| # taz.de -- Notizen aus dem Krieg: Das Bild vom Baum und der Genozid | |
| > Immer wieder wird der Alltag unserer Autorin vom Heulen der Sirenen | |
| > unterbrochen. Doch sie versucht, so gut es geht, weiterzumachen. | |
| Bild: Wein und Käse während eines Luftangriffs | |
| Kateryna Smirnowa ist 25 Jahre alt und kommt aus Kiew. Zu Beginn des | |
| Krieges sind ihre Eltern und ihr Bruder zeitweise nach Lwiw gereist, leben | |
| jetzt aber auch wieder in Kiew. Smirnowa arbeitet als freiwillige Helferin | |
| in den umliegenden Dörfern und hilft beim Wiederaufbau der zerstörten | |
| Häuser mit. Neben dieser Arbeit und ihrem Job als Übersetzerin spielt | |
| Smirnowa Schlagzeug in einer ukrainischen Folkband und Theater. Für die | |
| Band- und Theaterproben reist sie regelmäßig nach Lwiw. | |
| Montag, der 24. 10. | |
| [1][In den letzten Tagen verbringe ich] viel Zeit damit, für ein Honorar | |
| Interviews zu übersetzen. Es sind Interviews, die mit ukrainischen | |
| Geflüchteten aus Deutschland geführt wurden. Ich finde die Interviews mit | |
| den Kindern interessanter als die mit den Erwachsenen. Die Kinder gehen | |
| inzwischen auf deutsche Gymnasien, während sie gleichzeitig noch an den | |
| ukrainischen Schulen am Online-Unterricht teilnehmen. Zusätzlich erhalten | |
| sie Sprachunterricht und verbringen ihre restliche Zeit mit schwerfälligen | |
| bürokratischen Abenteuern, in denen sie sich selbst zurechtfinden müssen. | |
| Der Interviewer: „Hast du ein eigenes Zimmer? Wo gehst du hin, wenn du mit | |
| deinen Gedanken allein sein willst?“ | |
| Ein 14-jähriges Mädchen aus Charkiw: „Im Schlaf habe ich Zeit für meine | |
| Gedanken.“ | |
| „Gibt es etwas, wofür du gerne mehr Geld hättest? Möchtest du Dinge haben, | |
| die du dir momentan nicht leisten kannst?“ | |
| „Ich kann mir immer vorstellen, das zu haben, was ich mir wünsche. Das ist | |
| für mich im Grunde dasselbe.“ | |
| „Weißt du schon, wie lange du in Deutschland bleiben willst? Hast du vor, | |
| in nächster Zeit in die Ukraine zurückzugehen?“ | |
| „Wir haben im Moment keinen Ort, an den wir zurückkehren können. Ich finde, | |
| wir sollten positiv denken. Was auch immer geschieht, es passiert (sie | |
| stottert) zum Besten … (sie stottert) aus einem bestimmten Grund. Ich weiß | |
| es nicht.“ | |
| „Was ist nötig, damit die deutsche Gesellschaft die Ukraine und die | |
| Ukrainerinnen besser versteht?“ | |
| „Ich bin sehr dankbar, man hat uns so viel geholfen […] Aber ich möchte, | |
| dass die Leute, die noch nie Raketen gehört haben, mir nicht sagen, ich | |
| soll gleich zurückkehren.“ | |
| [2][Ich] höre auf zu arbeiten, als der Akku meines Laptops leer ist. Ich | |
| kann ihn nicht aufladen, denn seitdem die Raketen- und Drohnenangriffe | |
| zunehmen, haben wir viele Stromausfälle. Ich werde in der Nacht noch einmal | |
| versuchen, an den Interviews weiterzuarbeiten. Ich hoffe, dass ich es bis | |
| zum Abgabetermin schaffe. | |
| Dienstag, der 25. 10. | |
| Der deutsche Bundespräsident ist in Kiew angekommen. Die ukrainische | |
| Eisenbahngesellschaft schmückte sein Zugabteil mit Schwertlilien (Iris). | |
| Ich liebe sie dafür. Iris-T ist ein deutsches Luftabwehrsystem. Das | |
| brauchen wir. Der Fliegeralarm ertönt. Ein Foto mit dem deutschen | |
| Bundespräsidenten, der während einer Pressekonferenz in einem | |
| Luftschutzkeller sitzt. | |
| In den deutschen Medien ist eine Debatte darüber entbrannt, ob man den | |
| Friedenspreis des Deutschen Buchhandels an einen Autor wie Serhij Zhadan | |
| hätte verleihen dürfen, weil dieser die russischen Soldaten als „Abschaum“ | |
| und „Unrat“ bezeichnete und damit nicht Frieden verbreite, sondern Hass | |
| schüre. | |
| Ein ukrainischer Schriftsteller, der über die Grausamkeiten der russischen | |
