# taz.de -- Die These: Bald schon wird Kassandra geglaubt | |
> Denis Scheck findet Christa Wolfs „Kassandra“ langweilig. Wer das | |
> langweilig findet, findet auch Klimawandel und Verkehrskollaps | |
> langweilig. | |
Bild: Kassandra ruft – doch viele wollen es nicht hören | |
Der Literaturkritiker [1][Denis Scheck hat Ende Juni das Buch „Kassandra“] | |
von Christa Wolf im SWR in Flammen aufgehen lassen. Allein die Geste – ein | |
Buch verbrennen – ist geschichtsvergessenes Tun. Auch wenn Scheck finden | |
mag, er habe das Buch nicht verbrannt, sondern vaporisiert – mit einem | |
Lichtblitz, der aus seinem Ärmel kommt. | |
Der Kritiker erstellt derzeit seinen Kanon der schlechten Bücher. | |
„Kassandra“ von Christa Wolf zählt er dazu. Er hält es für eine einzige | |
miesepetrige „Suada“, die die Welt düster und grau beschreibt. „Wer | |
Christa Wolf liest, hat nichts zu lachen“, sagt er in dem Video, das auf | |
der Homepage des Senders steht. | |
Geprägt von Besserwisserei, moralischer Überlegenheit und selbstzufriedenem | |
Pharisäertum sei ihre Prosa. Und was ihn an der Erzählung besonders zu | |
ärgern scheint, ist der mangelnde Respekt vor Männern. „Alle Männer sind | |
ich-bezogene Kinder“, zitiert er aus dem Buch. | |
Kassandra ist in der griechischen Mythologie eine Königstochter, der der | |
Gott Apollon die Sehergabe verlieh. Sie sieht, was in der Zukunft passiert, | |
sie sieht den Untergang Trojas. Nur dass, es ist ein Fluch, niemand ihren | |
Prophezeiungen glaubt. Denn Apollon, beleidigt, verhängte den Fluch über | |
sie, als er sie begehrte, sie jedoch nichts von ihm wissen wollte. | |
Christa Wolf beschreibt auf den 160 Seiten die letzten Tage der Kassandra, | |
nachdem Troja zerstört ist und sie verschleppt wird. Wolf stellt sich | |
Kassandra als reale Person vor, stellt sich vor, wie es für sie ist, als | |
Frau in einer Männergesellschaft keine Wortgewalt zu haben. Ein bis heute | |
wichtiges Thema. | |
Kassandra lässt in diesen letzten Stunden ihr Leben Revue passieren, denn | |
sie weiß, bald wird sie getötet. Wie kann Scheck als | |
Literaturwissenschaftler diesen Zusammenhang ignorieren und Wolf angesichts | |
des sich abzeichnenden Geschehens vorwerfen, ihr Buch, das brillant | |
geschrieben ist, sei nicht mal in der Lage, die griechische Mythologie zu | |
erklären, geschweige denn, es könne erfreuen? | |
Bezogen auf die Gegenwart ist Kassandra, was heute viele | |
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind: Seherinnen und Seher ohne | |
Wirkmacht, ohne Wortgewalt. Vor allem, wenn sie Unpopuläres erforschen. | |
Viele warnen seit Jahrzehnten. Sie warnen etwa vor dem Klimakollaps. | |
Passiert ist kaum etwas. | |
Andere erforschen unermüdlich die sozialen Verwerfungen, die | |
Neoliberalismus und Globalisierung verursachen. Ein politisches Umdenken | |
hin zu mehr Gerechtigkeit und Gleichheit ist dennoch nicht zu erkennen. | |
Wieder andere belegen faktenreich, dass etwa das Gift auf den Äckern und | |
die Allmacht der Autoindustrie nicht ein Segen, sondern ein Fluch sind – | |
und werden belächelt. Manche in der Politik hören lieber auf Schmeichler, | |
Lobbyisten wohl. Kassandras Bruder Paris ist auch so einer, der seinen | |
Vorteil im Blick hat. Er befördert den Untergang Trojas. | |
Aber – und das ist hier die These – bald schon wird den modernen Kassandras | |
doch geglaubt. Denn ein Großteil der Bevölkerung hat mittlerweile | |
