# taz.de -- Theater in Karl Valentins Echokammer: Tomatensoße zum Weltuntergang | |
> Dem Wortzerklauberer Karl Valentin widmet Claudia Bauer einen Abend am | |
> Residenztheater München. Mit Unsinn und Tiefsinn kämpft er gegen den | |
> Untergang. | |
Bild: Die Valentin-Ähnlichen schieben sich auf die Bühne im Residenztheater M… | |
Sterben? Lieber nicht! Gerade hat er seine Miete bezahlt. Da wär es blöd, | |
schon vor Monatsende abzutreten. Ewig leben? Ginge auch. Aber dann bitte | |
nicht als er selbst. Denn: „Ich existiere ja nur, um den Untergang zu | |
vermeiden.“ Lukas Rüppels Gesicht wirft Falten bei diesen Überlegungen; aus | |
Sorge, aber vor allem deshalb, weil es auf einen bühnenhohen Vorhang | |
projiziert ist, der rund ist wie eine Tortenhaube und gewellt wie Sahne. | |
Dieser feine Komödiant findet genau den richtigen Ton für die besondere | |
Dialektik eines Karl Valentin, der sich mit Unsinn aus der Schwermut | |
rettete und sich mit Tiefsinn aus dem kleinbürgerlichen Alltagssumpf zog. | |
Und das war ja eine der Fragen, mit der man vor der Premiere von Claudia | |
Bauers „Valentiniade“ am Münchner Residenztheater schwanger ging: Wird sich | |
ihre oft grelle, grimassierende Komik als zu grob für den | |
Weltstadt-mit-Herz-Neurotiker erweisen, oder gelingt ihr ein Kunststück wie | |
mit ihrem Ernst Jandl-Abend „humanistää!“ am Volkstheater Wien, der in den | |
letzten Monaten so gut wie alles an Einladungen und Preisen abgeräumt hat, | |
was irgend geht? | |
Die Untertitel der beiden Produktionen – „eine abschaffung der sparten“ | |
damals und dort, „Sportliches Singspiel mit allen Mitteln“ hier und heute �… | |
lassen kaum Zweifel an Bauers Entschlossenheit, das ganz große Regiebesteck | |
auszupacken: Livemusik und Maskenspiel, Körperkomik, Sprach- und | |
Gesangeskunst satt. | |
## In einer ausgebombten Geisterstadt | |
Dabei beginnt der Abend über den sprachphilosophischen „Wortzerklauberer“ | |
(Alfred Kerr) für Bauer-Verhältnisse fast filigran und vergleichsweise | |
düster. Das Gerüst, unter dem die Musiker Michael Gumpinger, Leo Gmelch und | |
David Paetsch sitzen, ist schwarz, der Tortenhaubenvorhang von einem | |
vergilbten Weiß, und wenn sich Valentins Orchestermusiker zum zweiten Mal | |
streiten, tun sie dies vor dem Bild einer ausgebombten Geisterstadt. | |
Lediglich die Innenaufnahmen aus dem Pennymarkt in der Preysingstraße 42 | |
bringen etwas Farbe ins Spiel. Trügerischerweise. Denn dort stand früher | |
das Kabarett „Bunter Würfel“, in dem der halb verhungerte [1][Karl | |
Valentin] 1948 nach einem Auftritt vergessen wurde und sich der Legende | |
nach die Lungenentzündung zuzog, an der er starb. Und ausgerechnet hier, | |
zwei Schritte vom eigenen Tod entfernt, begegnen wir ihm jetzt, dem | |
Spaßmacher trotzdem und erst recht. Mit einer Collage aus längst Gemeingut | |
gewordenen und aus unbekannteren Texten, die der Dramatiker Michel Decar | |
klug mit selbstgeschriebenen hypochondrischen Valentin-Innenschauen | |
verknüpft hat. | |
Dies und das Kunstbairisch, das das achtköpfige Ensemble spricht, rücken | |
die Figur für Valentin-Kenner wie -Neulinge in eine Halbdistanz, die einen | |
frischen Blick ermöglicht. Und so macht es auch Gumpingers jazzig-swingend | |
von bekannten Melodien abhebende Musik, seine Songs und Couplets. | |
Diese Hommage an den dürren Mann und Darsteller seiner selbst ist im | |
schönsten Sinne eigen-artig, weniger brüllend lustig als verschroben | |
komisch und musikalisch nachgerade brillant. Geflügelte Worte wie „Kunst | |
kommt von Können, sonst hieße es ja Wunst“ und „Fremd ist der Fremde nur … | |
der Fremde“ werden zu Ohrwürmern, chorisch gesprochen und geschmettert von | |
Myriam Schröder, Katja Jung, Pia Händler, Isabell Antonia Höckel, Nicola | |