| Soldaten schreibt, der Kriegsverbrechen als Kriegsverbrechen bezeichnet und | |
| an die friedensstiftende Kraft der Literatur glauben möchte, ist einer, der | |
| den Hass verstärkt?! Alles klar. | |
| Es ist jetzt besonders wichtig, dass wir Crowdfunding betreiben, um unseren | |
| Soldaten an der Front warme Kleidung, Nachtsichtgeräte, Autos und | |
| Powerbanks zu besorgen. Die Regierung braucht zu lange dafür, also müssen | |
| wir schnell sein. | |
| Wenn man anfängt, auf Ukrainisch zu googeln „Wie bringt man …“, erhält … | |
| folgende Vorschläge: | |
| Wie bringt man eine Kamikaze-Drohne runter? | |
| Wie eine Atomrakete? | |
| Wie Fieber? | |
| Prioritäten eben … | |
| „Und wir singen im Atomschutzbunker / Hurra, diese Welt geht unter! / | |
| Hurra, diese Welt geht unter! / Hurra, diese Welt geht unter! / Und wir | |
| singen im Atomschutzbunker / Hurra, diese Welt geht unter! / Hurra, diese | |
| Welt geht unter! / Auf den Trümmern das Paradies“ (K.I.Z. feat. Henning | |
| May) | |
| Mittwoch, der 26. 10. | |
| Gemeinsam mit anderen Sängerinnen und Sängern bereite ich mich auf eine | |
| Aufführung für Weihnachten vor. Wir arbeiten mit kirchlichen und | |
| traditionellen Volksliedern, den „Kolyadkas“. In ihren Refrains wird Gott | |
| gepriesen und von Gottes Freude gesungen. Erst kürzlich sangen wir ein | |
| Lied, das von Tauben handelt, die die Welt erschaffen. Sie sitzen auf einer | |
| Kiefer und eine Taube muss in den großen Ozean tauchen, um die Sonne zu | |
| holen. Eine andere Taube, um die Sterne zu holen, und eine dritte Taube für | |
| den Mond. | |
| Unsere Proben finden in Lwiw, in einem weitläufigen Raum mit großen | |
| Fenstern statt. Ich nehme die großen Fenster erneut wahr, als der Luftalarm | |
| wieder losgeht. In letzter Zeit wurden wir so oft durch den Alarm | |
| unterbrochen, dass wir heute beschließen, nicht direkt zu reagieren. Zwar | |
| ist Lwiw, wo ich mich gerade aufhalte, auch ein Ziel der Raketenangriffe, | |
| trotzdem fühlt es sich surreal an, wenn ich mit meiner Familie, die in Kiew | |
| ist, während der Proben Nachrichten hin- und herschreibe. | |
| „Heilige Maria, wo hast du Jesus versteckt?“, singen wir. | |
| „Ich habe schon fünf Angriffe gezählt“, schreibt mein Bruder. „Es gibt | |
| wahnsinnig viele Angriffe von Drohnen.“ | |
| „Bist du gut versteckt?“, frage ich ihn via Telegram. „Mehr oder weniger�… | |
| antwortet er, und ich rolle mit den Augen. | |
| „Heilige Maria, hast du Jesus in die weiten Felder geschickt oder in die | |
| tiefen Wälder?“, singen wir. | |
| „Schon wieder“, schreibt mein Bruder. „Ich habe den Kaffee auf dem Herd | |
| gelassen. Ich werde später wohl einen neuen aufsetzen müssen.“ | |
| Ich kann nicht still sitzen. Ich singe angestrengt und konzentriert alles, | |
| was ich singen muss. Die Kolyadkas haben sich mit dem Rhythmus verflochten, | |
| der sich aus unserem Klatschen und unseren Seufzern ergibt. Wir singen eine | |
| komplizierte Mehrstimmigkeit, die viel Konzentration erfordert. | |
| Meistens nehmen wir unsere Proben auf, um sie uns dann anzuhören und | |
| interessante Kombinationen festzuhalten, die auf natürliche Weise | |
| entstehen. Bei einigen unserer Aufnahmen ist eine Sirene zu hören. Ich höre | |
| mir diese Stellen mehrmals an. Am Ende der Sirene gibt es einen schönen | |
| Dur-Ton. Der Ton des Alarms unterscheidet sich leicht von Stadt zu Stadt. | |
| Irgendwie wirkt er in kleineren Städten höher und hysterischer auf mich. | |
| „Die Nachbarn schrieben, dass unsere Fenster vibriert haben“, schreiben | |
| meine Eltern. Ich weiß, dass sie die Luftangriffe gerade in der | |
| Metro-Station aussitzen. Ich bin froh, dass ich meinen Winterschlafsack bei | |
| ihnen gelassen habe. Den nehmen sie jetzt mit, denn so ein [3][Angriff] | |
| kann Stunden dauern. | |
