| # taz.de -- „Song of the Earth“ von Dirty Projectors: Waldbrände vorm Fen… | |
| > Die US-Band Dirty Projectors befasst sich mit der Klimakrise. Und mit | |
| > Mahlers Zyklus „Das Lied von der Erde“. Über beiden Werken liegt die | |
| > Vergänglichkeit. | |
| Bild: Widerständiges Potenzial des Kollektivs: die Dirty Projectors. Mittendri… | |
| Begriffe, um unsere gegenwärtige Zeit in Worte zu fassen, gibt es viele. | |
| Termini wie Anthropozän, Spätkapitalismus oder Informationszeitalter, | |
| analytische oder diskursive Konzepte wie das des Postfaktischen. Welches | |
| davon sich schlussendlich durchsetzen wird, das entscheidet sich wohl erst | |
| in der Zukunft. | |
| Gut möglich, dass man dann noch einmal eine andere Richtung einschlagen und | |
| unsere Gegenwart auch in ihrer begrifflichen Beschreibung auf die der | |
| Klimakrise herunterbrechen wird. Vielleicht noch eingeteilt in eine | |
| Vorher-Phase, in der die weltweite Katastrophe noch hätte verhindert | |
| werden können, und in eine danach. | |
| Vorausgesetzt, dass zu der Zeit, zu der das begriffliche Urteil fällt, | |
| nicht bereits alles an kulturellen Errungenschaften, an Musik, Kunst und | |
| Büchern in Flammen aufgegangen ist, wird man sich im Speziellen jene | |
| Erzeugnisse ansehen, in denen schon lange, bevor alles unaufhaltsam wurde, | |
| vor den Folgen des Klimawandels gewarnt worden ist. | |
| ## Bedrohung wird zum Normalzustand | |
| Die zentrale Frage wird dann wohl lauten: „Was zur Hölle haben die damals | |
| eigentlich damit gemacht? Gelesen wahrscheinlich nicht.“ Und dann müsste | |
| man erklären, dass die Bedrohung durch die Klimakrise in ihrer Allgegenwart | |
| zu einem Normalzustand wurde. Eine dunkle Gewitterwolke, die sich partiell | |
| entlädt und mit der man sich so arrangiert hat. | |
| Das Ausmaß dessen, was da kommen könnte, wird einem wohl nur bewusst, wenn | |
| man selbst davon betroffen ist. So erging es dem | |
| Dirty-Projectors-Mastermind und Sänger David Longstreth. Wegen der | |
| Waldbrände im Jahr 2020 in Kalifornien verließen er und seine damals | |
| schwangere Frau ihren Wohnort in Los Angeles. Ein Katastrophenereignis, das | |
| Spuren bei ihm hinterlassen hat. | |
| Nun, fünf Jahre und einige Feuersbrünste später, erscheint mit „Song of the | |
| Earth“ ein neues Album der Dirty Projectors. Wenige Monate nachdem in | |
| Kalifornien durch Waldbrände abermals eine Fläche von mehr als 150 | |
| Quadratkilometern und mehr als 10.000 Häuser zerstört wurden. | |
| ## Waldbrände in Kalifornien | |
| „Looking at my garden through a window / Looking at my garden through a | |
| window / I awoke to smoke / And I choked / A little“, heißt es im dritten | |
| Song dieses Albums. Mehr als wahrscheinlich, dass der Komponist sich hier | |
| auf die Erfahrung der Brände vor seiner Haustür bezieht. „It is worse, much | |
| worse, than you think / The slowness of global warming is a fairy-tale“, | |
| lauten die ersten Zeilen des Songs „Uninhabitable Earth, Paragraph One“. | |
| [1][Longstreth zitiert hier aus dem Buch „The Uninhabitable Earth: Life | |
| After Warming“ des US-Journalisten David Wallace-Wells, erschienen 2019]. | |
| Die Prämisse des Autors: Wie schlimm das Leben mit der Klimakatastrophe | |
