# taz.de -- Binnenflüchtlinge in der Ukraine: Die Getriebenen | |
> Rund 4,5 Millionen Geflüchtete gibt es in der Ukraine, viele leben in | |
> Wohnheimen. Doch Einrichtungen benötigen die Räume wieder für ihren | |
> Unterricht. | |
Bild: Leben in der Turnhalle: Lviv im März 2022 | |
In der Ukraine gibt es derzeit rund 4,5 Millionen [1][registrierte | |
Binnenflüchtlinge]. Auf jede Region der Ukraine kommen aktuell zwischen | |
80.000 und 200.000 Geflüchtete. Über die ersten Monate des Krieges wurden | |
sie vor allem in Bildungseinrichtungen und deren Wohnheimen untergebracht. | |
Das war die einfachste Variante, weil Schulen, Kindergärten und | |
Universitäten am 24. Februar geschlossen wurden. Jetzt wollen die Behörden | |
den Präsenzunterricht allerdings wieder aufnehmen – und eine andere Lösung | |
für die Geflüchteten finden. | |
Diese Pläne stoßen bei manchen Evakuierten auf Widerstand. Sie haben Stress | |
und Trauer durchlebt und sich an die neuen Lebensbedingungen angepasst. | |
Jetzt stehen wieder Veränderungen bevor. | |
Im Juni hatte die Regierung angekündigt, dass die Menschen in den Schulen | |
und Wohnheimen der Universitäten bleiben könnten, solange keine | |
alternativen Unterkünfte zur Verfügung gestellt werden könnten, die | |
lebenswert, gedämmt und saniert sind. | |
## Eine Etage für Geflüchtete | |
Aktuell prognostiziert die ukrainische Vize-Regierungschefin Irina | |
Weretschuk für den Herbst, dass rund eine halbe Million weiterer | |
Geflüchteter in der Westukraine ankommen werden. Das dürfte eine | |
Herausforderung werden. Die Behörden erhalten jetzt schon Beschwerden von | |
Geflüchteten, die zwangsgeräumt werden oder für ihre Unterkunft Miete | |
zahlen sollen. | |
Das Gymnasium im Dorf Knjagininkeok bei Luzk hat seit vergangenem März | |
155 Geflüchtete aufgenommen. Diese wurden nun angewiesen, sich eine neue | |
Unterkunft zu suchen, da die Eltern ihre Kinder wieder in den | |
Präsenzunterricht schicken wollen. „Wir sind hier und fühlen uns wie im | |
Paradies. Aber uns ist klar, dass das nur vorübergehend sein kann“, sagen | |
die Geflüchteten. Der jüngste ist fünf Monate, der älteste 93 Jahre alt. | |
Aleksandr Sopin, der mit seiner Familie aus Werchnetorezke im Donbass, im | |
Osten der Ukraine, hierher gekommen ist, kann nirgendwohin zurück. Das | |
Dorf ist zerstört, von russischen Truppen besetzt und sein Haus | |
niedergebrannt. Er ist einer der wenigen, die es geschafft haben, ein neues | |
Zuhause zu finden: Ein Haus zur Miete in einem anderen Dorf in der Nähe von | |
Luzk. Doch das ist eher die Ausnahme. Am härtesten trifft es die | |
Rentner*innen. In ihrem Alter wieder bei null anzufangen, ist schwer. | |
Die Pädagogische Hochschule Luzk, die auch Flüchtlinge beherbergt, plant | |
keine Räumung: Sie hat 83 Geflüchteten eine Etage in einem Wohnheim | |
zugewiesen. Die Student*innen verteilen sich auf die anderen Stockwerke. | |
Alina Ternowakskaja aus Mariupol hofft, mit ihren zwei Kindern, ihrem Mann | |
und ihrer Mutter im Wohnheim der Hochschule für Kunst und Kultur in Luzk | |
bleiben zu können. Sie sagt, dass die Familie keinen anderen Ort habe, an | |
den sie gehen könne. Geflüchtete aus dem Wohnheim vertreiben, das will | |
niemand. Der Rektor Taras Wojtowisch spricht von Plänen, die Unterkünfte | |
„kompakter“ zu machen. Das heißt, in die Zimmer Etagenbetten zu stellen. | |
## Holzhäuser und Ferienlager | |
Schon den ganzen Sommer über halten die Behörden nach alternativen | |
Unterkünften für die Geflüchteten Ausschau: Private Wohnungen, kommunale | |
Einrichtungen sowie Schulen, Kindergärten oder Klubs, die geschlossen sind. | |
Die Behörden betonen, dass diejenigen, die selbst für sich sorgen können, | |
auch selbstständig nach einer Unterkunft suchen sollen. 60 Prozent der | |
Geflüchteten in der Region Wolhynien seien erwerbsfähig. | |
„Niemand hat gesagt, dass ein Wohnheim ein dauerhaftes Zuhause sei. Es | |
