# taz.de -- Theaterpremiere „Medea²“: Jenseits von Korinth | |
> In ihrer Ko-Produktion „Medea2“ schälen das Teatro Avenida aus Maputo und | |
> das Theater Osnabrück aus dem Mythos ein Stück über Patriarchat und | |
> Fremdenhass. | |
Bild: Meist statisch und unauffällig: Cornelia Kempers und Dalila Josela Figue… | |
OSNABRÜCK taz | Am Ende steht die weiße Medea Europas Seite an Seite mit | |
der schwarzen Medea Afrikas, vereint im Kampf gegen die Macht des Mannes, | |
gegen die Angst vor der Fremdheit. Zornig stehen sie da, herausfordernd nah | |
am Publikum, aufgewühlt, aufbegehrend. Ihre letzten Sätze, bevor die | |
Scheinwerfer verlöschen: „Ich bin der Gesang von Medea! Er ist ewig!“ Wie | |
eine Warnung klingt das, wie eine Mahnung, wie ein Vermächtnis. Stark. | |
Eine Stunde nur dauert „Medea²“, die mutige, zweisprachige Koproduktion des | |
Theaters Osnabrück mit dem Teatro Avenida, Maputo, Mosambik, und diese Zeit | |
vergeht schnell. Zu schnell, um wirklich vollauf zu ergründen, „was diese | |
fremde Frau, Exotin und scheinbare Bedrohung, den Menschen in Deutschland | |
und Mosambik heute zu sagen hat“. | |
Zu schnell zumal, um „die Beziehung zwischen Europa und Afrika insgesamt“ | |
zu thematisieren, was das Theater Osnabrück vorhat. Aber es reicht, um zu | |
zeigen: Schwindet die Liebe, die Nähe, die Offenheit, droht der Hass – | |
zwischen Individuen, Gesellschaften, Nationen. | |
Auch in Maputo wird „Medea²“ zu sehen sein, ab August, in Maria Soeiros | |
Teatro Avenida, in derselben Textfassung wie in Osnabrück, mit denselben | |
Darstellern. Manches, das hierzulande an „Medea²“ fremdartig erscheint, | |
Celso Durãos Musikinstrumente etwa, von Xitende bis Mbira, ist dort dann | |
vertraut. Fremdheit? Vertrautheit? „Medea²“ zeigt: Wir mögen | |
unterschiedlich sprechen, manchmal unterschiedlich empfinden, denken, | |
handeln – im Kern sind wir alle gleich. | |
Osnabrück – Maputo? Um diese Verbindung zu verstehen, muss man bis nach | |
Stockholm ausholen. Bis zu Henning Mankell, dem Kopf hinter den | |
Wallander-Krimis. 2009 wurde ihm der Remarque-Friedenspreis der Stadt | |
Osnabrück angetragen, für seine Bücher über Afrika. | |
Maputo am Indischen Ozean aber war jahrelang seine zweite Heimat, er | |
arbeitete dort an Theaterprojekten – für Soeiros Teatro Avenida. Und das | |
teils mit Dominique Schnizer – der heute leitender Schauspielregisseur des | |
Osnabrücker Theaters ist. Die Welt ist klein. | |
Eine schwarze Medea in Deutschland? Eine weiße in Mosambik? Was hätte | |
Euripides davon gehalten, der mit seiner Tragödie vor knapp 2500 Jahren die | |
wirkmächtigste Version der Story schuf? Seine Tragödie als Stoff- und | |
Motivsteinbruch für ein Stück über Frauenbewegung und Völkerverständigung, | |
das den Mythos durch Textsplitter von Franz Grillparzer und Jean Anouilh | |
umkreist, und von Paulina Chiziane? | |
Hätte Euripides eher abgewunken? Oder hätte er im freimütigen Umgang mit | |
fremden Texten seine eigene Arbeitsweise wiedererkannt? Noch bei Pindar war | |
Medea ja eine ganz andere gewesen. Euripides war es, der aus jener weisen | |
Fremden der archaischen Quellen den Inbegriff des Bösen geformt und ihr den | |
doppelten Kindermord angedichtet hat. | |
Unter den Händen von Schnizer verwandelt sie sich erneut: Das Geschehen um | |
die zauberkundige Königstochter aus Kolchis am Schwarzen Meer bleibt zwar | |
wiederzuerkennen. Wir sind – wie bei Euripides – in Korinth, im Reich von | |
König Kreon. Und Jason, einst Führer der Argonauten, verstößt Medea, die | |
aus der Ferne mitgebrachte Fremde, weil er ein Auge auf Kreusa geworfen | |
hat, Kreons Tochter. Kreusa soll ihm Macht verschaffen; die Wilde, Medea, | |
in die Verborgenheit zurücktreten. | |
Aber es gibt Unterschiede. Medeas blutiger Weg zur Selbstbestimmung etwa. | |
Bei Euripides tötet sie Kreon, Kreusa und ihre eigenen Kinder. Bei Schnizer | |
stirbt die Rivalin Kreusa – und auch Jason ist tot. | |
