# taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Hippies im Regen | |
> Der Lwiwer Alik Olisevych ist 64 geworden. Seiner Mutter muss er ein | |
> Krankenbett organisieren. Schwierig, denn das könnte auch ein Soldat | |
> brauchen. | |
Bild: Seine „Kanone“ bringt Menschen zum Strahlen: Alik Olisevych an sein… | |
Geboren wurde Alik Olisevych 1958, er war Teil der Hippiebewegung in Lwiw. | |
Die Hippies galten den KP-Funktionären in Kiew und Moskau als „bourgeoise | |
Nationalisten“, „antisowjetische Agitatoren“ oder einfach als | |
„geisteskrank“. Vor die Musterungskommission trat Alik Olisevych mit | |
wehendem Haar und Kriegsbemalung. Die Kommission hielt ihn für | |
„wehrunwürdig“ und wies ihn in die Psychiatrie ein. Nach einem Monat kam er | |
wieder frei und schlug sich als Nacktmodell an der Kunstakademie durch. | |
Seit den achtziger Jahren arbeitet er als Beleuchter im Opernhaus. Über | |
Alik Olisevych und das Leben der Hippies von Lwiw erzählt Andrej Kurkow in | |
seinem Roman „Jimi Hendrix live in Lemberg“ (Diogenes 2014). | |
## 1. September | |
Michail Gorbatschow ist tot. Vorgestern ist er gestorben. Hier in der | |
Ukraine war er in den letzten Jahren [1][nicht mehr beliebt], denn | |
Gorbatschow hat die Krim-Annexion 2014 gerechtfertigt. | |
Doch ganz gleich, was Gorbatschow als alter, einsamer und leider auch | |
verbitterter Mann gesagt hat, das Wichtigste ist, dass er in den 1980er | |
Jahren die Lager und Gefängnisse geöffnet und die politischen Gefangenen | |
freigelassen hat. | |
Den Dissidenten Andrei Sacharow kennen alle im Westen. Er kam 1986 nach | |
fast sieben Jahren Verbannung frei. Der Bürgerrechtler Wjatscheslaw | |
Tschornowil saß siebzehn Jahre hinter Gittern, Mychajlo Horyn saß zwölf | |
Jahre. Sie kämpften für eine unabhängige Ukraine. Mustafa Dschemiljew | |
setzte sich für die Rückkehr der Krimtataren in ihre angestammte Heimat | |
ein. Er kam im Dezember 1986 frei. Mit Gorbatschows [2][Glasnost und | |
Perestroika] konnten Unabhängigkeitsbewegungen endlich öffentlich und legal | |
arbeiten. Die Unionsrepubliken konnten einen eigenständigen Weg | |
einschlagen, und zum Schluss ist das Sowjetreich eben zerfallen. | |
Putin will nun alles rückgängig machen. Er will die Ukraine mit Panzern, | |
Raketen und Terror in eine neue Sowjetunion zwingen. Und die Straflager | |
füllen sich auch wieder. Es gab einen Spruch über die Sowjetunion: Die | |
sowjetischen Menschen kann man in drei Gruppen einteilen. Es gibt die, die | |
schon im Lager waren, und die, die gerade im Lager sind. Und dann gibt es | |
die, die noch ins Lager kommen werden. Mit Gorbatschow änderte sich das. | |
Und mit Putin ändert sich das erneut. Jeden Tag [3][wandern wieder Menschen | |
hinter Gitter]. Es ist verrückt! Wenn jemand in der Ukraine schlecht redet | |
über Gorbatschow, dann weiß er einfach nicht, wie es früher einmal war. | |
## 4. September | |
Meine Mutter ist seit einer Woche im Krankenhaus. Ihr war unwohl, sie war | |
unglaublich schwach. Ich habe sie einweisen lassen. Sie ist 87 Jahre alt, | |
ein biblisches Alter für die Ukraine. Es ist erstaunlich, dass sie noch so | |
selbstständig leben kann. Wir wohnen Wand an Wand. Jeder hat seine eigene | |
Wohnung. Sie hilft mir, ich helfe ihr. Meine Mutter hat einen ziemlich | |
