# taz.de -- Die bröckelnden Träume einer Generation: "Wir haben keine Zeit me… | |
> Mit „Die Glücklichen“ hat die Hamburgerin Kristine Bilkau ein viel | |
> beachtetes Romandebüt vorgelegt. Sie erzählt von Isabell und Georg, die | |
> gleich nebenan wohnen könnten. | |
Bild: Hat, auch wenn sie gelegentlich nerven, ihre Helden gern: Kristine Bilkau. | |
HAMBURG taz | Der erste Wirbel ist vorbei. Die Besprechungen waren gut, | |
sehr gut sogar. Einigermaßen entspannt sitzt Kristine Bilkau nun also im | |
„Café unter den Linden“ im Hamburger Schanzenviertel, aber auch ein wenig | |
auf der Hut wirkt sie: Wird das jetzt wieder eines dieser voraussehbaren | |
Gespräche? Über den Absturz der Mittelschicht? Den Umbau der Stadt durch | |
Neureiche mit Geländewagen zur zerrissenen Designerjeans? Über das neue | |
Prekariat, von dem man jetzt überall hört? | |
„Ich hasse das Wort ’Gentrifizierung‘“, das ist so ein Satz, wie Kristi… | |
Bilkau ihn in der folgenden Stunde sagen wird. Oder: „Ein Buch zu | |
schreiben, wo der Leser denkt ’Ah – jetzt geht es den Cappuchino-Trinkern | |
an den Kragen‘, hätte mich nicht interessiert.“ Obwohl sie neulich mal | |
wieder im Prenzlauer Berg war, und was sie da gesehen hat ... aber das ist | |
jetzt nicht wirklich wichtig. Viel wichtiger ist, dass sie mit „Die | |
Glücklichen“ einen tollen Roman geschrieben hat. Was man spätestens daran | |
merkt, dass man, hat man die letzte Seite gelesen, sofort die erste Seite | |
aufschlägt und weiterliest. | |
## Die Hand, die zittert | |
Das handelnde Personal, die Ausgangslage? Ein junges Paar in einer | |
großzügig geschnittenen Wohnung, das sein erstes Kind bekommen hat und | |
zurück will in seinen Alltag, der ein anderer geworden ist. Isabell ist | |
Cellistin, aber nicht in einem gediegenen oder gar avantgardistischem | |
Streichquartett, auch nicht in einem ordentlichen Orchester an einem | |
renommierten Haus. | |
Isabell spielt, für das Publikum kaum sichtbar, im Orchestergraben eines | |
Musicals die dort passenden Melodien, die demnächst vermutlich von einem | |
Automaten übernommen werden. So lange muss sie aber gar nicht warten, um | |
den gerade wiedergewonnenen Boden unter den Füßen zu verlieren: Es reicht, | |
dass Isabells Hände zittern. Sollen sie nicht, tun sie aber. Und – | |
zitternde Hände bei einer Cellistin? | |
Isabells Mann heißt Georg und ist ein klassischer Print-Journalist. Einer, | |
der die Krise kriegt, weil der Journalismus nun mal in der Krise steckt. | |
„Ich glaube nicht, dass in vielen Romanen Journalisten auftauchen“, sagt | |
Bilkau, die auch als Journalistin arbeitet, „weil viele Schriftsteller | |
selbst Journalisten sind oder waren.“ | |
Den Journalist nennt sie den „Prototyp des Digitalisierungsverlierers. | |
Einer, der das Alte noch kennt und der noch nicht zum Neuen gehört.“ Sie | |
sagt: „Einer wie Georg muss sich in der Redaktion anhören, dass er froh | |
sein soll, dass er noch einen Job hat – und dann soll er raus gehen und | |
souverän einen Vorstandsvorsitzenden interviewen.“ Sie muss nicht | |
ausführen, dass das nicht gut geht. Es geht nicht gut. | |
Und so muss sich Georg, als sein Verlagshaus insolvent ist oder vielleicht | |
auch verkauft, aufmachen: sein Berufsleben und damit sein Leben insgesamt | |
neu zu ordnen; während seine Frau zunächst stumm an ihrem Cello sitzt und | |
auf ihre Hände starrt. Georg geht, unter anderem, ins Internet. Sucht dort | |
ganz für sich nach Häusern auf dem Land, in Nordseenähe, die man kaufen | |
könnte (theoretisch): renovierungsbedürftige Resthöfe, aus denen sich | |
Schmuckstücke machen ließen (theoretisch). Wo man dann ein ganz anderes | |
Dasein genießen könnte. | |
Wie Kristine Bilkau über diese einsame Sinnsuche spricht, daran lässt sich | |
