| # taz.de -- Stück „The Mushroom Queen“ in Hamburg: Im Reich der Pilze | |
| > Der Klimawandel zerstört die Idee, dass sich der Mensch die Erde Untertan | |
| > machen könnte. Was kommt stattdessen? Das Schauspielhaus gibt eine | |
| > Antwort. | |
| Bild: Hat ihr Menschenleben mit dem eines Pilzes getauscht: Ute Hannig als „M… | |
| Das Schauspielhaus in Hamburg ist das größte Sprechtheater Deutschlands, | |
| aber die Zeiten ändern sich und mit ihnen die theatralen Mittel. Im Fall | |
| des Stückes „The Mushroom Queen“ heißt das: Es gibt auf der Bühne keine | |
| gesprochene Sprache mehr. In 90 Minuten fallen zwei Sätze, mehr nicht. | |
| Alles andere, was als Text zur Erläuterung nötig ist, wird auf eine | |
| Leinwand über die Bühne projiziert. | |
| Was es auch nicht mehr gibt in diesem Stück von Liz Ziemska, ist | |
| Psychologie. Zwar geht es darin um eine Trennung am Ende einer Ehe, aber | |
| wer da wen warum verlässt, ist nicht wichtig. Einfach deshalb, weil in „The | |
| Mushroom Queen“ nicht der Mensch im Mittelpunkt steht, sondern die Natur. | |
| Auf der Bühne sehen wir vier Schauspieler*innen, sie liegen schlafend auf | |
| einem runden Bett: Ute Hannig und Markus John spielen das Ehepaar, Sachiko | |
| Hara und Maximilian Scheidt spielen Hunde. Die Frau erhebt sich und | |
| verabschiedet sich durch die Terrassentür in die unterirdische Welt der | |
| Pilze. Nachdem sie weg ist, betritt die Mushroom Queen den Raum: Als | |
| Doppelgängerin nimmt sie den Platz der Frau ein, ist aber ein Pilz. Dem | |
| Gatten fällt das nicht weiter auf, nur einer der Hunde merkt, dass mit | |
| Frauchen was nicht stimmt. | |
| So schräg die Geschichte ist, so unkonventionell ist die theatrale | |
| Umsetzung: Die Schauspieler*innen bewegen sich ausschließlich in | |
| Zeitlupe, kommunizieren in aller Langsamkeit mit Gebärden und Minenspiel. | |
| Zu hören gibt es eine durchgängige Tonspur aus sphärischen Sounds; und das | |
| Krächzen, Fauchen und Sabbern der Mushroom Queen, aus deren Perspektive das | |
| Stück erzählt wird. Im Bühnenhintergrund hängt eine Leinwand mit | |
| sphärischen Visuals und verstärkt den Eindruck einer entrückten, lichtarmen | |
| Welt. | |
| Regisseurin Marie Schleef möchte darstellen, wie ein Pilz einen Mann und | |
| seine zwei Hunde erlebt. Das ist auf eine anregende Art irritierend, | |
| manchmal lustig, auch mal langatmig. Vor allem aber ist es ein sehenswerter | |
| Beitrag zur sehr aktuellen Frage, wie das Theater die grundlegenden Fragen | |
| verarbeitet, welche sich durch [1][Klimawandel] und das [2][Anthropozän] | |
| stellen, das Zeitalter also, in dem der Mensch zum wesentlichen | |
| Einflussfaktor auf biologische, geologische und atmosphärische Prozesse | |
| geworden ist. | |
| Sehr lange war ja die Idee, der Mensch möge sich die Erde Untertan machen. | |
| Dieses Konzept ist am Ende, sofern der Mensch vorhat, halbwegs kommod | |
| weiter zu leben auf dem Planeten. Zuletzt beschäftigte sich am | |
| Schauspielhaus Katie Mitchell mit dieser Frage: In ihrer [3][Inszenierung | |
| des „Kirschgartens“] stellte sie dessen Niedergang in den Mittelpunkt, | |
| nicht mehr Tschechows ausdefinierte Figuren. | |
| Auch in „The Mushroom Queen“ ist der Mensch weder die Hauptsache noch die | |
| treibende Kraft. Er ist nur noch ein Lebewesen, das sich mit der Natur ins | |
| Benehmen zu setzen hat, weil es von der Natur abhängt und nicht | |
| andersherum. Deshalb sollte er verstehen, wie die Natur funktioniert, um | |
| Teil des Ganzen zu werden. | |
| Im Fall der Mushroom Queen ist die funktionale Idee die des Netzwerkes: ein | |
| weit verzweigtes Miteinander, in dem alle verbunden sind und | |
| korrespondierend leben. Auch auf der Grundlage des [4][Recyclings], für das | |
| die Mushroom Queen selbstredend Expertin ist. | |
| Das Leben im Pilzzeitalter ist dann kein Drama mehr. Auf der Bühne des | |
| Malersaals ist es vielmehr eine Performance, die auch einiges vom Tanz hat: | |
| Das sphärische Gluckern bekommt zum Ende hin einen Beat hinzugefügt, die | |
| Bewegungen in Zeitlupe entwickeln eine Poesie jenseits des reinen | |
| Fortkommens. Am Ende gehen dann alle ein ins Reich der Pilze und kommen so | |
| wieder zusammen mit der Frau, die dort verblieben ist. Es ist ein | |
| tröstliches Ende – zumindest aus der Perspektive eines Pilzes. | |
| 21 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Klaus Irler | |
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