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# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Überall rote Blumen
> In der ukrainischen Region Donezk erinnern rote Blumen an getötete
> Zivilist:innen. Kriegsverbrechen waren schon früher russische Strategie.
Bild: Auf einem Hinterhof erinnert ein Strauß roter Rosen an ein ziviles Opfer
Der 35-jährige Georgy Zeykov engagiert sich seit Kriegsbeginn bei der
Planung und Durchführung von Evakuierungen in und um Charkiw, seiner
Heimatstadt. Er arbeitet als Freiwilliger für die humanitäre Organisation
[1][Rescue Now UA]. Georgy war vor dem Krieg Unternehmer, designte Mode und
Accessoires – er beschreibt sich selbst als „Modefreak“, dem seine äuße…
Erscheinung bis vor Kurzem noch sehr wichtig war.
Das Bett, auf dem ich liege, ist so kurz, dass ich meine Beine nicht
ausstrecken kann. Ich rieche nach Schweiß, besonders dort, wo mein Körper,
mein T-Shirt und meine Weste übereinanderliegen. Immerhin habe ich es
geschafft, mein Gesicht zu waschen und mich mit Feuchttüchern abzuwischen,
bevor ich ins Bett ging. Ich rieche mich trotzdem selbst.
Ich befinde mich in Kramatorsk, dreißig Kilometer von der Frontlinie
entfernt und fünf Meter unter der Erde. Dort blicke ich auf die parallelen
Linien der Bunkerdecke. Sie überschneiden sich nicht. Es ist eine perfekte
Adaption von Euklids Kriegsaxiom. Mit dem könnten Kriegskinder in der
Schule ein paar Grundlagen der Geometrie lernen.
Allein dieser Begriff: Kriegskinder. Was für eine schreckliche Bedeutung.
Der Krieg in der Ukraine führte zu einer der größten Vertreibungen von
Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg. Allein 1.800.000 Kinder verließen das
Land. Viele von ihnen brachten Gepäck mit, das man nicht sofort sehen kann
– [2][die Schrecken des Krieges], Ereignisse, die nicht aus der Erinnerung
gelöscht werden können. Das wird immense Folgen für und Auswirkungen auf
künftige Generationen haben.
## Keine sicheren Orte
Laut offiziellen Angaben leben heute noch 350.0000 Menschen im Donbass – in
Wirklichkeit sind es 492.000, darunter 52.000 Kinder. Es ist technisch fast
unmöglich, den Donbass durch die Heizperiode zu bringen. Das habe ich heute
erfahren. Die ganzen kritischen Schäden an der Infrastruktur machen es
undenkbar, während der Winterperiode und vor Kriegsende komfortable
Lebensbedingungen für die Menschen zu schaffen.
Die Regierung tut ihr Bestes, um das in anderen Gebieten abzufedern und
aushaltbare Bedingungen für all die Geflüchteten zu schaffen, während meine
Stiftung und ich die Menschen an sichere Orte evakuieren. Vielleicht sollte
ich mich korrigieren: relativ sichere Orte. Es gibt keinen Ort in der
Ukraine, der völlig sicher ist. Egal, wo du dich befindest. Du kannst von
einer Rakete getötet werden, selbst wenn dein Haus mitten auf einem Feld
steht und rein gar nichts in der Nähe ist.
Anfangs habe ich nicht verstanden, weshalb die ganzen zivilen Objekte so
brutal zerstört werden. Es kam mir unlogisch und sinnlos vor. Und warum so
viele zivile Opfer? Erst als ich im Donbass ankam, fand ich die Antwort.
Was ich in [3][Charkiw] gesehen habe, habe ich überall in der Region Donezk
gesehen. Zerstörte Schulen, zivile Häuser, Raketenkrater in Höfen, in denen
es keine einzige militärische Einrichtung gibt. Und Blumen. Rote Blumen –
es sind verschiedene Sorten, aber alle sind rot.
Sie stehen an den Orten, wo Menschen gestorben sind: In der Nähe des
Eingangs eines mehrstöckigen Gebäudes rauchte ein Mann eine Zigarette, als
eine Granate einschlug. Ihm blieb keine Zeit zu handeln. Nun liegen rote
Nelken auf einer Bank ganz in der Nähe.
In einem anderen Hof ein ähnliches Szenario: rote Rosen, umsäumt mit
schwarzer Schleife, stehen in einer halb abgeschnittenen
Fünf-Liter-Plastikflasche direkt auf dem Bürgersteig. Die Fahrerin hatte
nicht einmal Zeit, sich aus dem Auto zu retten, geschweige denn
auszusteigen. Die Rosen stehen nun an der Stelle, wo sie das Auto geparkt
hatte. Dann schlug die Rakete ein – nicht weit von ihr entfernt, auf dem
Spielplatz. Die junge Frau starb noch auf dem Fahrersitz an ihren
Schrapnellwunden.
Für Russland ist das ein typischer Krieg. Das wird mit einem Blick auf die
vergangenen Kriege dieses Staates sichtbar. Man könnte sagen, dass es sich
um einen Stil der Kriegsführung handelt. Eine Art Taktik oder ein Konzept.
Schlussendlich ist Russland eine autoritäre Diktatur, deren Angriffskriege
schon immer darauf ausgelegt waren, so viele Zivilist:innen wie möglich
zu töten. Nur damit die militärische und politische Führung unter dem Druck
der überlebenden Zivilbevölkerung einer Kapitulation zu nachteiligen
Bedingungen zustimmt.
Die ganze Gewalt, die ich in Charkiw und im Donbass sehe, die ganze Gewalt,
die ich in den Nachrichten in der ganzen Ukraine gesehen habe, ist dem
kriminellen Einsatz von großkalibriger Munition und Raketen geschuldet.
Munition und Raketen, die gezielt zivile Wohneinrichtungen zerstören. So
sollen Panik, Schock und Hysterie verbreitet werden.
Es soll ein Zustand geschaffen werden, in dem der Widerstandswille der
Bevölkerung auf ein Minimum zusammenschrumpft. Das ist Strategie und Taktik
– Terror und Gewalt gegen die unbewaffneten Bürger:innen der Ukraine,
wenn man ihre Armee nicht besiegen kann. Schaut auf den Krieg in
Tschetschenien, in Syrien und jetzt schaut auf die Ukraine. Das Herzstück
der russischen Kriegstaktik sind Kriegsverbrechen.
Aus dem Englischen von Frederike Grund
Seit Beginn des Krieges ist die humanitäre Organisation Rescue Now UA in
und um Charkiw tätig. Sie ist auf Spendengelder angewiesen.
An dieser Stelle veröffentlichen wir regelmäßig Berichte aus dem Alltag in
der Ukraine. Die Texte geben die subjektive Sicht der Autor:innen auf
die Ereignisse ungefiltert wieder.
20 Aug 2022
## LINKS
[1] https://rescuenow.com.ua/en/home/
[2] /Hilfesystem-fuer-junge-Fluechtlinge/!5864417
[3] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5874267
## AUTOREN
Georgy Zeykov
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kriegsverbrechen
Ostukraine
Serie: Notizen aus dem Krieg
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