# taz.de -- Neuer Roman „Nebenan“: Schrecken in der Nachbarschaft | |
> Kristine Bilkau hat einen schauerschönen Roman vorgelegt. Eine Abrechnung | |
> mit dem Unheimlichen, ein Blick in die Untiefen der Menschen von nebenan. | |
Bild: Eine unwirkliche Stimmung durchzieht den Roman | |
Langsam ziehen die Containerschiffe durch den Nord-Ostsee-Kanal, und obwohl | |
Julia vom Schlafzimmerfenster aus nicht auf die Fahrrinne schauen kann, | |
erkennt sie doch „Stapel bunter Kästen“, die „wie von allein hinter den | |
Dächern und Bäumen“ durch die Landschaft gleiten. Die Enddreißigerin wohnt | |
noch nicht lange in dem namenlosen Dorf am Kanal, daher sind die alles | |
überragenden Frachter für sie immer noch ein „unwirklicher Anblick“. | |
Zu Beginn ihres neuen Romans „Nebenan“ etabliert [1][Kristine Bilkau] nicht | |
nur eine seltsame Stimmung, sondern eben auch das literarische Terrain, das | |
in diesem Prosawerk erkundet wird, nämlich das Unheimliche, das überall und | |
in unmittelbarer Nachbarschaft lauert. | |
Die Autorin weiß um die Erzähltradition; die schaurigen Geschichten von | |
Edgar Allan Poe und die Nachtstücke von E. T. A. Hoffmann sind in ihrem | |
Roman allerdings nur noch als schwaches Echo zu hören. Auch der Aberglauben | |
vorangegangener Generationen ragt nur kurz in die Gegenwart hinein, etwa | |
wenn Julia ihren Mann Chris bittet, doch keine Wäsche zwischen Weihnachten | |
und Neujahr aufzuhängen, weil das Unglück bringe. | |
Der belustigte Gatte, ein zupackender Biologe, ahnt nicht, dass seine Frau | |
längst Horoskope liest, weil sie hofft, von innersten Wünschen zu lesen, | |
die sich alsbald erfüllen. | |
## Ungewisse Zukunft | |
Doch die Zukunft bleibt so ungewiss wie die Gegenwart überraschend: | |
Plötzlich taucht ein unbekannter Junge vor dem Nachbarhaus auf, in dem | |
unlängst noch eine Familie gewohnt hat, die aber plötzlich verschwunden | |
ist. Das Kind hinterlässt unverständliche Botschaften, und Julia schwankt | |
zwischen Neugier und schamhafter Sorge um die Menschen, die so hektisch | |
aufbrachen. | |
[2][Kristine Bilkau ist eine Schriftstellerin, die ihre Worte mit Bedacht | |
wählt], ohne dass die literarische Sorgfalt ausgestellt ist. Selbst längere | |
Sätze wirken nicht überladen. Wenn eine Passage auf den ersten Blick | |
pathetisch wirkt, offenbart sich schon bald eine kühle Beobachtung. Ohnehin | |
wechseln die Tonlagen oft. Die Unsicherheit ihrer Figuren drückt sich auch | |
in der Sprache der Erzählinstanz aus. | |
Wie schon in ihrem Vorgängerbuch „Eine Liebe, in Gedanken“ hat Bilkau ein | |
besonders gutes Gespür, für melancholische Momente angemessen schöne | |
Formulierungen zu finden. Rätselhafte Ereignisse werden eher beiläufig | |
erwähnt, die Übergänge vom Unwirklichen zum Unheimlichen äußerst stilsicher | |
gestaltet. | |
Bilkau braucht keine knallige Handlung, keine Schurken mit Superkräften | |
oder andere Horroreffekte, um den Grusel zu inszenieren, der sich nebenan | |
abspielt. Die Menschen selbst erschaffen sich allein durch die Art und | |
Weise, wie sie leben, beängstigende Verhältnisse: Es beginnt bei der | |
Unkenntnis über die Nöte der Nachbarn und endet keineswegs mit den | |
Heimlichkeiten in der eigenen Beziehung. | |
## Region im Niedergang | |
Astrid verrät ihrem Mann nicht, dass sie sich in jeder freien Minute mit | |
einem unerfüllten Kinderwunsch herumplagt. Die immer wieder eingestreuten | |
Chatverläufe jener Frauen, die sich über ihre Erfahrungen mit immer neuen | |
Versuchen einer künstlichen Befruchtung austauschen, sind jedenfalls | |
genauso beklemmend wie die Berichte des Biologen über die allgegenwärtigen | |
Plastikpartikel in der Natur, an denen die Wildtiere der Region qualvoll | |
verrecken. | |
Ohnehin scheint die ganze Region einen bedrückenden Niedergang zu erleben. | |
Viele Ladengeschäfte stehen in der ehemaligen Garnisonstadt leer. | |
Paradeplätze zeugen zwar nicht von unbedingt besseren, aber doch | |
bedeutungsvolleren Zeiten. Inzwischen steht in der schlecht besuchten | |
Fußgängerzone die symbolhafte Ruine eines Kaufhausgebäudes. | |
Im Grunde hat sich hier der gesamte öffentliche Raum zu einer Art | |
Geisterbahn entwickelt. Weil Bilkau in sichtbarer Entfernung eine markante | |
Eisenbahnbrücke ansiedelt, nämlich eine „hohe Stahlkonstruktion, die im | |
selben Jahrzehnt wie der Eiffelturm gebaut worden war“, handelt es sich | |
