# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Wir gehorchen nicht schweigend | |
> Cherson im Süden der Ukraine wurde am Anfang des Krieges von Russen | |
> besetzt. Hier schreibt eine Frau über den Alltag, die Gefahren, den | |
> Widerstand. | |
Bild: Russischer Soldat vor Zivilisten im südukrainischen, von Russland besetz… | |
Ruslana N. ist 45 Jahre alt; sie hat zwei Kinder und lebt in Cherson, der | |
von Russland besetzen Stadt in der Südukraine. Mehr persönliche Details | |
kann sie von sich nicht preisgeben. Sie hat Angst. | |
Die Region um Cherson wurde rasant schnell von Russland besetzt. Und ebenso | |
schnell verschwand die Möglichkeit zu fliehen. Zuerst wurden die Ausfahrten | |
nach Mykolaijiv über Posad-Pokrovske, dann durch Stanislav und | |
Oleksandrivka abgeschnitten. Dann wurden die Straßen in Richtung Kryvyi Rih | |
abgeschnitten, von denen die letzte über die berüchtigte Davidsbrücke | |
führte, wo die Kolonne von Zivilisten beschossen wurde. Meine Kollegin war | |
in dieser Kolonne, sie und ihre kleine Tochter hatten das Glück, am Leben | |
zu bleiben, aber sie schweigt darüber, was dort passiert ist. Man kann | |
jetzt nur über die Krim und das Territorium der Russischen Föderation in | |
die baltischen Länder ausreisen. Das sind mindestens 600 Dollar und vier | |
Tage im Bus. Für eine durchschnittliche Familie ist das unrealistisch. | |
## Dörfer | |
Es sind jetzt viele Russen in der Region, und sie fühlen sich wie die | |
Hausherren. In den Dörfern geschehen schreckliche Dinge. Nach Osokorivka, | |
(es ist derzeit befreit, wenn ich mich nicht irre), kamen zusammen mit dem | |
Militär auch Ärzte, und sie diagnostizierten Massenvergewaltigungen. Wie | |
eines der Opfer sagte, spielten Alter und Aussehen für die Eindringlinge | |
keine Rolle, sie vergewaltigten auch sehr alte Frauen. | |
Das schöne, an der Mündung gelegene Dorf Oleksandrivka existiert nicht | |
mehr, es wurde dem Erdboden gleichgemacht. Der Leiter der Gemeinde | |
Stanislavska und die Einwohner und Einwohnerinnen von Stanislav sind immer | |
noch mit der Evakuierung und Bestattung der Leichen beschäftigt, alles auf | |
eigene Gefahr, da der Beschuss nicht nachlässt. Es gibt Straßen, an denen | |
kein einziges ganzes Haus mehr steht. | |
Es gibt viele solcher Dörfer in der Region, und jedes hat seine eigene | |
Geschichte der Schrecken des Krieges. | |
## Cherson | |
Meine wunderbare Stadt im Süden, meine Heimat. Die Tragödie der Besetzung | |
Chersons begann sofort und blutig mit der Schlacht um die Antoniv-Brücke. | |
Die Vororte Chersons, Antonivka und Kindiyka, wurden mehrere Tage lang | |
beschossen, und dann war es einige Tage lang nicht möglich, sich auf die | |
Evakuierung der Bewohner zu einigen, die den Beschuss überlebt hatten. Die | |
Menschen flohen auf jede erdenkliche Weise. Darunter mein Bekannter, er und | |
seine Familie mussten unter Beschuss fliehen, weil von ihrem Haus nur noch | |
eine Mauer übrig war. Seitdem wird er ohnmächtig, wenn er laute, schrille | |
Geräusche hört. | |
Und dann drangen Panzer in die Stadt ein. Und die Tragödie von | |
Buskovyj-Park geschah: Dort gingen die Stadtbewohner mit Molotowcocktails | |
auf die Panzer los. Sie wurden in Sekundenschnelle mit einem großkalibrigen | |
Maschinengewehr zerfetzt. Lange ließen die Russen niemanden die Leichen | |
abholen. Der örtliche Priester, Serhii Chudynovych, begrub selber die | |
Helden, mit Hilfe anderer Männer, in einem Massengrab direkt dort im Park. | |
In den ersten Tagen der Besetzung von Cherson wurden Häuser in der Tarle- | |
und Perekopska-Straße mit schweren Waffen beschossen. Es sollte die Rache | |
für den Widerstand in Buskovyj-Park sein. | |
## Kommunikation | |
Ende April wurde die Kommunikation in der Region unterbrochen. Ich werde | |
nie den klebrigen Horror vergessen, meine Verwandten nicht anrufen zu | |
können, um herauszufinden, ob sie noch leben. Denn das ist jetzt unsere | |
Realität. Wir fuhren in die Außenbezirke der Stadt, weil es dort noch | |
Empfang aus dem Gebiet Mykolajiv gab. Dann wurde die Verbindung | |
