Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Borodjanka nach dem russischen Abzug: Menschliche Schutzschilde
> Wie verhält man sich gegenüber Menschen, die wochenlang unter russischer
> Besatzung gelitten haben? Während man selbst in Sicherheit war?
Bild: Eine Anwohnerin sammelt ihre Habseligkeiten aus einem völlig zerstörten…
Borodjanka. Bis zum russischen Großangriff auf die Ukraine hatte ich von
diesem Städtchen, 60 Kilometer von Kiew entfernt, noch nie gehört. Das
änderte sich, als Anfang März ein russisches Kampfflugzeug eine Bombe auf
eins der Hochhäuser dort abgeworfen hatte. Jeder der Orte in der Region
Kiew hat seine Besonderheiten.
[1][Butscha assoziiert man vor allem mit den Gräueltaten], die russische
Soldaten an der Zivilbevölkerung verübt haben. Bei Hostomel denkt man an
die Kämpfe um den Flughafen und die Zerstörung des größten Frachtflugzeuges
der Welt. Und bei [2][Borodjanka an die russische Bombardierung von
Hochhäusern] – von neunundzwanzig Stockwerken müssen mindestens acht
abgetragen werden
Während der Okkupation von Borodjanka [3][war ich in der Westukraine].
Eines Abends sah ich beim Nachhausekommen einen Mann, der auf mich wirkte
wie ein Saboteur (Argwohn ist nur eines der Kriegssyndrome) – er sah sich
die ganze Zeit um, schaute in die Innenhöfe.
Am nächsten Tag traf ich ihn in einem der Kurse für Erste Hilfe und
Kampftraining: Miroslaw aus Borodjanka. Wie durch ein Wunder hatte er es
geschafft, sich selbst und seine Mutter unter dem Lärm der feindlichen
Bomber und Explosionen aus der Stadt herauszubringen. Miroslaw bemühte
sich, sich an positiven Dingen festzuhalten. Alles Schwere konnte man nur
zwischen den Zeilen lesen. Erst sprach er über Blumen aus seinem Garten in
Borodjanka, am Ende über eine befreundete Familie unter den Trümmern eines
Hauses. Sie könnten noch leben, man müsste sie retten.
Dann versank er ins Grübeln. Sie waren schon einige Tage unter den Trümmern
begraben und damals, Mitte März, schien eine Bahnfahrt nach Borodjanka ganz
und gar unmöglich.
Aber Anfang April wurde die Region Kiew befreit. Mein neuer Freund sammelte
Hilfsgüter und brachte sie bei der ersten möglichen Gelegenheit nach
Borodjanka. Einige Wochen darauf fuhr er erneut los.
Bei seiner zweiten Reise Mitte April fuhr ich mit. Viele Orte und Objekte
waren vermint, man beseitigte immer noch Trümmer. Die Stadt ist nach wie
vor von der Außenwelt abgeschnitten, es gibt keinen Strom. Bislang
funktionieren nur kommunale Einrichtungen und Ausgabestellen für humanitäre
Hilfe. Eine offensichtliche Bedrohung gab es dort nicht mehr.
Aber wie ein großer schwarzer Schatten hing sie über allem: den zerbombten
Hochhäusern, einigen verwahrlosten Einheimischen, die ihr Essen immer noch
auf Feuern in den Innenhöfen kochen und erzählten, wie sie sich ängstlich
in ihre Keller verkrochen hatten, um nicht von den russischen Soldaten
entdeckt zu werden. Über die Begegnungen mit ihnen hat hier jeder seine
eigene Geschichte.
Einen Keller kann ich nicht vergessen. Hier lebten noch im März Menschen.
Ihre Sachen blieben zurück, als ob sie dorthin zurückkämen. Aber sie kommen
nicht zurück. Einige von denen, die sich dort versteckten, leben nicht
mehr. Ein Bombentreffer hat in diesem Haus den ganzen Eingang bis zum
Keller zerstört …
Alle diese Städte und Dörfer im Kiewer Gebiet, in die der „russische
Frieden“ kam, Borodjanka, das ich bis dahin nicht gekannt hatte – sie
wurden zu menschlichen Schutzschilden zwischen den Besatzern und Kiew. Sie
wurden schwer getroffen und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen und mich
dazu verhalten soll.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA
im September als Dokumentation heraus.
14 May 2022
## LINKS
[1] /Nach-dem-Massaker-in-Butscha/!5843396
[2] /Tote-Zivilisten-im-Ukraine-Krieg/!5848477
[3] /Flucht-in-die-Westukraine/!5839807
## AUTOREN
Olena Makarenko
## TAGS
Kolumne Krieg und Frieden
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kyjiw
Kriegsverbrechen
Kolumne Krieg und Frieden
Militär
Kolumne Krieg und Frieden
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wirtschaft im Ukraine-Krieg: Leere Regale sind nur ein Symptom
Wirtschaftlicher Mangel im Krieg weist häufig auf starke Kämpfe in einer
Region hin. So ist es auch bei der Salzmine Artemsol in der Ostukraine.
Finanzhilfe für ukrainische Streitkräfte: Briefmarken als Bitcoins
Die ukrainische Post hat mehrere Briefmarken mit Kriegsmotiven
herausgebracht. Die Menschen stehen dafür Schlange – und finanzieren damit
die Armee.
Treibstoff-Engpässe im Ukraine-Krieg: Begehrte Liter
Benzin ist schwer erhältlich. Das ist für Zivilisten schon lästig. Für
Armee und kritische Infrastruktur aber ist es hochproblematisch.
+++ Nachrichten im Ukrainekrieg +++: Finnland will Nato-Beitritt
Finnlands Führung verkündigt das Beitrittsgesuch zur Nato. Deutschlands
Außenministerin Baerbock begrüßt die mögliche Erweiterung.
Notizen aus dem Krieg: „Durch das Loch im Vorhang“
Fünf Tage lang versteckte sich Maria Tarasenko mit ihrer Familie vor den
russischen Soldaten in Butscha. Der Bericht einer Überlebenden.
Folteropfer in der Ukraine: „In meinem Kopf war nur noch Nebel“
Als russische Soldaten die Stadt Irpin besetzten, flüchtete Wjatscheslaw
Pritulenko erst in den Keller des Elternhauses – und wurde dann fast
ermordet.
Massaker in Butscha: Zwischen Minen und Toten
Die Bilder von Leichen in Butscha gehen um die Welt. Unsere Autorin hat vor
Ort mit den dort lebenden Menschen gesprochen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.