vermutlich um Rendsburg. Doch Ortsnamen spielen in diesem Text keine Rolle, | |
der Roman ist kein Stadtporträt, sondern einem Phänomen auf der Spur. | |
Während die Ballungszentren boomen, die naheliegenden und schönen | |
Landschaften von gestressten und vermögenden Städtern in Beschlag genommen | |
werden, gibt es tatsächlich viele Provinzorte in nicht wirklich attraktiven | |
Gegenden, die für Investoren völlig uninteressant sind und die nicht | |
zuletzt deshalb einen halbwegs erschwinglichen Wohnraum bieten. Doch selbst | |
der ist für viele Familien zu teuer. Unheimlichkeit ist bei Bilkau daher | |
auch nicht nur ein Gefühl. Der Begriff wird in diesem Roman auf seinen | |
sprachlichen Kern zurückgeführt. Wer ohne Heim ist, bekommt es naturgemäß | |
mit der Angst zu tun. | |
## Paare in Spiegelkonstellationen | |
Wie ein klassisches Gruselkabinett lebt auch „Nebenan“ von | |
Spiegelkonstellationen. So ist dem zugezogenen ein alteingesessenes Paar | |
gegenübergestellt, deren Erzählstränge lange Zeit parallel laufen, sich | |
aber an entscheidenden Punkten überschneiden. | |
Astrid ist Ärztin und Andreas Geschichtslehrer im Ruhestand. Während er | |
sich über den Verfall Europas und den Ladenleerstand um die Ecke | |
gleichermaßen sorgt (und vor lauter Infos und Sorgen zuweilen in eine | |
Schockstarre gerät), hat sie mit der Achtlosigkeit von hochbetagten | |
Menschen zu tun, die nicht mal bemerken, wenn die Partnerin im selben Haus | |
stirbt. | |
Doch auch Astrid muss sich der Frage stellen, ob es ihr nicht manchmal an | |
Empathie mangelt. Als ihre beste Freundin Marli in großer Not ist, weil der | |
Sohn einen Igel angezündet hat und nun als böser Junge gilt, erteilt Astrid | |
viele gutgemeinte Ratschläge, erkennt aber die mütterliche Seelenpein | |
nicht. Unschuldig ist niemand in diesem klugen Roman, ohnmächtig und | |
ängstlich wirken alle Figuren, obwohl sie es nicht immer sein müssten. | |
Sieht man von den politischen Rahmenbedingungen ab, auf die Einzelpersonen | |
oft nur schwer Einfluss haben, zeigt der Roman sehr plausibel, dass einer | |
der Gründe für die Dauerfurcht eine falsche Sehnsucht nach „einer Welt ohne | |
Brüche“ ist. Astrid lernt beispielsweise, dass Fehler in der Vergangenheit | |
kein Argument für falsches Handeln in der Gegenwart sind. Ihre betagte | |
Tante sollte sie besser nicht überbehüten. | |
An ihrem Beispiel wird deutlich, dass Achtsamkeit auch übergriffig sein | |
kann. Selbst als Ärztin wird sie den nahenden Tod der geliebten Elsa nicht | |
verhindern, und es ist zudem kein Drama, wenn sich mittlerweile Nachbarin | |
Julia zunehmend um die alte Dame kümmert. | |
## Keine Gewissheiten | |
Es gehört zum literarischen Programm dieses Romans, die Figuren erkennen zu | |
lassen, wie „dünn ihr Netz aus Verbindungen ist“ und wie wenig sie sich auf | |
ihre Gewissheiten stützen können. Julia etwa muss sich, wenn sie ihre | |
gegenwärtige Unzufriedenheit in den Griff bekommen möchte, endlich von der | |
familiären Vergangenheit lösen, die sie in Kindertagen verstört hat. Die | |
Mutter hatte sich abrupt vom Kindsvater getrennt und einen bis heute | |
geheimnisumwitterten Neuanfang gewagt, der sich im Nachhinein als richtige | |
Entscheidung erwies. | |
Die literarische Suchbewegung der Protagonistinnen führt folgerichtig zur | |
Erkenntnis, dass überraschende Wendepunkte und schmerzvolle Einschnitte | |
nicht zwangsläufig in unheimliche Verhältnisse enden müssen. Denn wenn sich | |
Paare trennen oder eine Familie die gewohnte Wohnstraßenzivilisation | |
verlässt, um vielleicht sogar ein paar Jahre im Wald zu leben, muss das | |
keineswegs ein Schreckensszenario sein, sondern kann ein Zuhause | |
ermöglichen, in dem es sich schon bald glücklicher, weil angstfreier, lebt. | |
„Nebenan“ spielt zwar mit Schrecken und Schauer, doch letzten Endes ist der | |
sprachlich wie dramaturgisch gelungene Roman, der bis zuletzt in die | |
Untiefen seiner Charaktere schaut und damit alles in der Schwebe hält, vor | |
allem als literarische Abrechnung mit dem Unheimlichen zu lesen. | |
Der Schlüssel für das Lebensglück der Verunsicherten liegt für Bilkau | |
schließlich im Vertrauen zueinander, das sich vor allem zeigt, wenn die | |
Ängstlichen gemeinsam in den Abgrund schauen, ohne sich von der Fallhöhe | |
kirre machen zu lassen. | |
3 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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