Mastroberardino, Florian von Manteuffel, Max Rothbart und Lukas Rüppel, | |
die sich anfangs als linkisches Grüppchen Valentin-Ähnlicher auf die Bühne | |
schieben, angetan mit Fracks und (teils auf Zylinderhöhe gestreckten) | |
Melonen, langen Nasen und Hosen, die am Ende gefallen sind. | |
## Porsche Carreras im Starnberger See versenken | |
Auch Valentins Bühnenpartnerin Liesl Karlstadt geistert durch diese | |
Echokammer eines sterbenden Gehirns, das sich selbst dann noch an der | |
Vorstellung erfreuen kann, Porsche Carreras im Starnberger See zu versenken | |
– ebenso „sehr zu empfehlen!“ wie der Genuss von Makkaroni mit Tomatensau… | |
zum Weltuntergang. „Und wenn ich Ihnen noch was empfehlen darf …: mischen | |
Sie sich bloß nicht ein! Mischen Sie sich in die Nichteinmischung tief | |
hinein. Mischen Sie groß mit beim Nichteinmischen!“ | |
Valentins verschlungener Humor hat anarchische Künstler wie Herbert | |
Achternbusch, Christoph Schlingensief oder Elfriede Jelinek geprägt, die | |
gerade in [2][„Sonne, los jetzt!“] Erpel sterben und Gletscher schmelzen | |
ließ, in die sich das Münchner Original schon fast hundert Jahre zuvor | |
empathisch hineinversetzt hat. Seinen „Ententraum“, aus dem das lyrische | |
Ich erwacht, bevor es den Wurm verspeisen kann, lassen Bauer und Gumpinger | |
zur „Schwanensee“-Melodie vertanzen, wozu die Hände in schwimmflossengroß… | |
Entenfüßen stecken. | |
Und während Bauer die erste „Orchesterprobe“ tatsächlich versemmelt – zu | |
viel komischer Überdruck für das valentineske Grummeln –, treffen das | |
Singspiel von der Kollision zweier „Saudummer“ im Straßenverkehr – | |
Valentins „Radlerpech“ – und Max Rothbart als „mageres Arschloch“ ins | |
Schwarze. | |
Ein Höhepunkt aber ist das „Klagelied einer Wirtshaussemmel“ über ihr | |
hygienetechnisch katastrophales kurzes Leben. Während sechzehn durch | |
semmelförmige Brustpanzer ragende Schauspieler-Ärmchen vor Grauen zittern, | |
schreiten untenrum ebenso viele Beine ungerührt die Drehbühne entgegen der | |
Drehrichtung ab. Ein köstlicher theaternerdiger Scherz – eine Parodie der | |
choreografierten Bilder von Ulrich Rasche – an einem Abend, der einem die | |
Komik als Überlebenselixier schmackhaft macht. Gerade zur rechten Zeit. | |
19 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Olympia-Lobbyist-Karl-Valentin/!5855217 | |
[2] /Jelinek-Premiere-in-Zuerich/!5903164 | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
## TAGS | |
Theater | |
München | |
Claudia Bauer | |
Karl Valentin | |
Karl Valentin | |
Musiktheater | |
Theater | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Theater | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
75. Todestag von Komiker Karl Valentin: Absurdl aus der Au | |
Zwischen Anarchie und Avantgarde: Vor 75 Jahren starb Karl Valentin. Eine | |
nur wenig über den Verdacht der Hommage erhabene Erinnerung. | |
Neues Stück der Neuköllner Oper: Piraten, Fürsten, Popmusik | |
Mit dem Stück „Radioland“ folgt die Neuköllner Oper der unglaublichen | |
Geschichte eines Piratensenders. Alles begleitet von einer Pilzkopfband. | |
Jelinek-Premiere in Zürich: Auf Bräune folgt Schwärze | |
„Sonne, los jetzt!“ heißt eine Endzeitrevue in Zürich über Dummheit, Fur… | |
und Schuld in Sachen Klimakatastrophe. Geschrieben hat sie Elfriede | |
Jelinek. | |
Theater und Integration: Geschichten, die man erzählen muss | |
Erinnerungen teilen gehört zur Arbeit am Bild dessen, wer wir sein wollen. | |
Die Münchner Kammerspiele widmen sich dem mit einem Festival. | |
Anne Webers Roman als Theaterstück: Lautstärke und Klamauk | |
„Annette, ein Heldinnenepos“ wird zum Theaterstück. Dušan David Pařízek | |
inszeniert Anne Webers Roman über Widerstand in Stuttgart. |