# taz.de -- Seltene Oper: Doktor Faust im Ameisenland | |
> Im Theater Osnabrück feiert bei Ferruccio Busonis „Doktor Faust“ die | |
> Musik einen bitteren Sieg über die darstellerische Leistung. | |
Bild: Mephistopheles Jörg Müller besiegt Rhys Jenkins (Faust) auch darsteller… | |
OSNABRÜCK taz | Wer Gelehrten beim Gelehrtsein zusieht, merkt schnell: | |
Wirklich Spaß macht Gelehrsamkeit nicht. Hier und dort blättert jemand | |
gedankenvoll eine Buchseite um. Dort und hier starrt jemand gedankenvoll | |
ins Leere. Aber das war's dann auch schon. | |
Und nun stellen wir uns vor, wie es bei Doktor Faust aussieht, dem | |
Gelehrtesten aller Gelehrten. Klar: Bücherblättern, Starren. Ab und zu | |
gießt sich jemand vielleicht auch einen Drink ein. Oder geht ein paar | |
Schritte. Hauptsache gedankenvoll. | |
Genauso fängt [1][Ferruccio Busonis „Doktor Faust“] in Osnabrück an. | |
Andreas Hotz fordert seinem Orchester eindrucksvolle Stimmungswerte ab, vom | |
ersten Takt an, sehr präzise, sehr beherrscht. Aber das, was wir zum Start | |
auf der Bühne sehen, minutenlang, stumme Gelehrte beim Gelehrtsein, sticht | |
von der dramatischen Wirkung seiner neoklasszistischen Klangkulisse | |
ziemlich ab. Ein Auftakt musikalischer Kraft, aber inszenatorischer | |
Schwäche. | |
## Programmatischer Mut | |
Mit der Entscheidung für Busonis Oper stellt die Musiksparte des Theaters | |
Osnabrück einmal mehr unter Beweis, wie programmatisch ihr Mut ist, Stücke | |
zu präsentieren, die abseits des gängigen Repertoires liegen. Und das | |
verdient Respekt. Aber solche Wagnisse bergen Risiken. Bei Tommaso Traettas | |
„Antigona“, Mitte Januar, ging alles gut – grandios gut. Bei Sidney | |
Corbetts Pasolini-Uraufführung „San Paolo“, Ende April, ging manches schief | |
– desaströs schief. | |
Nun also Busonis eher volkstümlich-unphilosophische Adaption des | |
Faust-Mephistopheles-Stoffs. Gut, sie bietet alles auf, was aufbieten muss, | |
wer den teuflischen Pakt illustrieren will, der Faust am Ende die Seele | |
kostet: Blut, Okkultes und Geisterstimmen, Verführung, Entgrenzung und | |
Intrige. Und Gretchen natürlich. Aber der Abend erreicht zu wenig, weil er | |
zu viel will. Und das liegt vor allem an Andrea Schwalbachs Regie. | |
## Unfreiwillige Komik | |
Faust-Darsteller Rhys Jenkins, zum Beispiel. Der walisische Bariton ist | |
zwar stimmlich stark, darstellerisch aber eine Belastung. Alle paar | |
Augenblicke rollt er so unmotiviert wie über-theatralisch die Augen, | |
taumelt verzweiflungsschwer von Stuhl zu Stuhl, sinkt ermattet zu Boden. | |
Hilflos wirkt das, monoton, redundant – oft sogar, zumal in Momenten | |
düsterster Tragik, unfreiwillig komisch. | |
Die wenigsten seiner zahllosen Wege von rechts nach links, hinten nach | |
vorn, von Buch zu Buch, Mitspieler zu Mitspieler, sind nötig. Keiner seiner | |
Gedanken wirkt wie wirklich gedacht, keine seiner Empfindungen wie wirklich | |
empfunden. Alles ist nur Behauptung, Beiwerk seiner Gesangsleistung – und | |
so überfett aufgetragen, dass es wehtut. | |
## Leeres Tun, wohin man blickt | |
Hätte Jenkins sich nur ein wenig an Gast Jürgen Müller orientiert, der als | |
Mephistopheles weitaus mehr Ausdruck hat – und weitaus mehr Eindruck | |
hinterlässt. Der Tenor, ab der Spielzeit 2018/19 wieder Teil des Ensembles | |
der Semperoper Dresden – an der 1925 Busonis „Doktor Faust“ uraufgeführt | |
worden war – dosiert seine Mittel subtil. Auch von Bassbariton Genadijus | |
Bergorulko, dem Zeremonienmeister, hätte Jenkins schauspielerisch lernen | |
können. | |
Jenkins ist nicht die einzige Schwachstelle. Leeres Tun, wohin man blickt – | |
Manierismen, Füllsel. Der eine steht auf, geht drei Schritte, setzt sich, | |
starrt gedankenvoll eine Weile, steht wieder auf. Der andere rückt einen | |
Sessel 10 Zentimeter nach vorn, setzt sich, beginnt zu lesen, steht wieder | |
auf, rückt einen anderen Sessel. | |
Der eine beginnt zu lesen, mitten Buch, hört schon Sekunden später wieder | |
auf, steht auf, geht ein bisschen, setzt sich wieder, stiert eine Weile vor | |
sich hin, steht wieder auf. Bücherstapel werden neu sortiert, abgestaubt, | |