wiederhergestellt, aber nur, um sie kurz danach wieder abzuschalten. | |
Seither haben wir eigentlich nirgendwo Verbindung, selbst die | |
Festnetztelefonverbindungen innerhalb der Stadt funktionieren nicht. | |
Internet ist nur für diejenigen verfügbar, die schon vor dem Krieg bei | |
kleinen lokalen Anbietern waren. Die Leute, aber auch Einrichtungen, die | |
noch Netzzugang haben, löschen die Passwörter ihrer WLAN-Verbindungen, | |
damit Nachbarn es auch nutzen können. | |
Auf der zentralen Suvorov-Straße ist an einer Stelle noch schwacher Empfang | |
vom Netzwerkbetreiber Lifecell, dort sitzen sehr viele Leute auf den | |
Bänken, auf den Bordsteinen. | |
## Banken und Geld | |
Die Raiffeisen-Bank Aval ging fast sofort, ohne den Leuten die Möglichkeit | |
zu geben, Geld zu überweisen oder abzuheben. Die Sparkasse hielt bis | |
zuletzt durch, bis bewaffnete Soldaten kamen und sagten: „Jetzt gehört sie | |
uns.“ Wir werden der Privatbank für immer dankbar sein, dass sie immer noch | |
alle Kraft aufbietet, um ihre Kunden nicht im Stich zu lassen. In den | |
Filialen kann man Bargeld abheben. Die Warteschlangen sind unglaublich | |
lang, aber es ist möglich. Als uns das Mobilnetz genommen wurde, fand der | |
Support der Bank eine Möglichkeit, sich ohne SMS zu authentifizieren. | |
Es gibt jetzt einen neuen Beruf in Cherson: den Bargeldabheber. Schafft man | |
es nicht, sich in die Warteschlange einzureihen, überweist man ihm einen | |
Betrag. Er holt das Geld ab und übergibt es einem, behält dafür aber 2 bis | |
10 Prozent des Betrags. | |
## Medizinische Versorgung | |
Die russische Welt („Russki mir“) beraubte uns der Apotheken und | |
Medikamente. Medikamente werden an Straßenrändern und auf Basaren aus den | |
Kofferräumen der Autos unter der sengenden Sonne verkauft. Oder über | |
Telegram-Gruppen. Um zu betonen, dass die Arzneien von hoher Qualität sind, | |
fügt man in Telegram-Gruppen „ukrainisch“ oder „nicht Krim“ hinzu. | |
Wenn, Gott bewahre, etwas Ernstes passiert, werden alle Verwandten und | |
Freunde des Patienten gleichzeitig in allen Ecken der Stadt nach | |
Medikamenten suchen. Und es ist nicht abzusehen, dass man sie findet. Es | |
gab eine Zeit, in der eine Flasche Wasserstoffperoxid – das braucht man zur | |
Desinfektion – bis zu hundert Griwna kostete. Das ist zehnmal mehr als | |
früher. | |
## Schüsse überall | |
In den ersten Maitagen konnte man auf dem Bürgersteig am Park vorbeigehen | |
und plötzlich Scharfschützen im Gras liegen sehen. Und gleichzeitig fuhr | |
ein gepanzerter Personentransporter mit Maschinengewehren die Straße | |
entlang. Es lohnt sich nicht, irgendwo abzubiegen, das Tempo zu | |
beschleunigen, es kann missverstanden werden, und Sie werden einfach | |
erschossen. | |
Irgendwann Ende April haben die Russen das Zentrum der Stadt mit einer | |
Rakete getroffen, um die Streitkräfte der Ukraine dafür verantwortlich zu | |
machen. Kein Fenster blieb heil. Ein Eisenstück landete in der Nähe meines | |
Hauses; zum Glück habe ich dort nicht übernachtet. Am nächsten Morgen bin | |
ich so schnell zu meinem Haus gelaufen, dass ich dachte, mein Herz | |
explodiert. Zum Glück war die Druckwelle in die andere Richtung gegangen, | |
sogar die Fenster waren noch ganz. | |
## Kein Licht | |
Heute ist der 105. Tag, an dem ich das Licht nicht angemacht habe. Russen | |
fahren im Dunkeln mit schwerem Gerät durch die Stadt und leuchten mit einem | |
starken Suchscheinwerfer in die Fenster, wenn diese beleuchtet sind. | |
Das Haus zu verlassen ist gleichbedeutend mit dem Gang in den Weltraum. | |
## Menschen verschwinden | |
Man muss auch alle Kontakte und Mails und sonstige digitale Spuren aus dem | |
Telefon entfernen, da das Telefon jederzeit überprüft werden kann und Sie | |
aufgrund dessen, was die Russen auf dem Telefon bei der Überprüfung finden, | |
festgehalten werden können. Menschen verschwinden. Einige werden später | |
freigelassen, andere befinden sich seit mehr als einem Monat in | |
Gefangenschaft und ihr Schicksal ist unbekannt. | |
Selbst sehr junge Menschen werden gefangen genommen und verschwinden. Ein | |