| „Oh in Kiew, oh auf seinen Hügeln / frohlockt die Erde, ein Sohn ist | |
| geboren / Dort läuft eine Herde wilder schwarzer Pferde / frohlockt die | |
| Erde, ein Sohn ist geboren / Niemand kann die wilden schwarzen Pferde | |
| zähmen / frohlockt die Erde, ein Sohn ist geboren“ (Verse aus einem | |
| Weihnachtslied aus der Region Riwne in der Ukraine) | |
| Ich bin gestern direkt eingeschlafen, nachdem ich zu Hause angekommen bin. | |
| Ich träumte, dass ich mit Freunden und meiner Mutter in einem riesigen | |
| Blumenbeet irgendwo in Kiew arbeite. Wir pflegten stundenlang das | |
| Blumenbeet, ohne uns um einen möglichen Luftangriff zu sorgen. Irgendwann | |
| beschlossen wir doch, das Beet zu verlassen, um uns in einem Keller zu | |
| verstecken. In diesem Moment flog ein Schwarm von Flugzeugen über unsere | |
| Köpfe und warf Bomben ab. Wir beeilten uns, die nächstgelegene | |
| Metro-Station zu finden, aber wo wir waren, gab es keine. | |
| Schließlich versteckten wir uns in einer Art Untergrundwohnung, und meine | |
| Mutter begann sofort, Details in der Wohnung zu kritisieren. Ich wachte mit | |
| einem Gefühl brennender Wut auf, weil ich sehe, wie die Bomben auf meine | |
| Heimatstadt fallen, und ärgere mich über meine Mutter, die inmitten des | |
| Angriffs Zeit für das Alltägliche findet. | |
| Perfektionismus inmitten eines Genozids. | |
| Wir lesen einen Artikel darüber, wie man sich im Falle eines nuklearen | |
| Angriffs verhalten sollte, und schreiben Kommentare darüber, warum Putin in | |
| dem Artikel mit Großbuchstaben geschrieben wurde. | |
| Perfektionismus inmitten eines Genozids. | |
| Top-Ten-Online-Kurse, die man herunterladen und belegen kann, während man | |
| den Luftangriff in einem Luftschutzkeller aussitzt. Wer von uns hat sich | |
| nicht schon einmal Gedanken über die langen unproduktiven Stunden des | |
| Luftangriffs gemacht, hmm? | |
| Perfektionismus inmitten eines Genozids. | |
| Die ukrainische Eisenbahn veröffentlicht eine Entschuldigung: Aufgrund des | |
| verstärkten Raketenangriffs kommt es bei manchen Zügen zu Verspätungen von | |
| bis zu 15 Minuten. Es tut uns leid, dass unsere Bahnhöfe weiterhin als | |
| Schutzbunker fungieren. | |
| Perfektionismus inmitten eines Genozids. | |
| „Hallo, ich habe einen Termin um 13 Uhr. Haben Sie während des | |
| Fliegeralarms geöffnet oder soll ich den Termin verschieben?“ | |
| Perfektionismus inmitten eines Genozids. | |
| Es ist ein Zeichen dafür, dass die Demokratie noch funktioniert, wenn | |
| Ukrainerinnen und Ukrainer anfangen, in den Kommentarspalten miteinander zu | |
| streiten. Ein freies Land mit freien Menschen, in dem jeder seine Meinung | |
| äußert. Ja, wir betreiben Multitasking und haben noch Zeit und Energie, um | |
| zu entscheiden, ob die Marketingstrategie einer bestimmten Marke nicht | |
| versucht, die Zeiten des Krieges zu hypen, und ob wir sie deswegen | |
| boykottieren sollten oder nicht. | |
| Donnerstag, der 27. 10. | |
| Seit 7 Uhr morgens habe ich Phantomalarm im Kopf. Als ich endlich einen auf | |
| der Straße und gleichzeitig auf drei Telefonen meiner Freunde höre, bin ich | |
| erleichtert. Obwohl ich nicht sagen kann, ob es der Anfang oder das Ende | |
| eines Luftangriffs ist, denn die Signale sind die gleichen. Ich schaue mir | |
| die Karte zu den Luftangriffen auf der App an und sie zeigt, dass das ganze | |
| Land betroffen ist. Ich checke meinen Familien-Telegramchat. Meine Mutter | |
| hat gerade ein Bild von einem feuerroten Baum in der Nähe der Schule | |
| geteilt, die wir besucht haben. „Oh, schön“, schreibt mein Vater. „Schö… | |
| schreibt mein Bruder. Auch ich kommentiere: „Schön.“ | |
| Aus dem Englischen von Sara Rahnenführer | |
| 2 Nov 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kateryna Smirnowa | |
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