| # taz.de -- Früher DDR-Roman von Brigitte Reimann: Mit „männermordender Tai… | |
| > Die Urfassung von Brigitte Reimanns DDR-Roman „Die Geschwister“ birgt | |
| > Zündstoff. Sie zeigt den Enthusiasmus einer sozialistischen Generation. | |
| Bild: Zunächst eine Art Glamour-Girl der DDR: Brigitte Reimann | |
| Als Brigitte Reimanns Roman „Die Geschwister“ 1963 erschien, war die | |
| Autorin dreißig Jahre alt und hatte die sozialistische Moral bereits des | |
| Öfteren heftig ausgereizt – die Moral der Funktionäre und Opportunisten vor | |
| allem, die ihrem Sturm und Drang immer entgegenarbeiteten. | |
| Reimann war eine Art frühes Glamour-Girl der DDR, berüchtigt für ihre | |
| wechselnden Liebschaften und einer auffälligen Vorliebe für | |
| Dreiecksbeziehungen. Ihre Tagebücher sind geprägt vom Genuss ihrer | |
| augenscheinlichen Attraktivität, aber auch von Momenten der | |
| Selbstverachtung und der Verzweiflung. Sie war, und hier ist sie durchaus | |
| vergleichbar mit einem westlichen Pendant wie Ingeborg Bachmann, mit ihren | |
| Ansprüchen nicht vorgesehen – als selbstbestimmte Frau in der Gesellschaft, | |
| auf die sie traf. | |
| Ihre Lebenstragik hängt unmittelbar damit zusammen. Ihr früher Tod an | |
| Brustkrebs im Alter von 39 Jahren 1973, macht sie vergleichbar mit jung | |
| verstorbenen Pop- und Rockstars ihrer Zeit, kurz zuvor waren Janis Joplin | |
| und [1][Jimi Hendrix] verstorben. Reimanns Nachruhm scheint ihre | |
| herausgehobene Rolle zu Lebzeiten noch zu überstrahlen. | |
| „Die Geschwister“ ist bei seinem Erscheinen ein in der DDR heftig | |
| diskutierter Roman. Es geht in erster Linie um das enge Verhältnis zwischen | |
| Elisabeth und ihrem Bruder Uli, das durch die Absicht Ulis, kurz vor dem | |
| Bau der Mauer in den Westen zu fliehen, auf heftigste Weise auf die Probe | |
| gestellt wird. Man spürt in jeder Zeile die Unbedingtheit der Autorin, ihre | |
| Fähigkeit zur Emphase. | |
| Der Ton ist direkt und emotional, durch die Ich-Perspektive der Erzählerin | |
| Elisabeth wird das noch verstärkt. Sie ist von ihrer Republik, trotz aller | |
| Schwächen, durch und durch überzeugt und gefeit gegen die Glücksversprechen | |
| des Kapitalismus. Uli hingegen scheint ihnen zu erliegen, und als finstere | |
| Gegenfigur fungiert der älteste Bruder Konrad, der, geschäftstüchtig und | |
| zynisch, im Westen bereits angelangt ist. | |
| ## Sozialistische Parteilichkeit | |
| Die Begegnung mit ihm in Westberlin wird zur grellen Charakterstudie. Sie | |
| operiert mit allen Mitteln der Charge. Die Verachtung, mit der Elisabeth | |
| „die scharfen, neuen Linien um Augen und Mund“ bei Konrad registriert oder | |
| das „lautlose Feuerwerk der Reklamen“ auf dem Kurfürstendamm: „ganz oben, | |
| im rötlichen Himmel, hingen fremd und betäubt ein paar Sterne“ – das ist | |
| eindeutig ein Ausweis ihrer sozialistischen Parteilichkeit. | |
| Interessant wäre ein Vergleich mit Christa Wolfs Roman „Der geteilte | |
| Himmel“, der gleichzeitig erschien und dasselbe Thema hat: Verhandelt wird, | |
| wie sich ein geliebter Mensch von der DDR entfernt und wie man sich dazu | |
| verhält. Gemeinsam ist beiden die Selbstverständlichkeit, mit der sie zu | |
| den sozialistischen Idealen stehen. Bei Christa Wolf wirkt das alles ein | |
| bisschen nüchterner, nachdenklicher, Brigitte Reimann indes trägt äußerst | |
| ungestüm starke, kräftig leuchtende Farben auf. | |
| Ihre Heldin siegt, mithilfe ihres Freundes Joachim, einem unbestechlichen | |
| Werkleiter, dann auch eindeutig über ihren Bruder, während bei Christa Wolf | |
| ein melancholischer Nachhall bleibt. | |
| ## Proletarische Helden und Bonzen | |
| Mit ihrer Erzählung „Ankunft im Alltag“ hatte Reimann zwei Jahre vorher dem | |
| „Bitterfelder Weg“ eine zugkräftige Parole verschafft, und auch „Die | |
| Geschwister“ bietet einige Paradebeispiele für sympathische, proletarische | |
