# taz.de -- Notizen aus dem Krieg in der Ukraine: Können wir noch träumen? | |
> Eine Freundin beerdigt ihren Vater. Ein Mann soll rekrutiert werden. | |
> Kinder sammeln Geld für die Armee. Und alle haben Angst vor dem Winter. | |
Bild: Sohn und Nichte spielen zwischen Weizenfeldern | |
Schon einmal hatte Iryna Kramarenko uns [1][Notizen aus dem Krieg | |
geschickt]. Darin beschrieb die 34-Jährige, die früher als Übersetzerin | |
arbeitete und jetzt in einem Hotel jobbt, dass sie noch vor dem 24. | |
Februar, dem Tag, als Russland in die Ukraine einmarschierte, die Drohungen | |
ernst nahm und in die Westukraine, nach Riwne, flüchtete. | |
## 17. Juni | |
Letzte Woche kam die beste Freundin meiner Schwägerin aus Polen zurück. | |
Dorthin war sie geflohen. Wie viele von uns ist sie sehr dankbar für all | |
die Hilfe, die uns die Polen geben. Doch sie wollte und konnte nicht mehr | |
bleiben, zumal plötzlich ihr Vater gestorben war. | |
So kam sie mit ihrer 8-jährigen Tochter zu seiner Beerdigung nach Gostomel, | |
von wo sie im Februar geflohen war. Ihr Vater war dort geblieben. Ein paar | |
Wochen später wurde sein Haus bombardiert und brannte aus. Er überlebte, | |
Nachbarn halfen ihm aus dem Feuer. Dann zog er zu seinem Schwiegersohn und | |
dessen gehörlosem Vater nach Irpin. Wenige Wochen später wurde auch diese | |
Wohnung von einer Granate getroffen; die Wucht hat die Bodenplatte | |
verschoben. Alle drei überlebten die russische Besatzung. Dann starb ihr | |
Vater. | |
Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für sie ist, zu seiner Beerdigung | |
zurückzukehren und all diese Zerstörung zu sehen, die Russland in ihr Leben | |
gebracht hat. Jetzt muss sie in dieser ruinierten Wohnung in Irpin leben, | |
sich um ihre Tochter und den gehörlosen Schwiegervater kümmern und ihren | |
Mann unterstützen, der seine Arbeit verloren hat und nun als Taxifahrer | |
jobbt. Welche Arbeit sie für sich finden kann und wann, ist noch unklar. | |
Vom Staat bekommen sie keine Unterstützung oder Entschädigung. | |
## 15. Juli | |
Heute hatten wir Gäste in unserer Wohnung: Militärs. Sie kamen, um meinen | |
Mann aufzufordern, [2][der ukrainischen Armee beizutreten]. Mein Mann und | |
ich waren nicht zu Hause, nur mein Sohn. Unter Tränen rief er an: „Die | |
Soldaten suchen Papa; sie wollten ihn in den Krieg bringen.“ | |
Vor einem Monat erzählte mir meine Freundin Kate von demselben Besuch. Sie | |
hat zwei kleine Kinder. Wenn ihr Mann in den Krieg zieht, müssten sie ihr | |
Geschäft schließen. Er ist der einzige Arbeiter in ihrer Firma und sie wird | |
nicht in der Lage sein, die ganze Arbeit zu erledigen, alleine mit zwei | |
kleinen Kindern. | |
Wir haben diesen Krieg nicht begonnen, Russland hat es getan. Da ich zwei | |
Cousins und viele Freunde bei der Armee habe, weiß ich, welchen Preis wir | |
zahlen müssen, um am Leben zu sein, in der demokratischen Ukraine zu leben | |
und unsere Muttersprache zu sprechen. Aber wenn die Soldaten zum | |
Rekrutieren zu dir nach Hause kommen, kannst du nur in Panik geraten. Panik | |
im stillen Wissen, dass sich dein Leben wegen dieses Krieges auf eine | |
weitere Art und Weise verändern kann. Nicht alle von uns sind mutig, nicht | |
alle von uns haben sich entschieden, Soldaten zu werden, auf dem nackten | |
Boden zu schlafen und zu töten. | |
Und sicherlich möchte niemand getötet werden oder einen geliebten Menschen | |
verlieren. Aber welche Wahl haben wir? Wenn wir als Nation überleben | |
