| # taz.de -- Schnitzler auf der Ruhrtriennale: Schlamperei der Herzen | |
| > Barbara Frey ist Intendantin der Ruhrtriennale. In der Jahrhunderthalle | |
| > Bochum hat sie Schnitzlers „Das weite Land“ inszeniert – als dunkle | |
| > Fantasie. | |
| Bild: „Das weite Land“ von Barbara Frey auf der Ruhrtriennale | |
| Düstere Aussichten. Zu Beginn verrät eine Stimme aus dem Off, was uns | |
| blüht: „Die Tierwelt, die sich unter der Erde von menschlichen Leichen | |
| nährt, besteht aus zahlreichen Insektenlarven, Puppen und selbst | |
| ausgebildeten Insekten, aber verhältnismäßig wenigen Arten.“ Viel heller | |
| wird es an diesem Abend nicht. [1][Barbara Frey inszeniert als Intendantin | |
| der Ruhrtriennale] Arthur Schnitzlers Tragikomödie „Das weite Land“ als | |
| dunkle Fantasie. | |
| 1910 in St. Petersburg uraufgeführt, kam das Stück 1911 gleich an mehreren | |
| Bühnen auf Deutsch heraus, darunter auch in Wien und in Bochum. So passt es | |
| hervorragend, dass Freys Inszenierung eine Koproduktion mit dem Burgtheater | |
| ist und nach fünf Vorstellungen in Bochum ans Akademietheater in Wien | |
| wandert. Auch fürs nächste Jahr, dem dritten und letzten ihrer Intendanz, | |
| hat sie eine Koproduktion mit Wien angekündigt. Mancher munkelt schon, sie | |
| bringe sich als Nachfolgerin von Burgtheater-Intendant Martin Kušej ins | |
| Spiel, aber das ist Schnee von morgen. | |
| ## Ein versteinertes Symbol unerfüllter Liebe | |
| Schnitzler schaut in seinem Stück einer verwöhnten Gesellschaftsschicht | |
| unter die luftigen Röcke. Amouren und Lieblosigkeiten fügt er zu einer | |
| müden Passion der menschlichen Existenz. Im Zentrum das Ehedrama zwischen | |
| dem Glühbirnenfabrikanten Friedrich Hofreiter und seiner Gattin Genia. Ein | |
| Paar wie ein Fluch. Er auftrumpfend und selbstgewiss, sie scheu und schön. | |
| Gleich zu Anfang der Vorstellung fällt ein Schuss. Er signalisiert den | |
| Selbstmord des Pianisten Korsakow, der sich aus unerwiderter Liebe zu | |
| Hofreiters Frau umgebracht hat. Während die anderen auf dem Friedhof sind, | |
| wartet Genia in einem der drei schweren Chesterfield-Sessel an der | |
| Bühnenrampe: dünn, angespannt, bitter. Ein versteinertes Symbol unerfüllter | |
| Liebe. Katharina Lorenz thront als Genia weniger auf dem Sessel als dass | |
| sie sich daran festhält, sich darin verschanzt. Ein Gespenst in einem | |
| Gespensterhaus. | |
| Michael Maertens spielt ihren Gatten Friedrich Hofreiter. Wer könnte die | |
| verklemmte Großspurigkeit dieses Mannes auch besser vorführen als er? Er | |
| ist die Hauptfigur, sahnt die meisten Lacher ab, selbst für Sätze, die bei | |
| Licht betrachtet nicht komisch sind. Man schaut ihm irrsinnig gern zu, wie | |
| er mit hängenden Armen und teigigem Ausdruck verzweifelt. Die schönsten | |
| Sätze des Stücks gehören ihm, etwa wenn er vom Leben als einer | |
| komplizierten, aber sehr interessanten Einrichtung spricht oder vom Wunsch, | |
| wieder jung sein zu dürfen, jetzt, wo er es viel besser verstünde, jung zu | |
| sein als damals. | |
| Als nach einer Stunde in den Reihen vorne Unruhe entsteht, weil einer Frau | |
| unwohl geworden ist, steht Maertens seelenruhig auf der Bühne, wartet ab, | |
| bleibt in seiner Rolle, unterbricht souverän und setzt seinen Dialog mit | |
| Katharina Lorenz später fort, als sei nichts gewesen. Das kurze Drama im | |
| Publikum markiert zudem einen Unterschied: echtes Mitgefühl für die | |
| Zuschauerin, höfliches Interesse für die Bühnenfiguren. | |
| ## Ein gut aussehender Skulpturenpark | |
| Das, was einem bei Schnitzler noch federleicht schien, kommt bei Frey | |
| erdenschwer daher. Zwei Stunden und zwanzig Minuten lässt sie ohne Pause | |
| spielen. Das ist in der stickigen Jahrhunderthalle mühselig. Die Konflikte | |
| im Stück sind verzwickt, er liebt sie, sie himmelt ihn an, er hintergeht | |
| sie, alle betrügen sich selbst, Alt gegen Jung, Sie wissen schon. Einer | |