großen Garten mit Tomaten, Kartoffeln und Gurken. So ein Garten war immer | |
wichtig, heute aber ist er noch wichtiger: Es gibt immer etwas zu essen. Er | |
ist wie eine Lebensversicherung. | |
Von der medizinischen Versorgung kann man das leider nicht sagen. Ich hatte | |
Mühe, meine Mutter ins Krankenhaus zu bringen. Theoretisch gibt es auch bei | |
uns ein Hausarztsystem und der Hausarzt sollte die Einweisung veranlassen. | |
Aber was ist, wenn keiner kommt? Wenn es keinen richtigen Hausarzt gibt? | |
Meine Mutter hat keinen. Irgendwie habe ich es geschafft, dass sie eines | |
der wenigen Betten bekam. | |
Die Ärzte haben sich meine Mutter lange angeschaut und sie haben sich wohl | |
gedacht: Was ist wichtiger, so ein 87 Jahre altes Mütterchen oder ein | |
verwundeter Soldat, der bald wieder an die Front kann? Es liegen viele | |
verletzte Soldaten dort. Die Leute sind hart geworden. Die Ärzte auch. Und | |
das ist noch nicht alles. | |
Für jede Diagnose, jede Röntgenaufnahme, jede Blutanalyse muss man zahlen. | |
Überall wird kassiert, gern in Valuta. Und das Krankenhaus stellt nur | |
Rezepte aus. Die Medizin kaufst du dann am Kiosk. Wenn es welche gibt und | |
du sie noch bezahlen kannst. Das ist so wie in Russland. Da unterscheiden | |
wir uns leider kein bisschen. | |
## 10. September | |
Ich habe heute Geburtstag, bin nun 64 Jahre alt. Ich bekomme eine kleine | |
Rente, arbeite weiterhin im Opernhaus und bin in der Stadt aktiv. Heute | |
besonders. Denn es sind gerade die [4][Europäischen Tage des Kulturerbes] | |
und ich habe eine Besuchergruppe an die Orte geführt, wo wir uns als | |
Hippies zu Sowjetzeiten getroffen haben. | |
Ich habe erzählt, was wir gemacht haben und wie wir uns gewehrt haben gegen | |
die Staatsgewalt und die sowjetische Ideologie. Dreißig Interessierte waren | |
zu Beginn dabei, es hat allerdings in Strömen geregnet. Ich habe sie zur | |
Dominikanerkirche geführt, in die Galerie Dzyga und natürlich in den | |
Heiligen Garten am alten Karmeliterkloster. Da standen wir mit unseren | |
Regenschirmen. Im Klostergarten haben 1968 Hippies die „Republik Heiliger | |
Garten“ ausgerufen, es gab eine Regierung, und der 17-jährige Ilko Lemko | |
wurde Präsident. | |
Ich war 1968 noch zu jung. Erst später bin ich dazugestoßen und wurde dann | |
Informationsminister. Es war natürlich viel Spaß dabei. Aber wir wollten | |
auch zeigen, dass wir uns selbst regieren können. Das Kloster war 1945 | |
geschlossen worden und wurde zur Lagerhalle umfunktioniert. Der | |
Klostergarten wurde unser Freiraum. Wir trafen uns, hörten Musik, tauschten | |
Samisdat aus, verbotene Literatur. Ilko Lemko gründete 1975 die Band „Super | |
Vuijki“, sie traten dort auf. Wir wurden als asozial beschimpft, aber man | |
ließ uns machen. Erst 1982 löste sich die Republik auf. Der Druck war zu | |
groß geworden. Einige hatten auch Familien, andere waren fortgezogen. Doch | |
unsere Republik war vermutlich einmalig in der Sowjetunion. | |
Wir waren jedenfalls alle klitschnass, von den dreißig Interessierten haben | |
fünfzehn durchgehalten und mit denen bin ich ins Armenische Café, auf | |
Ukrainisch „Virmenka“. Seit 1979 auch ein Treffpunkt für alle | |
Unangepassten. Ein vergleichbares Café gab es damals vielleicht noch in | |
