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# taz.de -- Opern-Wiederentdeckung: Großer Wurf auf kleiner Bühne
> Das Theater Osnabrück hat Albéric Magnards 120 Jahre alten Dreiakter
> „Guercœur“ inszeniert. Die Oper ist heute noch aktuell.
Bild: Erinnert an Wahlkampfparties von Donald Trump: Fans des Tyrannen Heurtal …
Osnabrück taz | Es ist der Abend der starken Bilder: Die schwarze Bühne,
auf der nur einzelne Gesichter zu sehen sind, fast den ganzen ersten Akt
hindurch, und am Ende, als dem toten Guercœur im Himmel das Leben
zurückgegeben wird, bildet sich ein riesiger Kopf aus Licht, durchbohrt uns
mit leerem Blick. Die blutige Reanimations-Szene, in der der wiedergeborene
Guercœur zum zweiten Mal stirbt, getötet von seinen eigenen Anhängern, die
von Kämpfern für die Demokratie zu Kämpfern für die Diktatur geworden sind:
Ein Rettungsassistenten-Team legt eine Infusion, gibt
Defibrillator-Schocks, setzt Spritzen.
Es ist der Abend der gesanglichen Brillanz: Bariton Rhys Jenkins, als
Guercœur, bewältigt seine große Rolle mit Kraft und Präzision. Sopranistin
Lina Liu, als Himmelswesen Vérité, legt in ihren Hoffnungsmonolog, in ihre
Vision einer gerechteren, friedvolleren Welt, so viel Leidenschaft, dass
dieser hochemotionale Verheißungs- und Sehnsuchtsmoment des dritten Akts
der Höhepunkt der über drei Stunden ist, die [1][Albéric Magnards] Oper
„Guercœur“ in Osnabrück dauert.
Es ist der Abend der Symbole: Die drei gewaltigen Kreise aus schwebendem
Licht, die sich futuristisch auf das Geschehen herabsenken, stehen für die
Unendlichkeit. Der rote Handschuh, den Nana Dzidziguri als Himmelswesen
Souffrance trägt, steht für die Wunden, die Guercœur empfangen wird, der ja
nur deshalb auf die Erde zurückdarf, weil er noch nicht gelernt hat, was
Schmerz und Demut bedeuten.
Es ist der Abend der inszenatorischen Strenge: Regisseur [2][Dirk
Schmeding] setzt so konsequent auf reduzierte Gestik und Mimik, auf kurze,
höchst bewusst zurückgelegte, überhöht langsame Wege seiner Darsteller,
dass es fast nicht auffällt, dass er Sänger dirigiert und keine
Schauspieler.
## Abend der leeren Räume
Es ist der Abend der leeren Räume: [3][Martina Segna] dampft ihr Bühnenbild
auf das absolute Minimum ein. Da ist das Grab, dem Guercœur entsteigt. Da
ist das Bett, in dem Guercœurs Frau Giselle mit Guercœurs Nachfolger
Heurtal Sex hat, Machtmissbrauch plant, Champagner trinkt. Da ist der
Konferenzraum, in dem Guercœur seinen zweiten Tod erleidet. Da ist der
weiße Sarg, in dem Guercœur verbrannt wird.
Es ist der Abend der politischen Agitation: Um zu zeigen, wie viel
Aktualität Magnards Anti-Totalitarismus-Oper noch heute hat, collagiert
Videokünstler Roman Kuskowski Ku-Klux-Klan-Aufmärsche aus den USA und
Neonazi-Krawalle aus Deutschland. Und Heurtal, der die republikanische
Freiheit, die Guercœur dem Volk errungen hat, durch eine nationalistische
Tyrannei ersetzen will, hat einen Auftritt, der an US-Präsident Trump
erinnert: Johlende Fans mit Fahnen und Plakaten stürmen ins Publikum,
Luftballons schweben ins Parkett.
Es ist ein großer, ein großartiger Abend. Und es ist ein Abend eines
kleinen Wunders. 88 Jahre nach der Uraufführung ist „Guercœur“ erstmals
wieder auf einer Bühne zu sehen. Und diese Bühne steht nicht in einer
Metropole, sondern in der niedersächsischen Provinz, im Stadttheater von
Osnabrück.
Sicher, die Musiksparte des Theaters Osnabrück präsentiert oft Stücke
abseits des gängigen Repertoires. [4][Ferruccio Busonis „Doktor Faust“] ist
noch nicht lange her, ebenso Tommaso [5][Traettas „Antigona“] und Sidney
[6][Corbetts „San Paolo“].
## Entdeckung besonderer Art
Aber „Guercœur“ ist eine Entdeckung besonderer Art. Nicht nur, dass hier
jemand, der sein Volk vom Totalitarismus befreit hat, erkennen muss, dass
dasselbe Volk kurze Zeit später alles daransetzt, diesen Totalitarismus
wieder einzuführen: „Das Vaterland über alles!“. Nicht nur, dass hier
jemand, der als Bezwinger der Despotie eigentlich ein Sympathieträger ist,
zugleich Skepsis weckt, weil er krank ist vor Ruhmsucht. Die Läuterung, die
hier beschworen wird, könnte moderner nicht klingen: „Die Vermischung der
Rassen und Sprachen“, singt Vérité inbrünstig, „wird der Menschheit eine
Kultur des Friedens geben …“.
Ungewöhnlich ist schon die Geschichte der Oper selbst: 1914 werden die
Noten zu Akt 1 und 3 vernichtet, als Magnard in seinem Landhaus gegen eine
deutsche Kavalleriepatrouille zur Waffe greift – Magnard wird erschossen,
sein Haus geht in Flammen auf, „Guercœur“ muss rekonstruiert werden, erst
1931 wird die Oper inszeniert.
Dieser Abend macht vieles richtig. Generalmusikdirektor Andreas Hotz
wuchtet seine spätromantische Dramatik so machtvoll aus dem
Orchestergraben, dass allein das pure Zuhören ein Genuss ist. Gut auch,
dass Schmeding Akt 2 nicht im Mittelalter spielen lässt, sondern im Heute,
verstehbar als Kritik an Sammelbecken rechter Demagogen wie AfD, NPD und
III. Weg. Und der Chor singt, was wie überirdisch klingt, teils von der
Beleuchtungsbrücke herab.
Klar, es gibt Hakeligkeiten. Zum Beispiel, dass die Gesichter, die in Akt 1
aus dem Dunkel erscheinen, von Lampen erhellt werden, die die Darsteller am
Körper tragen – was leider zu sehen ist. Zum Beispiel, dass die satirische
Schlafzimmerszene in Akt 2 unfreiwillig in Richtung Komödie driftet. Und,
ja, wer je selber beim Rettungsdienst war, merkt, dass Guercœurs Retter,
sagen wir mal, etwas planlos agieren. Aber das fällt nicht ins Gewicht.
Am Ende gab es Standing Ovations. Verdient.
26 Jun 2019
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Alb%C3%A9ric_Magnard
[2] https://www.operabase.com/a/Dirk_Schmeding/30387/de
[3] http://www.martinasegna.com/
[4] https://www.noz.de/deutschland-welt/kultur/artikel/1290373/das-beste-kommt-…
[5] /!5476031/
[6] https://www.die-deutsche-buehne.de/kritiken/aus-dem-leben-eines-heiligen
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## TAGS
Oper
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Klassische Musik
Literaturwissenschaft
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