werden noch mehr Menschen kommen. Im Osten gibt es keine Heizung. Im Gebiet | |
Donezk ist es jetzt Pflicht, sich evakuieren zu lassen“, sagt Oksana Gobot | |
von der Verwaltung Wolhyniens. | |
Eine Wohnung zu kaufen, ist nach dem 24. Februar utopisch geworden. In Lwiw | |
zum Beispiel ist der Quadratmeterpreis in einem Neubau im Mai um 40 Prozent | |
auf 1.000 Dollar gestiegen – für 90 Prozent der Geflüchteten eine | |
aberwitzige Summe. | |
Doch es gibt Alternativen. Beispielsweise werden Geflüchteten Holzhäuschen | |
in Ferienlagern für Kinder angeboten. Die Bedingungen zum Wohnen sind | |
komfortabel. Doch der Weg zur Schule, zu Geschäften und Apotheken ist weit. | |
Mit dem Internet gibt es Probleme, was auch das Lernen erschwert. | |
## Freiwillige renovieren große Gebäude | |
Eine andere Möglichkeit: Die Ukrainer*innen stärker zu motivieren, | |
Geflüchtete bei sich zu Hause aufzunehmen. Derzeit erhält eine Familie, die | |
Migranten aufnimmt, monatlich eine Entschädigung von 450 Griwna | |
(umgerechnet 12 Euro) pro Person. Im Herbst, wenn die Heizsaison beginnt, | |
verdoppelt sich dieser Betrag. | |
Eine weitere Option ist der Bau von Siedlungen mit Fertighäusern, | |
sogenanntes modulares Bauen. Die Häuser haben eine Fläche von 20 | |
Quadratmetern, sind möbliert und an Internet und Telefonie angeschlossen. | |
Die Menschen können hier zwei Jahre lang kostenlos wohnen und müssen sich | |
dann entscheiden, ob sie umziehen oder das Minihaus kaufen. Nicht jede*r | |
möchte in solchen Städten leben – besonders diejenigen, die früher in | |
Privathäusern gewohnt haben. „Die Menschen geben sich sogar mit nur einem | |
Zimmer zufrieden, aber ein Garten und Wald sollten in der Nähe sein“, sagt | |
Vize-Regierungschefin Weretschuk. Sie räumt ein, dass nicht allen eine | |
eigene Wohnung angeboten werden könne. | |
Ein Teil der Geflüchteten wird weiter ins Ausland geschickt. Dabei | |
[2][helfen Freiwillige und Stiftungen], vor allem kirchliche. Andere sind | |
damit zufrieden, in private Unterkünfte auf dem Land zu ziehen. Eine | |
weitere Lösung ist die Renovierung verlassener Wohnungen. In | |
Iwano-Frankiwsk setzten Freiwillige zusammen mit Geflüchteten einen alten, | |
leer stehenden Schlafsaal des Instituts für Öl und Gas instand. 61 Familien | |
können darin Platz finden. | |
Die Regierung hat ambitioniertere Pläne. Sie will beschädigte Infrastruktur | |
mit einem Gesamtbudget von fast 17,4 Milliarden Euro wiederaufbauen – die | |
Summe bezieht sich auf einen Zeitraum bis Mitte des Jahres 2022. Das | |
Ministerkabinett will in 16 Regionen der Ukraine neue Unterkünfte für | |
Binnenflüchtlinge bauen, jeweils 2.000 Wohnungen. Zudem plant der Staat, | |
insgesamt 32.000 neue Wohnungen von privaten Baufirmen errichten zu lassen. | |
## Tropfen auf den heißen Stein | |
Der stellvertretende Leiter des Büros des Präsidenten, Kyrylo Timoschenko, | |
sagte unlängst, dass der Staat den Geflüchteten für eine Zeit lang | |
Wohnungen zur Verfügung stellen werde, die er von privaten Baufirmen | |
gekauft habe. „Sobald ihre zerstörten Wohnungen wiederhergestellt sind, | |
[3][werden die Menschen dorthin zurückkehren]. Und wir werden auch [4][dem | |
Militär], das seit Jahren dafür ansteht, vorübergehend neue Unterkünfte | |
geben“, versicherte Timoschenko. | |
Diese Wohnungen sollen in fünf bis sechs Monaten in relativ sicheren | |
Regionen gebaut werden. Die Behörden versprechen komfortables Wohnen mit | |
Schulen und Parkplätzen. Doch es ist ein Tropfen auf den heißen Stein, | |
angesichts der Not der Flüchtlinge. Und es bleibt vorerst Zukunftsmusik. | |
Wer noch in Turnhallen, Schulen und Kindergärten wohnt, braucht jetzt | |
Wohnraum. | |
Aus dem Russischen: Barbara Oertel | |
11 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Juri Konkewitsch | |
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