# taz.de -- Christa Wolfs „Medea“ in Lübeck: Pulli muss Medea tragen | |
> Zino Wey hat für die Bühnenfassung die Ostalgie aus Christa Wolfs „Medea. | |
> Stimmen“ getilgt. Gezeigt wird sie in Lübeck als ein Drama über | |
> Fremdenhass. | |
Bild: Medea steht auch in Lübeck allein. Aber Lilly Gropper spielt sie nicht a… | |
Die Bühne ist aufgerissen, aus den Tiefen steigen bedeutungsvoll | |
Nebelwölkchen auf, dahinter erhebt sich ein Grabhügel, darüber tanzen | |
Bürolichtleisten. Archaisch bis modern erscheint auch das Personal in den | |
Kammerspielen des Theaters Lübeck. | |
Ein Chor intoniert Fragen oder Kommentare – wie sich das für antike | |
Tragödien gehört. Lilly Gropper aber steht als Hauptfigur Medea mit | |
unsicher verknoteter Physis da in einem kunterbunten Pullover Marke | |
selbstgestrickt. | |
Eine Geflüchtete ist sie, [1][der Gewalt in Kolchis entkommen,] und wird | |
zur Ausgestoßenen in Korinth, weil sie sich den Lügen des herrschenden | |
Systems verweigert und eine Leiche im Keller publik macht. Voller Wut | |
konzentriert sie ihre Energie, um sich nicht als Opfer, sondern als aktives | |
Subjekt unabhängig von misogynen Zuschreibungen in der Welt zu verorten. | |
Rebellisch, rhetorisch gewandt und zielstrebig tritt sie auch in einem | |
nervtötend heutigen Beziehungsknatschdialog mit ihrem Gatten Jason auf und | |
erinnert sich an das Verliebtheitsglück. In Lübeck ertüchtigen die beiden | |
Ex-Turteltauben mit Christa Wolfs „Medea. Stimmen“ [2][den Mythos für die | |
Gegenwart]. | |
## Geschichte wird gemacht | |
Regisseur Zino Wey zeigt damit, dass Geschichtsschreibung auch mittels | |
dramatischer Literatur immer interessengeleitet und daher zu hinterfragen | |
ist. | |
Leider wurde nicht überliefert, warum Euripides in seiner Medea-Tragödie | |
Rufmord betrieben und die sagenhafte Zauberin als antizivilisatorische | |
Furie dargestellt hat. Seine Deutung schreiben bis heute die meisten | |
Adaptionen fort. Vielleicht ging es darum, ihre matriarchale Kraft zu | |
bannen. | |
Dank Wolfs Romanvorlage ist sie in Lübeck nicht als maßlos | |
eifersuchtstrunkenes Ungeheuer, sondern als eine sich wohlüberlegt | |
emanzipierende Frau zu erleben. Entsühnt von den ihr zugeschriebenen | |
Taten: Nicht sie hat ihre Kinder gemordet, sondern ein aufgeputschter, | |
xenophober Mob die beiden Jungs zu Tode gesteinigt. Nicht sie hat ihre | |
Nebenbuhlerin getötet, sondern diese große Unglückliche sich selbst. Nicht | |
sie hat ihren Bruder zerstückelt, sondern ihr königlicher Vater ihn einem | |
tödlichen Ritual übereignet, damit seine Herrscherposition nicht von der | |
nachwachsenden Generation gefährdet wird. | |
In dieser neuen Sicht auf die tradierte Narration ist wenig Platz für | |
differenziert gezeichnete Nebenfiguren. Mit Leukon gibt es nur eine Figur, | |
die auch in Ambivalenzen denken kann, aber aller Einsichten zum Trotz nur | |
in Melancholie versinkt, statt zu handeln. Jason kommt als ein mit Lametta | |
behängter Cowboy daher, der sich der Korinther Königsfamilie andient und | |
Medea verlässt, um selbst Karriere zu machen. | |
Der in einem güldenen Kostüm protzende Akamas ist als Gerüchtestreuer ein | |
eitler Diener seines Königs. Aber auch Medeas Exfreundin Agameda wurde aus | |
Eigennutz zur Machtschleimerin und kommt dabei besonders opportunistisch | |
über die Rampe. Mit welch energischer Präsenz und Spielpräzision Astrid | |
Färber den Text gestaltet, ist schauspielerisch der Höhepunkt des Abends. | |
## Macht und Mord | |
Machtarbeit desavouieren, darum geht es ins Lübeck. Und beispielhaft wird | |
der soziale Mechanismus aufgezeigt, wie unangepasste Zuwander:innen zu | |
Sündenböcken für gesellschaftliche Fehlentwicklungen stilisiert werden: | |
Bald steht Medea allein im Bühnenregen als Vertreterin humaner | |
Übereinkünfte und empört sich, dass Macht noch immer auf Mord gründet. | |
Christa Wolf hat in elf inneren Monologen das Medea-Personal seine | |
Deutungen der Geschehnisse und konkurrierenden Interessen formulieren | |
lassen. Die Inszenierung bringt mit sechs Figuren sogar ein wenig | |
Interaktion in die perspektivenreiche Nacherzählung und Aufarbeitung der | |
Geschichte. | |
[3][Wolf erzählte damit auch vom Ost-West-Clash]: Das etwas rückständige, | |
ausgelaugte, politisch zugrunde gerichtete Kolchis trifft auf das reiche, | |
hochentwickelte, selbstsichere, aber seine Vergangenheit verschleiernde | |
Korinth, wo alle von ihrer Überlegenheit überzeugt sind. | |
Aber die Auseinandersetzung, dass nicht alles schlecht in der DDR, nicht | |
alles gut in der BRD war, findet in Lübeck nicht statt. Entsprechend zu | |
deutende Passagen wurden gestrichen. Es geht eher grundsätzlich um den | |
Umgang mit Migrant:innen in ihrer neuen und die Erinnerungen an die alte | |
Heimat. | |
Die Regie spendiert eine klare, ruhige und daher umso eindringlichere | |
Inszenierung voller aparter Bilder und Schönklanggesang. Sie bringt den | |
Text mit vitalem Ernst auf die Bühne und zeigt die Titelfigur als einsame | |
Heldin empathischer Aufklärung. So wird die Diskussion eröffnet über eine | |
patriarchal geprägte Sicht auf Medea. Etwas für Freunde des Mitdenkens. | |
11 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Theaterpremiere-Medea/!5482955 | |
[2] https://tuttle.taz.de/!1467486/ | |
[3] https://tuttle.taz.de/!5441004/ | |
## AUTOREN | |
Jens Fischer | |
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