| # taz.de -- Emanuel Gat zu Gast in Berlin: Sprint gegen sich selbst | |
| > Freiheit nach Regeln: Der Choreograf Emanuel Gat brachte „Freedom Sonata“ | |
| > im Haus der Berliner Festspiele als Deutschlandpremiere auf die Bühne. | |
| Bild: Die Tänzer:innen rollen den weißen Tanzboden selber aus, Metapher für … | |
| Von jetzt auf gleich beginnt der Tänzer Abel Rojo Pupo von der linken Wand | |
| der Bühne zur rechten zu sprinten, als stünde sein Leben auf dem Spiel. | |
| Sein Gesicht ist zusammengezogen, immer schneller klatscht er die Wände ab | |
| zu den fordernden Beats von Kanye Wests „Real Friends“. | |
| Hinter ihm feuern ihn die anderen zehn Tänzer:innen lauthals an. Man | |
| versteht nicht, was sein Ziel ist. Aber das spielt keine Rolle. Es reicht, | |
| zu sehen, dass der Sprint in diesem Moment sein Lebensprojekt ist. | |
| Zögerlich zuerst fiebert auch das Publikum immer lauter mit: Schafft er, | |
| was auch immer er schaffen will? | |
| Die Freiheit des Individuums ist ein Leitmotiv in den Werken des | |
| [1][israelischen Choreografen Emanuel Gat]. Sein neuestes Stück, das seine | |
| deutsche Premiere im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Reflexe und | |
| Reflexionen“ in den Berliner Festspielen feiert, demonstriert das schon im | |
| Titel: „Freedom Sonata“. | |
| Am deutlichsten wird das in der Szene, in der jede:r Tänzer:in einzeln | |
| nach vorne stürmt und sich einer intuitiven Bewegung hingibt, einem Schrei, | |
| einer Frage ans Publikum oder einem Sprint gegen sich selbst. Neben | |
| individuellen Entscheidungen ist es vor allem die Verhandlung im Kollektiv, | |
| die Gat interessiert. Als Choreograf möchte er keine Bewegungen vorgeben, | |
| sondern nur den Rahmen, in dem Tänzer:innen ihre Freiheit verhandeln. | |
| Kanye West trifft Beethoven | |
| In „Freedom Sonata“ stellen sich elf Tänzer:innen verschiedener | |
| Stilistiken dieser Aufgabe selbstbewusst und in hohem Tempo. In Dreier- bis | |
| Fünferkonstellationen stürmen sie zu epischen Gospelklängen auf die blass | |
| benebelte Bühne. | |
| Sie lassen ihre Körper kraftvoll zu komplexen Gebilden in- und | |
| auseinanderfließen, immer im Dialog mit Kanye Wests Album „The Life of | |
| Pablo“ aus 2016, einem musikalisches Potpourri aus Rap, Gospel, R&B und | |
| Elektro. Dabei tanzen sie nicht immer mit der Musik. Mal stehen sie mitten | |
| im Beat still oder lassen sich auf folkloristische Tanzeinlagen ein, die | |
| nicht so recht zu Ye passen wollen. | |
| Ganz anders wirken die Bewegungen auf den weniger selbstbejahenden | |
| Klavierklängen Mitsuko Uchidas. Der von ihr gespielte zweite Satz aus | |
| [2][Ludwig van Beethovens] Sonate Nr. 32 ist ein Kontrastprogramm von | |
| leider kurzer Dauer. | |
| Freiheit heißt Verantwortung | |
| [3][Dass Ye für antisemitische und rassistische Hetze bekannt ist], | |
| klammert Gat aus seiner musikalischen Entscheidung aus. Auch hier bleibt | |
| Freiheit das Leitprinzip. „Die Kunst gehört nicht dem Künstler“, sagt er … | |
| einem Diskussionspanel über Kunstfreiheit. Aber wenn im Track „Low Lights“ | |
| eine Frauenstimme „It feels so good to be free“ schwärmt, fragt man sich | |
| doch, wie viel Freiheit Künstler wie Ye sich selbst zugestehen. | |
| Dabei versteht Gat Freiheit nicht als grenzenlos, sondern als Übernahme von | |
| Verantwortung. Auch der Tanz ist keine Anarchie. Bestimmte Spielregeln sind | |
| vorgegeben, wie bei der klassischen Sonatenform: Exposition, Durchführung, | |
| Reprise. Oder das wiederkehrende Motiv, in dem die Tänzer:innen weiße | |
| Tanzböden mit Besen, Klebeband und vollem Körpereinsatz ausrollen und | |
| festkleben. | |
| Innerhalb dieser Struktur wird viel den Tänzer:innen überlassen. | |
| Ununterbrochen müssen sie miteinander verhandeln, wenn sie sich gegenseitig | |
| hochheben, Bewegungen voneinander aufnehmen, wieder ablegen. Ihre Freiheit | |
| verpflichtet sie zur Verantwortung, dass das Spiel weitergeht. | |
| Spiel mit Reizüberflutung | |
| Gespielt wird mit wilder Assoziation. Die Tänzerin Rindra Rasoaveloson | |
| steht scheinbar unbeteiligt in Distanz zur rennenden Meute. Aber mit | |
| flatterndem Kleid, leichten Handgesten und im weißlichen Nebel steuert sie | |
| die anderen mit göttlichen Kräften. Sakral und zugleich primitiv mutet der | |
| Zeitlupengang an, in dem sich fünf Tänzer:innen vor gleißendem Licht in | |
| surrealen Posen fortbewegen. Ist es Suche oder Feier? | |
| Aber schon ist die Formation aufgelöst und es folgt die nächste. Daraus | |
| wird auch ein Spiel der Reizüberflutung. Die Musik bricht abrupt ab, warme | |
| und kalte Beleuchtung wechseln sich ab, und die Kostüme beweisen, wie | |
| vielseitig eine Farbe sein kann. Weiß, dann Schwarz, als enges Hemd, | |
| Sportbra, Boxershorts. | |
| Nach einer guten Stunde ist das Auge derart an die stetig wechselnden | |
| Körpergebilde und Experimente gewöhnt, dass es sich an der überschäumenden | |
| Freiheit zu erschöpfen droht. Unerwartet erfrischend wirken dahingegen die | |
| kurzen, durchchoreografierten Gruppentänze in braver Kreisformation. | |
| Distanz zu menschlichen Dynamiken | |
| Letztlich sind es die fein dosierten Emotionen auf der Bühne, die die | |
| Aufmerksamkeit immer wieder zurückgewinnen. Die zweifelnden Blicke | |
| untereinander oder das Nachdenken allein in der Ecke. Dabei weiß man nie | |
| ganz, was davon echt ist, welche Geschichten sich dahinter verbergen. | |
| Den Dynamiken auf der Bühne haftet immer ein Rest Unverständlichkeit an. | |
| Diese versetzt auch in Distanz zu menschlichen Verhaltensweisen und | |
| erinnert daran, dass keine davon natürlich gegeben ist. Darin liegt auch | |
| eine Forderung ans Publikum. Akzeptiert man die Eigenlogiken der | |
| Tänzer:innen, auch wenn man sie kaum versteht? Die Einladung steht. Und | |
| wenn eine Tänzerin einfach so auflacht, während sie über die Bühne rennt, | |
| ist die Einladung einfach anzunehmen. Man freut sich mit. | |
| 10 Mar 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Yi Ling Pan | |
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