| wird, können wir uns gar nicht vorstellen. Auch weil viel zu wenig darüber | |
| gesprochen wird. Man könnte nun meinen, dass eine solch eindringliche | |
| Botschaft, übersetzt in Musik, mit einer gewissen Wut kommuniziert wird. | |
| [2][Allerdings handelt es sich in der Vertonung um ein Werk von David | |
| Longstreth, und damit sind Erwartungen fehl am Platz]. Die ersten Zeilen | |
| des Buchs werden im Song mit verfremdeter Stimme vorgetragen und klingen | |
| fast so, als hätte man sie von einer KI-Stimme einlesen lassen. Nach einer | |
| Weile setzt die Musik ein, langsam und zart, gefolgt von der Stimme von | |
| David Longstreth, die zu ihrer natürlichen Wärme zurückkehrt und die | |
| weiteren [3][Zeilen so eindringlich und ruhig wiedergibt, dass sie einem | |
| auch nach dem Ende des Songs im Kopf bleibe]n. | |
| Doch ist „Song of the Earth“ keine Ansammlung von Liedern zum nahenden | |
| Untergang der Menschheit. Betrachtet wird hier alles gleichzeitig. Natur, | |
| ihre Schönheit, der Mensch darin sowie Vergänglichkeit und Flüchtigkeit. | |
| Aber der Blick der Betrachtung wird gelenkt durch das, was drohen könnte. | |
| Eine Bestandsaufnahme, die eine Verlustliste werden könnte. | |
| ## „Das Lied von der Erde“ | |
| Dass im Titel des Albums bewusst von einem Song und nicht von mehreren die | |
| Rede ist – sind es doch eigentlich 24 an der Zahl –, liegt an dem | |
| Liederzyklus, auf den sich Longstreth zum einen im Titel, aber auch im | |
| Inhalt bezieht: Gustav Mahlers 1908 komponierter Zyklus „Das Lied von der | |
| Erde“, der aus sechs Teilen besteht. Der österreichische Künstler selbst | |
| nahm als Textgrundlage Gedichte aus dem Band „Die chinesische Flöte“ des | |
| Dichters Hans Bethge, die allerdings nur indirekt aus seiner Feder | |
| stammten. | |
| Vielmehr handelte es sich um Werke chinesischer Dichter, die später ins | |
| Französische und dann ins Deutsche übersetzt wurden und sich mit | |
| Vergänglichkeit, Jugend, Natur und Abschied auseinandersetzen. Themen, die | |
| auch Mahler in der Entstehungsphase von „Das Lied von der Erde“ | |
| beschäftigten. Die Uraufführung 1911 in München erlebte er selbst nicht | |
| mehr. Er starb wenige Monate zuvor. | |
| 110 Jahre später, im Jahr 2021 und damit mitten in der Coronapandemie, | |
| bringen David Longstreth und seine Dirty Projectors dann zum ersten Mal | |
| ihren von Mahler inspirierten „Song of the Earth in Crisis“ auf die Bühne. | |
| Nicht in München, sondern in der [4][Elbphilharmonie in Hamburg.] Das | |
| Konzert findet in enger Zusammenarbeit mit dem in Berlin ansässigen | |
| Orchesterkollektiv Stargaze statt, das auch an „Song of the Earth“ | |
| mitgewirkt hat. | |
| „Seit der Uraufführung von Gustav Mahlers ‚Lied von der Erde‘ hat sich | |
| unser Verhältnis zur Erde dramatisch verändert. Es schien also an der Zeit, | |
| diese Idee neu zu formulieren“, sagte Longstreth zur Uraufführung. | |
| ## Im Schlaf der Natur nah sein | |
| Umformulieren. [5][Das beschreibt die Herangehensweise des US-Künstlers | |
| sehr akkurat]. Denn Stimmung und auch Themen bleiben nah an der | |
| Inspirationsquelle. „Blue of Dreaming“ lautet der Titel von Song Nummer 23 | |
| auf „Song of the Earth“. „So let’s dream of / The green of forests / Th… | |