18-jähriger Junge wurde nach einer der Kundgebungen verhaftet. Sie | |
entließen ihn genau einen Monat später aus der Gefangenschaft. | |
## Widerstand | |
Trotz all dieses Schreckens gibt es Widerstand! Wir gehorchen nicht | |
schweigend. Zuerst gab es Massenkundgebungen, und zwar sehr oft. Menschen | |
mit Fahnen marschierten auf Schützenpanzer und Bewaffnete zu. Dann wurde | |
eine Kundgebung beschossen, mehrere Personen schwer verletzt. Jetzt | |
geschieht der Widerstand im Verborgenen, aber er ist da. Flugblätter werden | |
an Wände geklebt, Striche in den Farben unserer Flagge über Mauern gezogen, | |
Bänder in unseren Farben in Bäume gehängt. | |
Neulich fuhr ein bekannter Freiwilliger aus Cherson, Onkel Grisha, mit dem | |
ukrainischen Song „Schlag zu“ auf voller Lautstärke durch den Markt in | |
Dnipro. Straßensänger singen ukrainische Lieder, aus Geschäften dröhnt | |
ukrainische Musik. [1][„Oj u luzi chervona kalyna“] – „Oh, da ist ein r… | |
Schneeball auf der Wiese“ – wird an Sommerabenden in den Höfen von | |
Hochhäusern gesungen, so dass man nicht weiß, woher der Gesang kommt. | |
Cherson beweist jeden Tag, dass wir Ukrainer sind, wie es nur möglich ist | |
unter Bedingungen des totalen Terrors. | |
Unser einziger Traum, der einzige von uns allen, ist die Chersons Befreiung | |
und der Sieg. | |
Aus dem Ukrainischen Ljuba Danylenko | |
22 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=ZztmQsSAqfo | |
## AUTOREN | |
Ruslana N. | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Proteste in der Ukraine | |
Ostukraine | |
Kriegsgräuel | |
Besatzung | |
Serie: Notizen aus dem Krieg | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ukraine | |
Russen | |
Weizen | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Ukraine-Krise | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Notizen aus dem Krieg: Ohne Hoffnung geht's nicht | |
Was hilft gegen die Allgegenwärtigkeit des Krieges? Unsere Autorin | |
zeichnet, schreibt und spaziert durch ihre neue Heimatstadt Lwiw. | |
Notizen aus dem Krieg: Überall rote Blumen | |
In der ukrainischen Region Donezk erinnern rote Blumen an getötete | |
Zivilist:innen. Kriegsverbrechen waren schon früher russische Strategie. | |
Notizen aus dem Krieg in der Ukraine: Können wir noch träumen? | |
Eine Freundin beerdigt ihren Vater. Ein Mann soll rekrutiert werden. Kinder | |
sammeln Geld für die Armee. Und alle haben Angst vor dem Winter. | |
Notizen aus dem Krieg: Lieder, die zum Himmel schweben | |
Unsere Autorin hat sich an die Gefahr verminter Böden gewöhnt. Sie probt | |
ukrainische Hochzeitslieder, während Bomben fallen. | |
Über den Umgang mit Russ*innen: Putins giftige Saat | |
Ein Treffen ukrainischer und deutscher Journalist*innen in Berlin wird | |
zum Desaster. Eine Frage dabei: Wie weit muss die Isolation Russlands | |
gehen? | |
Abkommen über Getreideexporte: Weg frei für den Weizen | |
Separat unterzeichnen Kiew und Moskau Vereinbarungen zum Getreideexport. | |
Hafen-Blockaden sollen fallen, die EU lockert dafür Sanktionen. | |
Russlands Angriff auf die Ukraine: Eskalation im Kampf der Worte | |
Russland will nicht mehr nur den Osten und Süden der Ukraine erobern. | |
Stattdessen spricht das Land indirekt von ihrem „Verschwinden“. | |
Arbeitgebergesetz in der Ukraine: Neoliberale Politik mitten im Krieg | |
Ein neues Gesetz verschlechtert die Rechte von Arbeitnehmern in der | |
Ukraine. Das sorgt für Kritik von Linken und Gewerkschaften. | |
Notizen aus dem Krieg: Ich habe keine Angst vor dem Tod | |
Nach dem Coronavirus der Krieg. Die 21-jährige Ukrainerin Polina Fedorenko | |
über die Zeit, die eigentlich die beste ihres Lebens sein sollte. | |
Notizen aus dem Krieg: Stille in einer Zeit des Lärms | |
Der Verstand schafft sich seine eigene Realität. Er verwandelt | |
Kriegssituationen in geistige Memes. Dann klingt ein Raketenwerfer wie ein | |
Wasserfall. | |
Notizen aus dem Krieg: Es hilft mir, wütend zu sein | |
Früher glaubte sie, sie könne ihr Leben gestalten. Aber im Krieg habe man | |
keine Kontrolle mehr über das Leben, schreibt Iryna Kramarenko. |