Sehergabe, wenn es um die Frage des Untergangs geht. Nicht nur um den | |
Untergang einer Stadt, sondern um den Untergang des Lebens auf dem | |
Planeten, wie wir es kennen. Laut einer [2][Umfrage, veröffentlicht im | |
Tagesspiegel,] geben 75 Prozent der knapp 33.680 Abstimmenden an, dass sie | |
davon ausgehen, dass das 1,5-Grad-Ziel – die Erderwärmung soll auf 1,5 | |
Grad begrenzt werden, um noch beherrschbar zu sein – nicht zu halten ist. | |
Gut, es ist nur eine dieser Abstimmungen, mit denen im Netz Meinungen | |
abgefragt werden. Aber das Ergebnis könnte vielen in der Politik doch zu | |
denken geben. Ihrem bräsigen Weiter-so, das den meisten vermeintlich nicht | |
weh- und den Konzernen guttut, traut ein Großteil der Abstimmenden nicht | |
mehr. Und zu Recht. Noch zwei Wochen vor der Flutkatastrophe in | |
Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz [3][votierten CDU und SPD im | |
Bundestag geschlossen dagegen, den Klimanotstand] auszurufen, der sie | |
zwingen würde, alle Ausgaben auf Klimaverträglichkeit hin zu prüfen. | |
Wer den Planeten retten will, muss radikale Maßnahmen durchsetzen. Der | |
soeben erschienene IPCC-Bericht des Weltklimarats macht das klar. D[4][as | |
Umweltbundesamt hat die Kernbotschaften des Berichts zusammengefasst.] Die | |
sind: Die Verbrennung fossiler Brennstoffe muss gestoppt werden; | |
klimaschädliche Subventionen von Kohle, Öl und Gas müssen aufhören; es muss | |
nachhaltig investiert werden; die CO2-Reduktion muss vorangetrieben werden. | |
Und das alles schnell. „Alle Lebensbereiche und unsere gesamte Lebensweise“ | |
seien betroffen, steht im Bericht. Da verwundert es doch sehr, dass die | |
Umweltministerin Svenja Schulze und die Forschungsministerin Anja Karliczek | |
in der [5][Pressekonferenz zum IPCC-Bericht] vor allem auf | |
„Anpassungsmaßnahmen“ abzielen. | |
Anpassung, das insinuiert: Alles ist kontrollierbar. Anpassung ist das | |
Wort, das wie eine Bandage angelegt wird, damit vor der Bundestagswahl die | |
künftigen Zumutungen und Verzichte nicht benannt werden müssen. „Das alte | |
Lied“, lässt Christa Wolf Kassandra sagen, „dass wir lieber den bestrafen, | |
der die Tat benennt, als den, der sie begeht. Da sind wir, wie in allem | |
übrigen, alle gleich. Der Unterschied liegt darin, ob mans weiß.“ | |
Denn klar ist, die Einschnitte in unseren Lebensstil werden kommen. Nicht | |
nur im Großen, sondern auch im Kleinen. Doch erst die kleinen Ideen zeigen, | |
wie hart der Widerstand ist, den die PolitikerInnen fürchten. | |
Ich bin keine Kassandra, aber im Kleinen hab ich hin und wieder Ideen. | |
Einst fragte ich den [6][Rechtsexperten der SPD in Berlin, Fritz | |
Felgentreu], warum die Zahl der Autozulassungen nicht gedeckelt wird, der | |
Vorrang der Autos vor Menschen sei nicht zeitgemäß. Felgentreu reagierte | |
genervt. Unmöglich, damit würden Freiheitsrechte eingeschränkt. Die | |
Freiheit des Konsums. Dann überlegte er weiter: Gut, kaufen könnten die | |
Leute die Autos doch, nur eben nicht damit fahren. | |
14 Jahre ist das Gespräch mit dem SPD-Mann her. Der Einstiegssatz damals: | |
„England säuft ab, Griechenland verbrennt – doch in Berlin ist das Auto | |
weiter eine heilige Kuh.“ Heute wette ich, dass ich es noch erleben werde, | |
dass es einen Zulassungsstopp gibt. Der Autokollaps in den Städten zeigt en | |
miniature, was zum Kollaps des Planeten führt. | |