| spricht bei Schnitzler sehr schön von „Herzensschlampereien“. Frey | |
| verdichtet diese und arrangiert die dazugehörigen Figuren zum gut | |
| aussehenden Skulpturenpark (Kostüme: Esther Geremus). Alle wirken wie | |
| erstarrt und bleiben, von kurzen Momenten abgesehen, auf Abstand, inklusive | |
| des Publikums. | |
| Die Spielfläche ist nach hinten von einem Gazevorhang begrenzt. Vorne liegt | |
| Rollsplitt aus wie Teppichboden. Die Figuren, die allesamt von hinten | |
| auftreten, leuchten erst kurz auf, bevor sie nach vorne kommen. Ein | |
| hübscher Effekt, der sich schnell abnutzt. Erst gegen Ende öffnet sich der | |
| Vorhang und die riesige Bühne gebiert ein endzeitliches Tableau. | |
| [2][Martin Zehetgruber] hat wieder einmal gezaubert. Diesmal stellt er | |
| einen gigantischen Tunnelbohrer nach, der aussieht wie ein monströses Rad, | |
| das sich in den Berg frisst. Dazwischen sitzt die Gesellschaft des Stücks | |
| vereinzelt und wie tot inmitten großer Gesteinsplatten. Wäre dieses Bild | |
| nicht, man wüsste nicht, wieso man für so eine Inszenierung überhaupt die | |
| riesige Jahrhunderthalle braucht. | |
| Es ist eine seelische Trümmerlandschaft. „Die Seele … ist ein weites Land�… | |
| sagt Doktor von Aigner an einer Stelle des Stücks. Er ist der geschiedene | |
| Mann der Schauspielerin Anna Meinhold. Beide spielt Bibiana Beglau mit | |
| blasiert pharaonenhafter Strenge, während Felix Kammerer ihren Sohn Otto | |
| als leuchtenden Springinsfeld gibt. Wie bei diesem hochkarätigen Ensemble | |
| und dieser Regisseurin nicht anders zu erwarten, ist der Abend trotz der | |
| gepflegten Langeweile, die er verströmt, ein Schauspielerfest. Keine | |
| Regiemätzchen. Das gefällt auch dem knurrigen Bayer auf dem Sitz neben mir. | |
| Enthusiastisch beklatscht er alle Mitwirkenden und verkündet: „So ein | |
| Theater sieht man an den Münchner Kammerspielen schon lange nicht mehr.“ | |
| Stimmt. | |
| 23 Aug 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ruhtriennale-unter-neuer-Intendanz/!5791297 | |
| [2] /Andrea-Breth-am-Burgtheater-Wien/!5581834 | |
| ## AUTOREN | |
| Shirin Sojitrawalla | |
| ## TAGS | |
| Ruhrtriennale | |
| Schauspiel | |
| Drama | |
| Liebe | |
| Moderne | |
| Theater | |
| Theater | |
| Ruhrtriennale | |
| Bremer Theater | |
| Tanz im August | |
| Komische Oper Berlin | |
| Theater | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Eröffnung der Ruhrtriennale: Ernsthaft wie Hamlet | |
| Wollte die Ruhrtriennale nicht weg von traditionellen Theaterformaten? Dies | |
| Jahr eröffnete das Festival dagegen klassisch mit dem „Sommernachtstraum“. | |
| Schnitzlers „Traumnovelle“ in Frankfurt: Von der Einsamkeit der Menschen | |
| Theaterregisseur Sebastian Hartmann inszeniert Schnitzlers „Traumnovelle“ | |
| in Frankfurt. Das ist weniger von Lust als von Endzeitstimmung getrieben. | |
| Tanz auf der Ruhrtriennale: Das Gesicht verbergen | |
| Choreografin Wen Hui Solo-Performance ist feministisch und persönlich. Sie | |
| hinterfragt die Rolle der Frau in China. | |
| Tschechows „Drei Schwestern“ in Bremen: Schaudern mit den Schwestern | |
| Dušan David Pařízek hat in Bremen „Drei Schwestern“ inszeniert. Der | |
| russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat Spuren in dem Klassiker | |
| hinterlassen. | |
| Internationales Tanzfestival in Berlin: Tanzwut und Lebensfreude | |
| Jetzt geht's ums Ganze – das spiegeln viele Stücke beim Festival Tanz im | |
| August in Berlin. Dabei stehen auch weniger heitere Themen im Fokus. | |
| Revue an Komischer Oper Berlin: Die schwere Kunst des Leichtesten | |
| Barrie Kosky war zehn Jahre Intendant der Komischen Oper Berlin. Mit einer | |
| Revue feierte der Australier jetzt seinen Abschied. | |
| Performance „Sehr schön und sehr tot“: Alle Frauen müssen sterben | |
| Die Kultur des Femizids von der Antike bis zur Gegenwart untersucht das | |
| Staatstheater Braunschweig in einer textlastigen Performance. |