Leningrad, das „Saigon“. Das Virmenka ist mein Wohnzimmer. Alle haben mir | |
gratuliert. Und danach bin ich dann noch zur Arbeit ins Opernhaus. | |
## 23. September | |
Heute saß ich wieder in der Oper hinter meinem Scheinwerfer. Er ist groß | |
und schwarz und sieht aus wie eine Kanone. Aber er bringt nur Menschen zum | |
Strahlen. Es gab ein besonderes Konzert, ein Geburtstagsfest zu Ehren von | |
Solomiya Kruschelnytska. Sie war die größte ukrainische Sopranistin und | |
stand auf allen großen europäischen Bühnen, in Warschau, Paris, Mailand. | |
Von Lwiw ging sie nach Wien, dann nach Italien, wo sie heiratete. Sie trat | |
mit Caruso auf und wurde gefeiert wie später die Callas. Ein dummer Zufall | |
war es, dass sie im Spätsommer 1939 in einem Karpatendorf Urlaub machte. | |
Als die Rote Armee in den Osten Polens einmarschierte, saß sie, eine | |
italienische Staatsbürgerin, in der Falle. Sie blieb in Lwiw, bewohnte zwei | |
Zimmer in dem Haus, das ihr die Sowjets abgenommen hatten. Ihren Besitz in | |
Italien eignete sich die sowjetische Botschaft an. 1952 starb sie verarmt | |
in Lwiw. | |
Unser Opernhaus trägt heute ihren Namen und wir feierten ihren 150. | |
Geburtstag. Es wurden ausnahmsweise mehr Karten verkauft als sonst. | |
Eigentlich sind seit Kriegsbeginn ganze Ränge leer, damit bei Luftalarm | |
alle schnell in den Keller kommen und dort auch Platz finden. Es gab Musik | |
und Arien von Puccini, Verdi, Bizet, Wagner, das Ballett hat getanzt, ein | |
Italiener dirigiert. Es lag eine richtige Festtagsstimmung in der Luft, | |
seit Langem das erste Mal. Und Gott sei Dank gab es keinen Luftalarm. | |
Vielleicht war es vorläufig das letzte Mal mit der Feiertagsstimmung. Wie | |
es mit dem Opernhaus weitergeht, ist unklar. Unser Gehalt wurde gekürzt und | |
wird viel zu spät ausgezahlt. Das Geld reicht nicht mehr. Und am 15. | |
Oktober beginnt die Heizsaison. Dann werden die Heizungen hochgefahren, | |
aber es gibt viel zu wenig Gas. Und Schulen und Krankenhäuser müssen auch | |
beheizt werden. Vielleicht bleiben die Temperaturen noch mild. Dann kommen | |
wir ein paar Tage länger ohne Heizung aus. Aber wenn es kalt wird, was | |
dann? | |
Meine Mutter wurde wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Es geht ihr etwas | |
besser. Sie kann wieder laufen. Meine Schwester Tanja, sie ist aus Kiew | |
gekommen, kümmert sich um sie. Sie hat unbezahlten Urlaub genommen. Aber | |
bald muss sie wieder zurück. Ich hoffe, meine Mutter kommt durch den | |
Winter. Zehn Jahre war sie, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Und | |
jetzt, am Ende ihres Lebens, erlebt sie wieder einen Krieg. Doch wir | |
treiben die Russen wieder über die Grenze. Wir werden bis zum Schluss für | |
unsere Unabhängigkeit kämpfen. Nicht die Ukraine, Russland wird zerfallen. | |
Nach Gesprächen protokolliert von Thomas Gerlach | |
30 Sep 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Nachrufe-auf-Michail-Gorbatschow/!5876092 | |
[2] /Ex-Praesident-der-Sowjetunion-gestorben/!5875148 | |
[3] /-Nachrichten-zum-Ukraine-Krieg-/!5883528 | |
[4] https://culture.ec.europa.eu/de/cultural-heritage/initiatives-and-success-s… | |
## AUTOREN | |
alik olysvich | |
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