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# taz.de -- Der „Kirschgarten“ und die Welt außenrum: Abzweigung verpasst
> Für manche gibt es nichts Wichtigeres als Klimaschutz, für andere ist er
> ein Luxusproblem: Ein Abend im Hamburger Bahnhofsviertel samt
> Theaterbesuch.
Bild: Hamburg hat statistisch die höchste Wohnungslosenquote Deutschlands: Obd…
Hamburg taz | Der Typ stellt sich mir in den Weg, und als ich weiter gehe,
geht er einfach [1][mit Richtung Schauspielhaus.] Schon klar, er will Geld,
aber das sagt er nicht, er rappt es. Das bringt mich dazu, stehen zu
bleiben. Der Text ist improvisiert, es geht um seine Hip-Hop-Crew und dass
sie die Pandemie aus allem rausgehauen hat und um Herzen, die offen sein
sollen. Als ich ihm Geld gebe, fragt er, ob es nicht mehr sein könnte.
Dabei ist es schon viel, finde ich. Er hält mir zum Abschied seine Faust
entgegen.
Im Foyer des Hamburger Schauspielhauses stehen die Premierengäste an der
Garderobe an. Die Frau hinter mir in der Schlange sagt: „Kalt ist es hier.
Und nur eine Frau an der Garderobe für all die Leute. Die sparen hier, wo
sie können. Und alles auf Kosten des Staates.“ „Bürger“, denke ich mir.
„Bürger“ wollte sie sagen. „Die sparen auf Kosten der Bürger.“
Aber man kann das schon mal durcheinander bringen, wer auf wessen Kosten
spart. Oder lebt. Es wird die Frage eines ungemütlichen Abends werden, auch
wenn im Zuschauerraum geheizt ist, im Gegensatz zum Foyer.
[2][Das Stück] heißt „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow und auf der
Bühne zu sehen sind zwei Glaskästen: Links im Glaskasten sind die
Schauspieler*innen, die kaum spielen, sondern vor allem in Mikrofone
sprechen. Rechts sind die Musiker*innen mit zweimal Geige, einmal
Bratsche und einmal Cello, die in den kommenden 90 Minuten durchgängig
spielen werden.
## Wie Superman durch Hollywood-Filme flog
Über den Glaskästen ist eine Leinwand und unter der Leinwand steht ein
Greenscreen mit Kameras davor. Von Zeit zu Zeit werden die
Schauspieler*innen den Glaskasten verlassen, vor den Bluescreen treten
und per Kamera in die Bilder auf der Leinwand eingefügt. Es ist das
Verfahren, [3][mit dem Superman in den 80er-Jahren durch Hollywood-Filme
flog].
Das Stück spielt also auf der Leinwand, auf der der Kirschgarten zu sehen
ist, der dem Stück den Namen gibt, aber bei Tschechow nur als Symbol dient.
Tschechows Stück erzählt die Geschichte der Adelsfamilie Ranjewskaja, die
auf ihrem Gut zusammen kommt, weil kein Geld mehr da ist und in Frage
steht, ob ein Verkauf des Kirschgartens eine Lösung sein kann. Während die
Familie debattiert, ist der Kirschgarten ab und zu durchs Fenster zu sehen
– anfangs blüht er, am Ende wird er abgeholzt.
Regisseurin Katie Mitchell macht den Kirschgarten in ihrer Inszenierung zur
Hauptfigur, so, wie bei [4][Hitchcocks „Vögel“] die Vögel die Hauptrolle
spielen. Auf der Leinwand ist die Entwicklung des Kirschgartens über ein
Jahr hinweg zu sehen und das Drama der Menschen dringt nur gelegentlich als
oft dumpfes Stimmengewirr aus dem Gutshaus.
Das Stück wird aus der Perspektive des Kirschgartens erzählt. Wenn Menschen
in ihm auftauchen, dann als live projizierte Bluescreen-Wesen. Die Menschen
sind nur noch technisch vermittelte Fremdkörper in einer todgeweihten
Natur. Und unter allem liegt ein schräg-bedrohlicher
Streicher*innenteppich, der live aus dem rechten Glaskasten dringt.
Mitchells „Kirschgarten“ ist eine Performance, die sich zusammensetzt aus
Film, Hörspiel, Installation und Klangcollage. Eine gute Stunde hören und
sehen die Zuschauer*innen, wie der Kirschgarten langsam zugrunde geht und
gleichzeitig an Bedrohlichkeit gewinnt.
Und dann passiert etwas Überraschendes: Als die Arbeiter mit Kettensägen
kommen, um den Kirschgarten abzuholzen, hält die Geschichte inne und alles
vorangegangene wird rückwärts nochmals dargestellt – in erhöhter
Geschwindigkeit, also so, wie es auf dem Fernseher aussieht, wenn man die
Rewind-Taste gedrückt hält.
Das Stück läuft zurück aufs erste Bild, und das bestand aus einer
Projektion des Textes: „Wenn wir weiter die Natur misshandeln, wird sie
kollabieren, und wir mit ihr.“ Die Menschen hätten die Ausfahrt rechtzeitig
kriegen müssen, das ist die klare Botschaft der Aufführung.
Das ist wahrlich [5][kein neuer Gedanke], aber ihn ästhetisch eindringlich
zu vermitteln, ist an diesem Abend absolut gelungen. Dafür ist von dem
Klassiker, der 1904 uraufgeführt wurde, nicht viel übriggeblieben. Die
Zuschauer*innen hinterlässt das gespalten. Viele applaudieren nicht,
andere dafür umso heftiger. Und man fragt sich, wem der Beifall gilt: Dem
Appell, endlich zu handeln? Oder der Inszenierung?
Draußen im Bahnhofsviertel läuft die Zeit dann wieder linear. Eine Frau
fragt nach Kleingeld, sie hat nur noch einen Zahn. Zwischen den Gemüseläden
und den überquellenden Mülleimern sind die Prostituierten auf der [6][Suche
nach Freiern]. Manche von ihnen nervös. „Hast Du kurz Zeit?“ fragt eine,
die aussieht, als bräuchte sie wirklich dringend Geld – jetzt, und nicht
später.
Auch die [7][Obdachlosen im Bahnhofsviertel] sind mehr geworden, scheint
es, sie sitzen um den Eingang zur U-Bahn herum in Schlafsäcken und haben
neben die Pappbecher für das Geld Kerzen gestellt. Der Kirschgarten ist
hier weit weg. Und, so krass es klingt, ein Luxusproblem.
31 Dec 2022
## LINKS
[1] /Organisatorin-ueber-Veranstaltungsreihe/!5898915
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Kirschgarten
[3] https://www.moviepilot.de/filme/beste/handlung-superman/jahrzehnt-1980er
[4] https://m.film.tv/filme/1950-1989/die-voegel-53629.html
[5] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262
[6] /Prostitution-in-Hamburg/!5644565
[7] /Wohlfahrtssprecher-ueber-Arbeitsmigranten/!5889074
## AUTOREN
Klaus Irler
## TAGS
Theater
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Schwerpunkt Klimawandel
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Prostitution
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