Es wäre jedoch falsch, „Medea²“ als Rachedrama zu verstehen. Denn gut, | |
Jason ist ichsüchtig, grausam, undankbar: Ohne Medeas Hilfe hätte er nie | |
den Schatz, das Goldene Vließ, zu dessen Erbeutung er mit einer Handvoll | |
Abenteurern aufgebrochen war, aus den Händen ihres Vaters erobert. Und nun | |
verrät er sie – und Medea reagiert extrem: Die Freiheitssuchende wird | |
zugleich Mörderin. | |
## Ein Doppelpsychogramm | |
Schnizer zielt jedoch eher auf ein Doppelpsychogramm: das eines | |
marginalisierten Individuums und das eines intoleranten Kollektivs. | |
„Medea²“ tritt nicht an, die antike Medea zu referieren. Schnizer versetzt | |
Medeas Aufbegehren in ein zeitloses Heute. „Neger“, dieses Wort fällt | |
einmal über Medea. Und schon sind wir mittendrin in der AfD-Debatte. | |
„Medea²“ bietet ein Ensemble auf, das halb deutsch ist, halb | |
mosambikanisch. Am Anfang sind Medea, Jason und Kreusa aus Europa: alle | |
weiß – noch von Medea, Jason und Kreusa aus Afrika getrennt: alle schwarz. | |
Eine durchsichtige Wand teilt mittig die Bühne. Doch Jason durchbricht die | |
Barriere – und allseitige Durchmischung beginnt. | |
Der weiße Jason wendet sich an die schwarze Medea, zeitgleich die weiße | |
Medea an den schwarzen Jason. Beide Kreusas stellen dieselbe Frage, beide | |
Jasons geben dieselbe Antwort. Medea spricht mit Medea, gewissermaßen ein | |
innerer Monolog: Je weiter „Medea²“ fortschreitet, desto komplexer wird all | |
das verwoben. Derselbe Gedanke, zeitgleich in zwei Sprachen. Ein | |
Sprachwechsel, mitten im Satz. Mosambikanische Darsteller sprechen Deutsch, | |
deutsche Portugiesisch. Man redet überkreuz, gleichzeitig, zeitversetzt. | |
## Nicht alle Wagnisse funktionieren | |
Technisch ist das ein Wagnis. Und wie das mit Wagnissen so ist: Nicht alle | |
funktionieren. So klug und so kühn es ist, dieses Sinnbild: Stockungen | |
entstehen, weil Darsteller aus Unsicherheit zu lange aufeinander warten. | |
Verständnislücken entstehen, weil Darsteller einander ungewollt ins Wort | |
fallen. Klar, die fremden Sprachen. Klar, die Doppelbesetzungen. Das will | |
alles sortiert sein und hat alles natürlich auch seinen Subtext: | |
Kommunikation ist stets ein Lernprozess. | |
Was Schnizer mit dieser sehr intellektuellen Versuchsanordnung sagen will, | |
ist leicht zu verstehen. Einfühlen aber kann der Betrachter sich dagegen | |
nur selten. Die Inszenierung setzt auf Reduktion. Sechs rote Stühle, die | |
Trennwand, dazu sechs Darsteller*innen zwei Musiker, das war’s. Keine | |
Requisiten, keine Kostümwechsel. Auch die Lichtregie ist sparsam – bis auf | |
Bedrohlichkeit signalisierende Gewitterblitze, die auf Dauer unfreiwillig | |
komisch wirken. | |
Dazu kommt eine oft statische Spielweise: Man agiert selten miteinander, | |
man steht viel, und das oft stumm. Cornelia Kempers zum Beispiel, als | |
Kreusa Europa. Einmal steht sie, ganz in Schwarz, äußerst rechts in der | |
Ecke, in der Dunkelheit, hat lange keinen Text. Nicht schlimm, auch | |
nonverbales Spiel könnte spannend sein. Kempers Pause aber ist es nicht. | |
Mit Dalila Josela Figueiredo, Kreusa Afrika, ist das ähnlich. Sie ist die | |
unauffälligste der sechs. Meist bleibt sie hinter der Trennwand. War sie | |
überhaupt mal ganz vorne, beim Publikum? Jede Erinnerung fehlt. | |
Einige intensive Momente hat Yolanda Dina Fumo hat als Medea Afrikas. Den | |
nachhaltigsten Eindruck hinterlässt indes Maria Goldmann als Medea Europas. | |
Ihre Mimik ist ausdrucksstark, ihre Gestik, klar gesetzt, verliert nie die | |
Spannung, ihre Artikulation ist kultiviert, präzise, leidenschaftlich, | |
besonders in den metrisch geordneten, reimgebundenen Passagen. Am Ende | |
steht sie qualbebend vor uns, ihre Schminke zerfließt: Zu selten rührt der | |
Gesang der Medea in Osnabrück so an seine Ewigkeit. | |
20 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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