# taz.de -- Iranisches Tanztheater: Medea als Symbolfigur | |
> Ayat Najafi gab im Herbst 2022 Untergrund-Theaterworkshops in Teheran. | |
> Sein Stück „Frauen der Revolutionsstraße“ erzählt von weiblichem | |
> Widerstand. | |
Bild: Im Kontext der gewaltsamen Unterdrückung einer Gesellschaft, insbesonder… | |
Rot leuchtet der Rock unter dem schwarzen Männerjackett. Seda Shabahang | |
stampft auf, schüttelt ihre schwarze Lockenmähne und biegt ihren Körper vor | |
und zurück. In Wellen, begleitet durch die präzise Percussion von Sébastien | |
Apert, bricht es aus ihr heraus: „Medea war eine außergewöhnliche Frau. | |
Würde ich sie darstellen, wäre extrem wichtig, zu zeigen, dass sie sich | |
befreit hat und frei ist. Wie müsste dann ihr Körper sein, ihr Gang, ihr | |
Lachen, ihre Körperhaltung? Dann sitzen Leute vor dir. Du spielst nur für | |
sie. Sie schauen dir zu, scannen deinen Körper und sagen, nein, so geht das | |
nicht, lach' nicht, halt deinen Körper zusammen, spiel' kleiner, viel | |
kleiner. “ | |
Shabahang schreit sich ihre Seele in Farsi aus dem Leib. Seit einem Jahr | |
lebt die persische Schauspielerin in Berlin. Sie musste aus dem Iran | |
fliehen, weil sie in dem Film „The sun will rise“ des iranisch-deutschen | |
Regisseurs Ayat Najafi kurz nackt zu sehen war. Najafi gründet 2023 in | |
Berlin ein internationales Ensemble. Shabahang ist Teil davon. Ihr Spiel | |
sowie das ihr Mitspielerinnen Asma Asadizade und Johanna Lemke ist extrem | |
körperlich. Die drei kommen den ZuschauerInnen im Saal physisch sehr nah. | |
Denn das Publikum sitzt im Ballhaus Ost nicht auf der Tribüne, die ist | |
ausgebaut, sondern auf kleinen bunten Stoffhockern verteilt im Raum. | |
[1][Tanz findet in Iran im Untergrund statt], erfährt man im Nachgespräch. | |
Das Verbot ist seit Jahrzehnten in Kraft. Die Ausbildung, alle | |
Vorstellungen, die Archivierung der Inszenierungen, alles findet in | |
Kellern, in privaten Räumen statt, denn es muss vor dem Regime | |
geheimgehalten werden. Wird ein Protagonist, eine Protagonistin verhaftet | |
und werden bei der Hausdurchsuchung Laptops, Festplatten, Dokumente etc. | |
beschlagnahmt, wird das Gedächtnis des iranischen Tanzes empfindlich | |
getroffen. Die Lecture Performance „Date of performance“, die am 9. März an | |
der Pappelallee Station macht, dokumentiert deshalb Aufführungen, die von | |
inhaftierten KünstlerInnen in iranischen Gefängnissen inszeniert wurden. | |
Gebannt verfolgt man die Übertitel im Ballhaus Ost und denkt über das | |
Medea-Narrativ nach, das jegliche Ambivalenzen in der Figur vermeidet und | |
sich ganz auf die Frau fokussiert, die sich selbst aus ihrer Abhängigkeit | |
befreit. Und man beginnt zu verstehen, dass im Kontext der gewaltsamen | |
Unterdrückung einer Gesellschaft, insbesondere des weiblichen Teils, | |
[2][Medea] zur Symbolfigur wird. Ayat Najafi war im September 2022 in | |
Teheran, als nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini Massenproteste | |
ausbrachen. Er gab zu dieser Zeit vor Ort Untergrundtheater-Workshops. Drei | |
der TeilnehmerInnen sind in „Frauen der Revolutionsstraße“ im Video zu | |
sehen. Sie stehen vor einem Fenster mit weißen Gardinen, haben | |
Vogelschnäbel über die Nasen gestülpt und denken laut über eine inhaftierte | |
iranische Theaterregisseurin nach, die ihr Kind in Deutschland in | |
Sicherheit brachte. Und über Aristophanes' Theaterstück „Die Vögel“, in … | |
zwei Männer über der Erde eine gerechtere Gesellschaft errichten möchten | |
und es nicht schaffen. | |
Live wechseln die Spielerinnen in der Darstellung so oft zwischen Mensch | |
und Vogel, dass sie im Zuschauerhirn irgendwann zu Zwitterwesen mutieren. | |
Sie schlagen wild mit ihren Armen, imitieren Möwenkreischen und zeigen | |
immer wieder beide Seiten der Vogel-Symbolik: die Freiheit, die der Vogel | |
per se Kraft seiner Flügel hat und die Gefahr, die von Raubvögeln ausgeht. | |
Irgendwann ziehen sich die Spielerinnen Vogelmasken über den Kopf und | |
zitieren aus Gefängnisbriefen von Rosa Luxemburg und Ulrike Meinhof. Die | |
dramaturgische Klammer dazu ist die fiktive, aus realen Geschichten | |
collagierte, Geschichte einer Perserin, die Ende der 1960er Jahre in | |
West-Berlin studiert, eine Doktorarbeit über Rosa Luxemburg schreibt und | |
sich in den 1970er Jahren vergeblich um eine Besuchserlaubnis im | |
Stammheimer Hochsicherheitsgefängnis bei Ulrike Meinhof bemüht. Ayat Najafi | |
nennt sie „Homa“, nach einem Vogel, der laut der persischen Mythologie sein | |
ganzes Leben in den Lüften verbringt, und wenn er den Boden berührt, | |
stirbt. | |
„Aufstehen“, schreien die drei Teheraner SpielerInnen im Video auf der | |
Straße gegen Hauswände. Sie schreien auf Deutsch, so wie der arbeitslose | |
Herbert Ende der 1970er Jahre in einer Straße in Frankfurt am Main. In der | |
gezeigten Sequenz des [3][Films „Ordnung“] pöbelt es vom Balkon „Hau ab�… | |
aber Herbert macht weiter. | |
3 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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