Auch der Umgang mit einer weiteren Idee – Meerwasserentsalzungsanlagen – | |
legt die Kleinmütigkeit vieler Entscheidungsträger offen: Die Gletscher | |
schmelzen, der Meeresspiegel steigt. Das Meer wird durch das Süßwasser | |
weniger salzig, was Meeresströmungen verändert und damit auch die | |
klimatischen Bedingungen. Die [7][Dürren in Deutschland] haben damit zu | |
tun. Aber anstatt diese Anlagen an den Küsten zu bauen, mit Wellenkraft | |
betrieben sogar, um den verdorrenden Osten zu bewässern, fördert die | |
Bundesregierung lieber eine Pipeline für Gas. | |
Die ganze Mittelmeerregion verbrennt, im arabischen Raum drohen Kriege um | |
Wasser, und die Bundesregierung schickt Waffen statt Technik, die dem | |
staubtrockenen Land Wasser zuführen würde. Israel macht vor, dass man | |
[8][mit Entsalzungsanlagen] Wüsten begrünen kann. Das dem Wasser entzogene | |
Salz könnte dem Meerwasser wieder zugeführt werden. Physiker weltweit | |
arbeiten an Anlagen, die mit [9][Sonnenstrom] funktionieren – und wenn | |
das technisch noch nicht ausgereift ist, dann muss daran gearbeitet werden. | |
Schnell. Ob ich das noch erlebe? | |
Und noch ein Beispiel aus unserem Alltag: Es gebe, wird moniert, kaum | |
Baugrund. Wirklich nicht? Die versiegelten Flächen, die für Parkplätze | |
genutzt werden. Da, die vermüllten Parkbuchten, am Rand von Stadtparks | |
etwa. Warum werden darauf keine Tiny-House-Anlagen gebaut? Aber nimm einem | |
Autofahrer den Parkplatz weg, und er wird zum Tier. | |
Dennoch, ich bin sicher, auch das werde ich erleben. Immerhin: Der | |
[10][Verband norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW)] plädiert schon dafür, | |
wegen der Flächenversiegelung und des Klimawandels auf Einfamilienhäuser zu | |
verzichten, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. | |
Moderne Kassandras machen Vorschläge, für die viele PolitikerInnen keinen | |
Mut haben. Dabei unterschätzen diese die Bevölkerung. Die will gewaltige | |
Aufgaben meistern, wie die Freiwilligen, die in die Flutgebiete fahren, um | |
zu helfen, zeigen. So entsteht ein Wirgefühl. Warum macht die Politik den | |
Menschen nicht klar, dass alle bereits im Wasser stehen und es in ihrem | |
Interesse ist, gemeinsam zu handeln. Ich begreife es nicht. | |
Denis Scheck will eine Literatur, die vor sich hinplätschert. Aber da ist | |
schon Flut. Christa Wolfs Kassandra sagt es so: „Ameisengleich gehen wir in | |
jedes Feuer. Jedes Wasser. Jeden Strom von Blut. Nur um nicht sehn zu | |
müssen. Was denn? Uns.“ | |
15 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.swr.de/swr2/literatur/christa-wolf-kassandra-100.html | |
[2] https://compass.pressekompass.net/compasses/tagesspiegel/frage-des-tages-wi… | |
[3] https://www.bundestag.de/parlament/plenum/abstimmung/abstimmung?id=613 | |
[4] https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikatione… | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=aM5ykuCwqX0 | |
[6] /Archiv-Suche/!264035/ | |
[7] https://www.ufz.de/index.php?de=37937 | |
[8] https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-08/israel-wasseraufbereitung-ressource-… | |
[9] https://www.weltderphysik.de/gebiet/materie/news/2016/meerwasser-mit-sonnen… | |
[10] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/immobilien-einfamilienhaus-wohnungs… | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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