durcheinander geworfen. Stets herrscht [2][ameisenhafte] Geschäftigkeit. | |
## Planloses Gewimmel | |
Wäre dieses Bühnengewimmel eine symbolische Formel, wäre alles gut. Aber | |
das ist es nicht; dazu wirkt es zu beiläufig. Besonders deutlich wird das | |
am Chor. Er macht, was Chöre eben so machen, um nicht nur dazustehen und zu | |
singen: Man tut so, als interagiere man miteinander, hier ein Nicken, dort | |
ein halbsekundenkurzes ‚Gespräch‘, aber außer Aufgesetztheit kommt dabei | |
nicht viel heraus. | |
Wie uninspiriert vieles inszeniert ist, zeigt allein der Servierwagen, mit | |
seinen Karaffen, seinen Gläsern. Mal steht er rechts, mal links. Ständig | |
setzt sich jemand dran, schenkt sich ein, trinkt – ohne Auswirkungen. Nur | |
bei Faust ist das anders. Er trinkt. Und weil er weiß, dass er danach | |
betrunken sein muss, ist er danach betrunken. Übergangslos, in | |
Sekundenschnelle. Nach ihrem leblosen Auftakt will Schwalbach Leben | |
erzeugen, aber sie erzeugt nur Betrieb – gegen den sich Hotz mit dem | |
hochkonzentrierten Ernst seines Orchestergrabens souverän behauptet. | |
Auch Anne Neusers Bühnenbild versucht, je weiter die Handlung | |
fortschreitet, mehr Leben zu gebären. Großflächige Prospekte schweben aus | |
dem Schnürboden herab, schweben wieder hinauf, mal ein knorriger | |
Märchenwald drauf, mal ein röhrender Hirsch. Lampen fahren rauf und runter, | |
ebenso ein gedeckter Tisch. Irgendwann geht auch ein Glitzerregen nieder. | |
Warum? | |
Wahrscheinlich, weil wir hier im Theater sind, und da oben nun mal eine | |
Bühnenmaschinerie ist, die sich benutzen lässt. Auch manches Kostüm von | |
Stephan von Wedel löst Verwunderung aus: Männer in Stöckelschuhen, mit sexy | |
Strumpfhosen? Mephistopheles in zirkushaftem Flitterjäckchen? Das sind | |
Schauwerte ohne Bezug zur Handlung. | |
Überhaupt: die Handlung. Klar, da kann Schwalbach viel voraussetzen. Faust | |
kennt schließlich jeder, zumindest ansatzweise. Außerdem sind da ja noch | |
die Text-“Übertitel“ auf den Monitoren rechts und links der Bühne. | |
Überflüssig, weil Deutsch gesungen wird, sind sie nämlich nicht: Nicht | |
jeder, der hier auf der Bühne steht, ist ein Muttersprachler – was teils zu | |
erheiternden Betonungen führt. Gute Voraussetzungen also, alles | |
mitzukriegen, was passiert. Aber Schwalbachs Regie verunklart's wieder. | |
Zum Beispiel, wenn diese drei Krakauer Studenten auftauchen, um Faust das | |
Geisterbeschwörungs-Buch [3][„Clavis Astartis Magica“ zu bringen]. Klar, | |
einer der Studenten singt „Dieses Buch leg ich in deine Hand“. Aber warum | |
er es dann, als Faust das Buch nehmen will, nicht loslässt, gar mit Faust | |
darum kämpft – rätselhaft. | |
## Erklären wird überbewertet | |
Vieles bleibt erklärungsbedürftig. Zum Beispiel, was eigentlich auf dem | |
riesigen Hintergrundprospekt zu sehen ist, der nach der Pause halbzerstört | |
runterhängt wie das Segel eines französischen Zweideckers [4][nach der | |
Schlacht von Trafalgar]. Eine Varieté-Szene? Ein Totentanz? Und warum | |
greift Neuser machmal in die Trickkiste, um es aussehen zu lassen, als | |
zerfließe das Motiv? | |
Auch wer das Programmheft liest, wird nicht schlauer. Denn wie sagt Andrea | |
Schwalbach da? „Erklären ist sowieso die ganz falsche Herangehensweise für | |
das Stück.“ Drei Stunden „Faust“ also, über Moral und Selbstbescheidung, | |
mit Einsprengseln von Fantastik bis Commedia dell'Arte, im freien Fluss | |
zwischen Realität und Fantasie, die einfach so hinzunehmen sind. | |
Bleibt der letzte Satz des Werks. Jürgen Müller sagt ihn, in seiner | |
Zweitrolle als Nachtwächter, über den toten Faust: „Sollte dieser Mann | |
verunglückt sein?“ Nein, nicht der Mann. Aber die Inszenierung. | |
21 Jun 2018 | |
## LINKS | |
[1] https://www.breitkopf.com/work/1546/doktor-faust-busoni-verz-303 | |
[2] https://books.google.de/books?id=6VdEDAAAQBAJ&pg=PT8&lpg=PT8&dq… | |
[3] http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-doktor-faust-375/8 | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Trafalgar | |
## AUTOREN | |
Harff-Peter Schönherr | |
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