| the green of being / And the blue of oceans / Cause that’s the blue of | |
| dreaming“ sind die letzten Zeilen darin. Die Bewusstseinsebene des | |
| Wachseins verlassen, um im Schlaf der Natur und ihren Farben nah zu sein. | |
| In der Komposition weniger pompös orchestriert als bei Mahler, schafft es | |
| Longstreth vor allem über den Einsatz der Streicher und ein flirrendes | |
| Summen der Stimmen, die Hörerin in diesen Zustand mitzunehmen. | |
| Auch Mahler bewegt sich in „Der Trunkene im Frühling“, dem fünften Satz | |
| seines Zyklus, zwischen Traum und Realität. Hier allerdings sind die | |
| Grenzen fließender, die Realität fühlt sich nach Traum an. „Was hör ich | |
| beim Erwachen? Horch! / Ein Vogel singt im Baum. / Ich frag’ ihn, ob schon | |
| Frühling sei, / Mir ist als wie im Traum.“ Über beiden Werken liegt die | |
| Vergänglichkeit. Bei Mahler seine eigene, bei Longstreth die der Erde, wie | |
| wir sie kennen. Beide begegnen ihr, indem sie sich an Vergangenem bedienen. | |
| ## Blick in die Zukunft | |
| Longstreths Blick schweift allerdings weiter voraus in die Zukunft – wobei | |
| das natürlich davon abhängt, wann mit der großen Katastrophe zu rechnen | |
| ist. Würde man David Wallace-Wells fragen, dann wahrscheinlich früher, als | |
| wir denken. David Longstreth begegnet dem nahenden Unheil allerdings nicht | |
| allein. | |
| Dreimal fordert er in den Songtexten des neuen Albums: „Cooperate!“ Und das | |
| hat er in allen erdenklichen Richtungen getan, um das neue | |
| Dirty-Projectors-Album zu veröffentlichen. | |
| „It takes a village“, lautet ein US-amerikanisches Sprichwort. Es braucht | |
| ein Dorf – eigentlich, um ein Kind zu erziehen, doch blickt man auf alle | |
| Beteiligungen an „Song of the Earth“, dann eben auch, um solch eine Werk | |
| auf die Beine zu stellen. Denn die Musik lebt nicht nur vom Genius des | |
| Frontmanns allein, sondern von Referenzen und von der kollektiven | |
| Zusammenarbeit mit Band und Orchester. | |
| ## Gegen Kulturpessimismus | |
| Gerade wird viel davon gesprochen, dass die Ära der Bands zu Ende geht, und | |
| bei aller Hinwendung zur KI-Musik, zu den Algorithmen der Streamingdienste | |
| und zu Tiktok-Hits scheint ein bisschen Kulturpessimismus sowieso | |
| angebracht, aber vielleicht verkennt man dabei das Potenzial des | |
| Kollektivs, das sich den ökonomischen Gegebenheiten besser anpassen und | |
| widerständig bleiben kann. | |
| Auch Vinyl ist äußerst widerständig. Zwischen 500 und 1.000 Jahre dauert | |
| es, bis sich das Material zu zersetzen beginnt. Sollte zumindest eine | |
| Pressung von „Song of the Earth“ die Zeit bis dahin überdauern und nicht | |
| Waldbränden, Tornados oder Überschwemmungen zum Opfer gefallen sein, dann | |
| bleibt zu hoffen, dass sich auch noch ein Plattenspieler findet, um dieses | |
| Album aufzulegen. Ja, der Klimawandel ist menschengemacht, aber wenigstens | |
| auch die Musik. | |
| 7 Apr 2025 | |
| ## LINKS | |
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| [2] /YouTube-Tutorial-von-US-Band/!5681230 | |
| [3] /Berlin-Konzert-der-Dirty-Projectors/!5528494 | |
| [4] /Dirty-Projectors-Konzert-in-Hamburg/!5791005 | |
| [5] /Musik-von-Dave-Longstreth/!5472947 | |
| ## AUTOREN | |
| Johanna Schmidt | |
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