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# taz.de -- Buch „Der populäre Pakt“: Kleine Form des sinnlichen Glücks
> Literaturwissenschaftlerin de Mazza beschreibt die Entwicklung der
> populären Künste – von der Französischen Revolution bis in die zwanziger
> Jahre.
Bild: „Ball im Moulin Rouge“, Henri Toulouse Lautrec, 1890
„Die Geringschätzung des niederen Volkes wirkt auch in den Konnotationen
des Begriffs populär nach“, stellt Ethel Matala de Mazza fest. „Von den
unteren Ständen geht das Stigma auf die urbanen Massen über, auf denen seit
der Französischen Revolution der Argwohn lastet, Entzündungsherd von
Unruhen zu sein“, so die an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrende
Literaturwissenschaftlerin.
In ihrem Buch „Der populäre Pakt. Verhandlungen der Moderne zwischen
Operette und Feuilleton“ beschreibt Matala de Mazza die Entwicklung der
populären Künste von der Französischen Revolution bis in die zwanziger
Jahre, bevor der Faschismus weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft
liquidierte.
Sie wendet sich dabei sowohl gegen eine nur auf die sogenannte Hochkultur
fixierte Analyse bürgerlicher Öffentlichkeit als auch, mit Verweis auf
Jürgen Habermas, gegen ein den Strukturwandel der Öffentlichkeit als
Verfallsgeschichte auffassendes Verständnis. Mit dem populären Pakt werde
ein „demokratisches Versprechen der allgemeinen Teilhabe ästhetisch
erneuert“.
Die Geschichte des seichten Theaters und der petite presse führt in die
Gegenden der Großstadt. Außerhalb der repräsentativen Opernhäuser und der
oberen Zehntausend erkundet die Autorin „Festplätze, Tanzsäle, Boulevards,
Vergnügungsparks, Warenhäuser“, die von der Halbwelt und den Unbekannten,
den anonymen Stadtbewohnern, bevölkert werden.
## Überwindung der Tragödie
Dass sich auch die scheinbar banalen Gegenstände des Alltags als
geschichtliches und gesellschaftliches Zeichen lesen lassen, ist Matala de
Mazzas Methode, die sie Gewährsleuten wie Walter Benjamin und Siegfried
Kracauer entlehnt. Nach der Revolution von 1789 kommt es in Frankreich zu
einer Neuordnung des Theaterlebens. Statt großer Oper für den Hof stehen
Vernunftfeste und nächtliche Tanzveranstaltungen für das Volk auf dem
Programm. Die sozialen Verhältnisse sollen entdramatisiert werden, die
Tragödie gilt im Leben wie auf der Bühne für überwunden. Der Bürger feiert
sich selbst, als Gleicher unter Gleichen.
Doch mit der Jakobinerherrschaft ging auch die revolutionäre Festkultur
unter, die man nach Matala de Mazza als „Pionierleistungen eines
Regietheaters“ und „politische Revue avant la lettre“ verstehen kann. Nun
diffundierte die revolutionäre Kultur in die „kleinen Formen“, verzog sich
in die Tanzlokale, versteckte sich auf Maskenbällen.
Mit dem Second Empire von Louis Napoleon ab 1852 kam es zu einer
Kommerzialisierung des Nachtlebens und des Vergnügens. Haussmanns
Umgestaltung von Paris schuf die breiten Boulevards, Plätze und Parks, die
zum Flanieren einluden, die Stadt wurde eine Bühne, die Gesellschaft wurde
theatraler. Das Feuilleton reagiert mit neuen Genres, die Boulevardtheater
entstanden und die Operette wurde populär. „Die Operette konnte entstehen,
weil die Gesellschaft, in der sie entstand, operettenhaft war“, heißt es in
Kracauers „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“.
## Glanz der Operette
In der Operette sieht Matala de Mazza eine Tendenz, die in Frankreich mit
den Überresten des Ancien Régime aufräumt. Bürgerliche Umgangsformen
popularisieren sich, die Revolution des Bürgertums konsolidiert sich auf
diese Weise. Im Second Empire setzt sich das Tauschprinzip durch, alles
wird käuflich, Spekulation an der Börse und Prostitution sind in weiten
Kreisen üblich. Die Operette mit ihren schnellen Nummern und Tänzen
entspricht dieser Tendenz. Mehr Glanz als Inhalt, mehr Tausch- als
Gebrauchswert. Aber darin offenbart sie das gesellschaftliche Prinzip,
zeigt ehrlich die Verdinglichung der Realität, die auch die „großen Formen�…
affiziert.
„Während die Tragödie als kleinere Farce gelten kann, weil sie sich als
solche nicht durchschaut und den Suggestionen der eigenen Mimesis verfällt,
travestiert die ‚echte‘ Farce diese Mimesis. Sie klärt die Tragödie über
sich selbst auf, indem sie dies als ‚leere‘ Reprise zu erkennen gibt, die
sie je schon war“, schreibt Matala de Mazza in Bezug auf Marx’ Ausspruch
über Tragödie und Farce. Die Selbstherrlichkeit des Geistes wird kritisiert
durch die kleinen Formen, die auf sinnliches Glück für die große Zahl
drängen.
Matala de Mazza spürt den verschlungenen Wege dieses Glücksversprechens in
der Moderne nach, bei Heinrich Heine und Karl Kraus ebenso wie bei Jacques
Offenbach und Franz Lehár. Sie hat ein materialreiches und gut lesbares
Plädoyer für mehr als nur einen flüchtigen oder abschätzigen Blick auf die
populären Formen in der Moderne geschrieben.
5 Aug 2019
## AUTOREN
Jakob Hayner
## TAGS
Literaturwissenschaft
Ethel Matala de Mazza
Hochkultur
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Oper
Operette
Gegenwart
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