ablesen, dass ihr das Ausschmücken dieser Heldenreise nicht nur viel Spaß | |
gemacht hat, sondern das hier auch ordentlich Erkenntnisgewinn enthalten | |
ist: „Es ist keine ernsthafte Suche, die Georg da betreibt“, sagt sie, „es | |
ist eine Flucht. Die Höfe sind nicht ja echt, aber er kann sie sich in | |
diesem virtuellen Raum anschauen, kann durch die einzelnen Zimmer spazieren | |
gehen.“ Für einen wie Georg sei das perfekt: „Er muss nichts machen, er | |
kann keinen Fehler machen, er geht kein Risiko ein.“ | |
## Bloß nichts falsch machen! | |
Nur: Irgendwann schaltet man so einen Computer auch wieder aus. Auch Georg. | |
Und dann sind da Isabell und das Kind – und die Frage, für wie viele Mieten | |
das Geld eigentlich reicht, sollte er schon Ende dieses Monats entlassen | |
werden. | |
Natürlich ist es nie ganz leicht, wenn sich etwas Gravierendes ändert, der | |
Job oder der Beziehung. Isabell und Georg aber machen es sich besonders | |
schwer. Sie wollen ja nichts falsch machen. Nicht bei der Wahl der | |
Wandfarbe (unbedingt giftfrei!), der Babynahrung (bloß kein Zucker!) und | |
erst recht nicht bei der Ausgestaltung ihres Lebensentwurfes, der aufs | |
Erreichen unbedingter, andauernder Glücksmomente abzielt. | |
Geht das denn – in Zukunft für Kundenmagazine zu schreiben, statt für das | |
Feuilleton? Geht das – vielleicht Kinder zu unterrichten, statt dem Ideal | |
Solomusikerin nachzuträumen? Und geht das – ganz praktisch beim | |
Selbstbedienungsbäcker seine Brötchen zu kaufen? | |
„Wir haben keine Zeit mehr für Fehler. Fehler dauern zu lange“, sagt | |
Bilkau. „Fehler sind Umwege, und das geht nicht. Deshab müssen wir lange | |
nachdenken, bevor wir uns überhaupt bewegen, damit wir keinen Fehler | |
machen. Und so passiert gar nichts und erst recht nicht das Richtige.“ | |
Eines ist ihr da sehr wichtig: Der Titel des Romans ist keinesfalls | |
ironisch gemeint! „Ich als Autorin fand: Die beiden sind die Glücklichen. | |
Sie haben es bloß vergessen. Oder sie können es nicht mehr empfinden. Trotz | |
aller Probleme sind sie ja in einer glücklichen Situation.“ | |
„Ich hab die beiden ja gern“, auch das sagt Kristine Bilkau über ihre | |
Helden. „Obwohl Isabell mich manchmal genervt hat mit ihrem | |
So-schwierig-Sein und ich froh war, wenn ich wieder ein Georg-Kapitel | |
schreiben konnte.“ Sie sagt: „In mir steckt ganz viel von Georg.“ | |
Ob und wie es das Paar schafft, sich aus seiner Isolation wieder zu | |
befreien, wird hier nicht verraten. Nur ganz generell und auf uns alle | |
bezogen: So richtig optimistisch, dass wir aus dem der Hamsterrad | |
herauskommen, das sich dreht und dreht, dank allgegenwärtiger | |
Selbstoptimierung und womöglich unerfüllbaren Ansprüchen an uns selbst, ist | |
Bilkau nicht. | |
## In Hamsterrädern | |
Ehe sie einen Schluck nimmt, pustet sie in ihren Ingwertee, obwohl der so | |
heiß gar nicht mehr sein kann: Hat nicht Martin Walser neulich so | |
offenherzig erklärt, er wisse gar nicht, was soziale Medien sind? | |
„Unsereins empfindet da ein bisschen Neid“, sagt sie lächelnd: „Ich wei�… | |
was soziale Medien sind, aber sie machen mich nicht glücklich, ich komme | |
aber auch nicht von ihnen los.“ | |
Und dann muss sie eine Anekdote erzählen: Die Tochter von Bekannten habe | |
neulich Smartphone-Verbot gehabt, „die Gründe dafür sind jetzt egal. Aber | |
als sie nach drei Tagen wieder anschaltete, hatte sie 3.000 | |
Whats-App-Nachrichten!“ Sie lacht laut auf: „Da muss man mal drüber | |
nachdenken!“ | |
## Kristine Bilkau, „Die Glücklichen“, Luchterhand 2015, 304 S., 19,99 | |
Euro; E-Book 15,99 Euro. Lesungen im Norden: 31. Mai, Hamburg; 11. Juni, | |
Bad Segeberg | |
15 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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