# taz.de -- Videokunst auf der Ruhrtriennale: Großes Überwältigungskino | |
> Julian Rosefeldt stellt auf der Ruhrtriennale die Filminstallation | |
> „Euphoria“ vor. Diese erzählt vom unwiderstehlichen Sog des Kapitalismus. | |
Bild: Erzeugt einen Sog: Raumansicht der Videoinstallation „Euphoria“ | |
Keine Chance auf betrachtende Distanz: Wenn man die Halle 5 der Essener | |
Zeche Zollverein betritt, werden die Sinne überfallen. Am Kopf der dunklen, | |
langen Halle ist ein riesiger Screen aufgebaut, an den Wänden verläuft wie | |
eine Banderole eine Projektion, in der sich lebensgroß die Jugendlichen des | |
Brooklyn Youth Chorus aufreihen, darüber sieht man auf fünf Screens fünf | |
Drummer, die jeweils mit den Bildern und den Klängen des Jugendchors | |
interagieren und den Drohnenflug über den verführerisch glitzernden | |
nächtlichen Moloch New York mit einer suggestiven Klangspur unterfüttern. | |
Die metallischen Drums stampfen im harten Kontrast zu den ätherisch | |
klagenden, sakral anmutenden Klangflächen der jungen Stimmen. Dieser Sound | |
(Komposition: Samy Moussa) irgendwo zwischen Thomas Tallis und Carl Orff | |
gibt den Ton vor und zieht sogartig hinein in Julian Rosefeldts minutiös | |
komponierte Bilder, die nun näher heranzoomen an jene Stadt, die noch immer | |
als das Herz des Kapitalismus gilt. | |
Nächtliche Straßen in New York, vertraute Szenen, aber plötzlich bahnt sich | |
eine Schafherde den Weg, ein Schimmel galoppiert in eine dunkle Gasse, | |
irgendwo brennt ein Haus, eine alte Frau füttert kleine, grün leuchtende | |
Drohnen statt Tauben. Surreale Szenen, die Archetypen antriggern. | |
Dann steigt ein Fahrgast mit vielen Einkaufstüten von der teuren Fifth | |
Avenue in ein Taxi und möchte in die Hafengegend von Brooklyn. Die Kamera | |
ruht nun auf dem Taxifahrer, der zu einem großen Monolog anhebt und witzig | |
lamentiert über den Zustand der Welt und die moderne Arbeitswelt als neue | |
Form der Sklaverei. | |
Den Taxifahrer gibt Hollywoodstar Giancarlo Esposito im gleichen Outfit, | |
das er bereits in Jim Jarmuschs legendärem Film „Night on Earth“ in der | |
Taxi-Episode mit Armin Mueller-Stahl trug. Sein Monolog ist eine | |
raffinierte Collage aus Texten der Welt- und Wirtschaftsliteratur von Plato | |
bis Houellebecq, Karl Marx bis Milton Friedman. | |
## Obdachlose mit Shakespeares Worten | |
Die Hommage an Jarmusch bleibt Episode, aber das Prinzip der Textcollage | |
zieht der [1][Filmkünstler Julian Rosefeldt] konsequent durch seinen fast | |
zweistündigen Film. Legt Shakespeare oder den römischen Geschichtsschreiber | |
Tacitus in die Münder von Marginalisierten, Arbeiterinnen in einem | |
Amazon-Lager, Obdachlosen am Rande eines Schiffsfriedhofs, chillenden | |
Jugendlichen an einem Unort. | |
Der dramaturgische Höhepunkt von „Euphoria“ aber ist eine Szene wie aus | |
einem Musical: In der vermeintlichen Bank of America entfesselt sich der | |
alltägliche Bankbetrieb zu einem temporeichen, surrealen Ballett aus | |
Artist*innen und Darsteller*innen im Business-Look, die über Tische | |
und Bänke turnen, und Geldscheine wie Konfetti regnen lassen, all das unter | |
den strengen Blicken eines echten Adlers, perfekt choreografiert und mit | |
vielen Tricks zusammengeschnitten zu einem atemberaubenden Crescendo. | |
Ein derart sich steigerndes Zusammenspiel aller Projektionen und Tonspuren | |
zu einem totalen Finale hat Rosefeldt schon einmal für die Ruhrtriennale | |
inszeniert, [2][2016 mit seiner vielbeachteten Arbeit „Manifesto“], | |
ebenfalls mit Schauspielerin Cate Blanchett. | |
[3][Kapitalismuskritik] als Hollywood-Spektakel? „Es kann kein Außen im | |
Kapitalismus geben“, sagt Rosefeldt der taz. Er sei sich sehr bewusst, dass | |
das ganze Projekt der kapitalistischen Ertragslogik selbst zutiefst | |
unterworfen sei. | |
## Gedreht wurde auch in Kiew | |
Deshalb habe er auch nach einem anderen Titel als dem ursprünglichen | |
Arbeitstitel „Gier“ gesucht und ihn in „Euphoria“ gefunden, um dem | |
menschlichen Urtrieb nach Wettbewerb und Wachstum Ausdruck zu verleihen. | |
„Am Anfang stand wie immer meine Ignoranz gegenüber Themen, die ich nicht | |
verstehe, nicht durchdringe. Ich gehöre zu denen, die den Wirtschaftsteil | |
überblättern, um im Feuilleton oder im Vermischten zu landen.“ | |
Das große Budget des Projekts musste klug verwaltet werden. Und so | |
entstanden viele Szenen teilweise in Bulgarien und in der Ukraine, „weil | |
wir da billiger New York erzählen konnten“, so Rosefeldt. Vier Mal war das | |
Team allein in Kiew, um im dortigen Hauptbahnhof die Musical-Szene zu | |
drehen. „Beim zweiten Dreh sind wir direkt in die kriegsvorbereitenden Tage | |
geraten und mussten Hals über Kopf abreisen. Das hat uns sehr betroffen | |
gemacht, nicht nur als Zeitzeugen, sondern weil wir sehr viele persönliche | |
Kontakte aufgebaut hatten zu Menschen dort, mit denen wir gearbeitet haben. | |
Mit einigen davon konnten wir glücklicherweise in Berlin weiterdrehen.“ | |
Das Ergebnis fasziniert und lässt zugleich ratlos zurück. Wenn am Schluss | |
ein Tiger gemächlich durch einen Supermarkt tänzelt, die Regale plündert | |
und allmählich zur Trickfigur wird, die mit Cate Blanchetts Stimme jault, | |
die unbelehrbaren Menschen „will be burried by our laughter“ und | |
schließlich triumphal singt „with joy!“, dann ist das bitterböser | |
Sarkasmus. Aber allemal glaubwürdiger als der nach fadem Kirchentag | |
klingende Solidaritätsoptimismus der chillenden Jugendlichen. | |
1 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Regine Müller | |
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