wollen, müssen wir kämpfen, auch wenn es bedeutet, mit den eigenen Händen | |
zu kämpfen, die noch nie zuvor eine Waffe gehalten haben. | |
## 22. Juli | |
Der nächste Winter kommt bestimmt. Und wahrscheinlich wird es ein wirklich | |
kalter Winter, wenn man bedenkt, wie wenig Gas und Kohle wir in unseren | |
Lagern haben. Heute ist es das am meisten kommentierte Thema unter den | |
Menschen, die ich kenne. | |
Ukrainer und Ukrainerinnen, die in Privathäusern leben, haben mehr | |
Möglichkeiten als jene, die in Wohnkomplexen leben. Sie können sich | |
Festbrennstoffkessel kaufen und so unabhängig von der Gasversorgung werden. | |
Was aber wird sein, wenn man in einem Wohnkomplex mit Gaszentralheizungen | |
wohnt? | |
Befürchtet wird zudem, dass Russen die Kesselhäuser in die Luft sprengen, | |
die unsere Heizungen mit heißem Wasser versorgen. Sie haben es in | |
Tschernihiw und anderen Städten getan, also werden sie es anderswo auch | |
tun. Ich wohne nicht weit von der belarussischen Grenze. Das bedeutet, dass | |
wir sehr wenig Zeit haben, um eine Rakete abzufangen, wenn unsere Feinde | |
uns aus dem Norden bombardieren. | |
Derzeit versuchen unsere Behörden herauszufinden, wie der Schaden repariert | |
werden kann, den die Russen Tschernihiw, Sumy, Charkiw, Mykolajiw und | |
vielen kleineren Städten zugefügt haben. Die Russen zerstörten die Rohre, | |
die Kesselhäuser und sogar die Wärmekraftwerke. Sie haben es mit Absicht | |
getan und wir alle wissen, dass sie in der kalten Jahreszeit die | |
verbleibende Infrastruktur ruinieren werden. | |
## 26. Juli | |
Da ich nicht mehr in der Nähe von Kiew wohne, musste ich meinen Sohn an | |
einer neuen Schule anmelden. Gestern fragte eine Lehrerin, welche | |
Unterrichtsform die Eltern bevorzugen: vor Ort oder online. 52 Prozent | |
wollten, dass ihre Kinder zur Schule gehen und damit die Möglichkeit haben, | |
sich bei Alarm in einem Luftschutzkeller zu verstecken. 48 Prozent wollen | |
Onlineunterricht, damit sie mit ihnen zusammen sind, wenn die Sirenen | |
heulen. | |
Wir wissen doch, dass die Russen Kindergärten, Schulen und Universitäten | |
bombardieren; erinnert euch nur an das Theater in Mariupol, das sie | |
absichtlich zerstörten, obwohl vor und hinter dem Theater auf Russisch groß | |
„Kinder“ stand. Es waren keine Soldaten im Keller des Theaters, nur Frauen | |
und Kinder. Man kann daraus nur ableiten, dass Schulen zum Ziel Nummer eins | |
für Bombenangriffe werden. | |
Während alle Eltern dieses Risiko kennen, meinen einige, dass ein | |
Luftschutzbunker in der Schule besser ist als gar kein Schutzraum. Denn | |
leider gibt es nicht genügend Schutzräume für die Bevölkerung, da sie alle | |
in der Sowjetzeit gebaut wurden und für weniger Leute ausgelegt waren. | |
Ich habe mich für Onlineunterricht entschieden, weil ich mit meinem Kind in | |
einer Notunterkunft in der Nähe unseres Hauses sein möchte bei Alarm. | |
Außerdem tun mir die Lehrer leid. Sie wollen Kinder unterrichten und nicht | |
mehrmals am Tag mit ihnen in den Bunker rennen. | |
## 1. August | |
Meine Schwiegermutter hatte ein Gespräch mit ihrer Schwester, die in den | |
1980er Jahren als Studentin ins heutige Sankt Petersburg zog. Heute ist sie | |
dort angesehene Dekanin an der Universität. Früher besuchte sie alle paar | |
Jahre ihre Verwandten in der Ukraine; ich traf sie 2011 und sie hatte vor, | |
2014 wiederzukommen. Aber dann war der Maidan und die Revolution in der | |
