz bestimmt Leute zum Evakuieren.
Der Panzer fährt davon, [4][schlagartig wird es still]. Aber nicht lange:
Wo zuvor schon Schüsse fielen, fallen weitere. Nun von beiden Seiten.
Aus dem Englischen von Frederike Grund
Seit Beginn des Kriegs ist die humanitäre Organisation Rescue Now UA in und
um Charkiw tätig. 150 Freiwillige arbeiten mit. Die Organisation ist auf
Spenden angewiesen.
5 Nov 2022
## LINKS
[1] https://rescuenow.com.ua/en/home/
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Torske_(Kramatorsk)
[3] /Evakuierung-von-Cherson/!5889544
[4] /Notizen-aus-dem-Krieg/!5863825
## AUTOREN
Georgy Zeykov
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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