| # taz.de -- Tanz auf der Ruhrtriennale: Das Gesicht verbergen | |
| > Choreografin Wen Hui Solo-Performance ist feministisch und persönlich. | |
| > Sie hinterfragt die Rolle der Frau in China. | |
| Bild: Tanz vor und mit dem Lichtspiel: Wen Hui in „I am 60“ auf der Ruhrtri… | |
| Es ist die männliche Schrittfolge, mit der Wen Huis Großmutter ihre Enkelin | |
| beim Tanzen führt. Ein Video zeigt, wie sie munter im privaten Kreis | |
| tanzen. Kurz ist Wen Hui erstaunt. Warum bewegt sich die Großmutter so | |
| selbstverständlich nach jener Schrittfolge, die traditionellerweise dem | |
| männlichen Geschlecht vorbehalten scheint? Die Großmutter gesteht, dass sie | |
| es genau so schon immer handhabte, wenn sie mit dem Großvater schwofte. Er | |
| habe das nie gekonnt mit diesen männlichen Tanzschritten.Diese Szene gehört | |
| zu den Privat- und Archivaufnahmen in der Performance „I am 60“, die Wen | |
| Hui jetzt auf der Ruhrtrienale zeigte. Sie ist vermengt mit Sequenzen aus | |
| frühen Stummfilmen eines Shanghais der 1930er Jahre. | |
| Auf der Bühne des Pact Zollverein flimmern Szenen aus Filmen wie | |
| „Frauenschicksale“ oder „Die Göttliche“. Für Wen Hui bedeuten sie ein… | |
| des Aufbruchs und der Infragestellung des konfuzianisch-patriarchalen | |
| China. Genauso wie Wen Huis Tanz mit der Großmutter evozieren diese | |
| Ausschnitte aus historischen FIlmen, dass Frauen im China der Vergangenheit | |
| eine emanzipiertere Rolle einnahmen, als es gegenwärtig der Fall ist. Mit | |
| „I am 60“ zeigt die renommierte Choreografin eine persönliche und | |
| feministische Solo-Perfomance. Sie befragt die emanzipatorischen | |
| Fortschritte für die Frau, aber auch den Backlash. | |
| Diese Rückschritte untermauern die Daten zum Gender Pay Gap und dem nur | |
| zweiprozentigen Anteil von Frauen in gehobenen Berufen in China. Wen Hui | |
| lässt das genauso einblenden wie die Statistiken zur Gewalt an Frauen. | |
| Demnach habe sich die Zahl der Vergewaltigungen in den letzten Jahren | |
| verdoppelt; und alle sieben Sekunden werde in China eine Frau geschlagen. | |
| Wie [1][Wen Huis frühere Bühnenarbeiten], zum Beispiel „Report on Body“, | |
| ist auch „I am 60“ eine zum Teil journalistisch recherchierte | |
| Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in China und | |
| ihren Auswirkungen auf den Körper. | |
| Wie zuvor bedient sich Wen Hui der Darstellungsmethode des „Linked Drama“, | |
| in der sich die Filmprojektionen mit der Live-Performance verbinden. Die | |
| Choreografie selbst ist zurückhaltend. Sie folgt Wen Huis Credo: „Jeder | |
| Körper hat einen Stempel.“ Es sind Einschreibungen in ein Körpergedächtnis, | |
| die die Performerin auf der Bühne entfächert. Zu diesen „Stempeln“ gehört | |
| auch ein unter Frauen verinnerlichter Patriarchalismus, Hui thematisierte | |
| dies bereits 2015 in ihrem Stück „Red“. [2][In dieser Produktion ging es um | |
| das „rote Frauenbataillon“, eine während Maos Kulturrevolution eingeführte | |
| Modelloper]. Für Selbstbestimmung war in solchen Inszenierungen kein Platz. | |
| Der Körper fungierte vielmehr als Gegenstand von ideologischen | |
| Massenchoreografien. | |
| ## Am Rand der Bühne einordnen | |
| Dass sie es im autoritären China ähnlich lernte, lässt Wen Hui nicht | |
| unerwähnt: Sie erzählt an diesem Abend, wie sie auf eine Kunstschule ging, | |
| um der damals verordneten Landverschickung zu entgehen. Dort wurde ihr | |
| vermittelt, sich am Rand der Bühne einzuordnen. Es zählte nur das | |
| Kollektiv. Später studierte sie dann in Europa bei Pina Bausch | |
| zeitgenössischen Tanz. Ihre Erkenntnis, dass der Körper jeder Tänzer:in | |
| für sich selbst spreche, vermittelte sie daraufhin in den von ihr | |
| mitgegründeten Living Dance Studios. | |
| „I am 60“ – als Geburtstagsgeschenk für sich selbst, aber auch für ihre | |
| Mutter konzipiert – ist eine tänzerische Darstellung jenes erfahrenen | |
| Drucks auf der chinesischen Kunstschule. Das Tanzstück macht aber auch die | |
| gesellschaftlichen Spuren der Armut und des Patriarchats sichtbar, etwa zu | |
| sehen in der Projektion des fast zahnlosen Gesichts ihrer Mutter. Ihren | |
| eigenen „Gesichtsverlust“ bringt sie auch zum Ausdruck, wenn sie einen | |
| Schwangerschaftsabbruch thematisiert. Für die Abtreibung benötigte sie eine | |
| Zustimmung des Danwei, der „Arbeitseinheit“, die nach der Familie die | |
| kleinste soziale Einheit in der Volksrepublik bildet. | |
| Während eine Projektion Wen Huis von dieser schweren Erfahrung erzählt, | |
| stellt die Choreografin sich selbst vor das Lichtbild und verdeckt ihr | |
| Gesicht mit den Händen. Ihre behutsamen, choreografischen Bewegungen | |
| erinnern dabei fast schon an pantomimische Stummfilmdarbietungen. Oft biegt | |
| Wen Hui den Rücken nach hinten, als erdrücke sie tatsächlich ein auf sie | |
| niedergehender Stempel. Bis schließlich Patti Smiths „The People Have the | |
| Power“ erklingt und Wen Hui tänzerisch ausbricht, als könne sie sich | |
| befreien. | |
| 5 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Benjamin Trilling | |
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