Ukraine; sie stornierte ihren Flug. Sie konnte nicht verstehen, warum wir | |
mit dem damaligen Präsidenten Janukowitsch so unzufrieden waren. Jetzt | |
scheint sie unfähig zu begreifen, worum es in diesem Krieg geht. Sie will | |
nicht darüber reden. | |
Die beiden Schwestern standen sich vor dem Krieg ziemlich nahe, sprachen | |
fast jede Woche miteinander, aber als der Krieg anfing, hüllte sie sich | |
fast einen Monat lang in Schweigen und schrieb nur einen Satz: „Seid ihr | |
alle am Leben?“ | |
Zuerst dachten wir, sie spricht nicht mit uns, weil sie sich schämt für | |
das, was ihr Land unserem antut. Aber sie war unerreichbar, weil sie in | |
Dubai Urlaub machte. Auch ihr Sohn und seine Familie hatten eine tolle Zeit | |
am Meer. „Übrigens, hast du etwas zu essen?“, fragte sie nur noch. | |
Tatsächlich haben wir das, zumindest dieses Jahr noch. | |
Die Schwester möchte mit ihren Verwandten in der Ukraine in Kontakt | |
bleiben, aber sie tut so, als wäre nichts passiert. Entweder man redet mit | |
ihr über Nebensächliches und nicht über den Krieg oder das Gespräch ist | |
beendet. | |
Eine andere Verwandte meines Mannes, eine Ukrainerin, die in Russland lebt, | |
prahlte mit der Erhöhung ihrer Rente. „Wenn ihr nur aufhören würdet, euch | |
zu wehren, würdet ihr auch mehr bekommen.“ Das bedeutet für uns: Hört auf | |
zu kämpfen; hört auf, Ukrainisch zu sprechen; vergesst es, so wie ihr eure | |
Geschichte vergessen sollt; leugnet die Verbrechen des Russischen Reiches | |
und der UdSSR; der Holodomor, die große, absichtlich herbeigeführte | |
Hungersnot, hat nie stattgefunden; hört auf, von Unabhängigkeit zu träumen. | |
Ihr sollt stattdessen für Moskau und seinen Anführer arbeiten, den man sich | |
nicht aussuchen kann. Ihr werdet keine Rechte haben, aber hoffentlich | |
können diejenigen, die überleben, eine etwas höhere Rente kriegen. | |
Ich wünschte, sie könnte Menschen auf der Krim, in Donezk, in Luhansk | |
fragen, ob sie mit der russischen Besatzung zufrieden sind. Aber ich | |
glaube, wer jahrzehntelang Sklave ist, denkt halt nur ans Essen. Alles | |
andere gehört der Russischen Föderation. Dein Leben inklusive. | |
## 5. August | |
Wovon wir träumen? Träumen wir überhaupt? Können wir noch träumen? | |
Es ist unbestreitbar, dass sich in den letzten fünf Monaten jeder einzelne | |
Tag wie der letzte angefühlt hat. Wir leben immer noch in diesem Albtraum. | |
Wir machen Pläne, aber wir verlassen uns nicht darauf. Von Tag zu Tag wird | |
klarer, dass bis zur Erfüllung des größten Traums aller Ukrainer – unseres | |
Sieges, der Frieden bringen wird – nichts anderes möglich sein wird. Was | |
nützt es, neue Bücher, Kleidung und andere Gegenstände zu kaufen, wenn man | |
sich nicht sicher ist, ob sie in einem Koffer passen? | |
Heute habe ich gelesen, dass ein 8-jähriger Junge aus Tschernihiw | |
ukrainische Lieder sang und fast 2.000 Euro für unsere Armee sammelte. | |
Kürzlich spielte ein 10-jähriges Mädchen mit Fremden auf den Straßen von | |
Kiew Dame und sammelte so 600 Euro. Sogar Kinder erkennen, dass der | |
sicherste Weg, dass ihre Träume wahr werden, darin besteht, der Armee Geld | |
zu geben. | |
Je schneller wir gewinnen, desto früher können wir beginnen, in Frieden zu | |
leben. Hoffentlich mit allen Menschen, die uns lieb sind. | |
Aus dem Englischen von Waltraud Schwab | |
12 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Iryna Kramarenko | |
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