| Helden, die im Gegensatz zu den Parteibonzen und Schreibtischtaktikern das | |
| Herz auf dem rechten Fleck haben. Elisabeth – manchmal wird sie von ihrem | |
| Bruder „Lies“ genannt, und das klingt wie ein Imperativ – ist eine bilden… | |
| Künstlerin und als solche einem Industriekombinat zugeteilt. | |
| Ihr Begriff von Kunst ist dynamisch, auf die Zukunft gerichtet und stößt | |
| sich an den verkrusteten, selbstgenügsamen Dogmen der Altvorderen. Hier | |
| werden Kontroversen verhandelt, die etwa auch Manfred Krug im Film „Spur | |
| der Steine“ suggestiv ausgetragen hat und die von der Ungeduld einer | |
| lebensgierigen neuen Generation künden. | |
| Darin liegt auch die kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Romans. Brigitte | |
| Reimann hat die Nazizeit noch bewusst erlebt, und sie wuchs in das | |
| Versprechen einer sozialistischen Gesellschaft hinein, die deswegen so | |
| attraktiv erschien, weil sie ein Gegenmodell zur Bundesrepublik war – in | |
| dieser verband sich für sie der Kapitalismus mit der Kontinuität | |
| nationalsozialistischer Ideologien. | |
| ## Die handschriftliche Urfassung | |
| Die Verteidigung der DDR-Ideale erscheint in der Generation Reimanns oder | |
| Christa Wolfs durchaus glaubwürdig. Und mit am interessantesten ist in den | |
| „Geschwistern“ die Diskussion über Kunst, in der Elisabeth und ein alter, | |
| von den DDR-Oberen hofierter stalinistischer Künstler aufeinanderprallen: | |
| Elisabeth verficht gegenüber dem eindimensionalen und „volkstümlichen“ – | |
| heute würde man vielleicht sagen: „niederschwelligen“ – Arbeiterkult etw… | |
| Offenes und Riskantes. Das greift über DDR-interne Auseinandersetzungen | |
| hinaus und wirkt immer noch aktuell. | |
| „Die Geschwister“ sind jetzt wieder aufgelegt worden, weil es 2022 in | |
| Hoyerswerda bei Bauarbeiten in Brigitte Reimanns ehemaligem Wohnhaus zu | |
| einer überraschenden Entdeckung kam. In einem Verschlag unter einer Treppe | |
| tauchten große Teile der handschriftlichen Urfassung des Romans auf. Durch | |
| die neu edierte Ausgabe – es wurden auch Korrekturen Reimanns selbst für | |
| einen geplanten Sammelband Ende der sechziger Jahre berücksichtigt – kann | |
| man die Eingriffe der Zensur bei der Erstausgabe genau verfolgen. | |
| Gestrichen wurden damals Stellen wie die über den aufrechten Kommunisten | |
| Steinbrink, der sich über dumme Anordnungen hinwegsetzt: „Als er aber dann | |
| ein paar Jahre später das Parteiverfahren hatte, sollte es sich zeigen, | |
| dass er eine strengere und stolzere Disziplin besaß als die jungen | |
| redegewandten Sekretäre, die über ihn richteten.“ | |
| ## Zündstoff in der Druckversion | |
| Auch die Erwähnung [2][des jugoslawischen Partisanenführers Tito] – als | |
| sozialistischer Abweichler ein gefährlicher Feind des sowjetisch-orthodoxen | |
| Systems – wurde getilgt, und was die Moral angeht, ist es bezeichnend, was | |
| die Zensur aus dem Satz „Du hast eine männermordende Taille“ machte: „Ich | |
| könnte deine Taille mit zwei Händen umfassen.“ Reimann trug bei der | |
| Zeichnung einiger Charaktere wohl zu dick auf, um solch subversive Stellen | |
| einschmuggeln zu können. | |
| Auch die Druckversion der „Geschwister“ barg 1963 Zündstoff. Im Nachhinein | |
| ist hier schon zu ahnen, dass Brigitte Reimann nach dem berüchtigten | |
| ZK-Plenum vom Dezember 1965 ihre Begeisterung für den DDR-Sozialismus immer | |
| mehr als „naiv“ wahrnahm. | |
| Ihre Desillusionierungen wurden zum Stoff ihres nachgelassenen großen | |
| Romanfragments „Franziska Linkerhand“. Die frühen „Geschwister“ hatten… | |
| sie schon einige Jahre später einen Nachgeschmack, der dem entsprach, was | |
| Elisabeth und ihr Bruder eines Nachts mit tränenden Augen zu sich nehmen: | |
| „Prärieaustern“. | |
| 22 Mar 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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