| # taz.de -- Philosoph über Wege aus der Klimakrise: „Wir können kein weiter… | |
| > Kohei Saito sieht die Welt am Abgrund des Klimakollapses. Nur ein auf | |
| > Degrowth ausgerichteter Kriegskommunismus könne wieder in bessere Zeiten | |
| > führen. | |
| Bild: Vordenker der Degrowth-Bewegung: Kohei Saito | |
| Am Hamburger Kolleg der Deutschen Forschungsgesellschaft „Zukünfte der | |
| Nachhaltigkeit“ tagen Mitte März Wissenschaftler*innen zu staatlicher | |
| Planung und Postwachstum. Während der japanische Philosoph Kohei Saito | |
| seinen Vortrag hält, senkt sich eine gewisse Düsternis über den Austausch. | |
| Saito fragt, wie sich unter einem Klimakollaps Ökonomie und Emanzipationen | |
| denken ließen. Er schließt damit an die Gedanken aus seinem recht | |
| erfolgreichen Band „Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“ | |
| (DTV, 2023) an. | |
| taz: Herr Saito, vor fünf Jahren sahen Sie den Degrowth-Marxismus am | |
| Horizont: einen Wandel hin zu einer Gesellschaft, die im Einklang mit den | |
| knappen natürlichen Ressourcen auf der Erde wirtschaftet – und in der | |
| dennoch alle genug haben. Eben haben Sie in einem Vortrag darüber sinniert, | |
| dass die Zukunft bestenfalls auf Kriegswirtschaft zulaufen wird. Was hat | |
| sich verändert? | |
| Saito: Mein Buch „Systemsturz“ erschien 2020 in Japan. Damals gab es eine | |
| globale Klimagerechtigkeitsbewegung. Ich war begeistert, dass wir Menschen | |
| vielleicht lernen und gemeinsam eine neue Welt aufbauen könnten. Mit der | |
| Pandemie verschärften sich dann die Konflikte. | |
| Die Welt ist viel gespaltener, reiche Länder monopolisierten Impfstoffe, | |
| bauen weiter natürliche Ressourcen ab. Wir haben heute eine tiefere Kluft | |
| zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden und müssen | |
| konstatieren, dass wir im Grunde unsere letzte Chance vertan haben. Wir | |
| steuern auf eine sich immer weiter verstärkende, weltumspannende Krise zu. | |
| taz: Und nun? | |
| Saito: Ich halte den [1][Degrowth nach wie vor für notwendig]. Es ist eine | |
| biophysikalische Tatsache, dass unsere Ressourcen endlich sind, unsere Welt | |
| begrenzt ist. Der kapitalistische Weg von kontinuierlichem Wachstum und | |
| Akkumulation ist nicht damit vereinbar. Wir können kein weiteres Wachstum | |
| dulden. | |
| Aus den Rückmeldungen zu „Systemsturz“ wurde mir jedoch klar, dass ich die | |
| Rolle des Staates zu wenig beachtet habe. Daran arbeite ich nun. Es ist | |
| notwendig, das Konzept des Kriegskommunismus wiederzubeleben, das auch der | |
| schwedische Marxist Andreas Malm weiterdenkt. | |
| Es geht dabei nicht um sowjetische Dimensionen, sondern darum, zu betonen, | |
| wie wichtig der Staat als planender Mechanismus für eine Transformation | |
| ist. Der Begriff Kriegswirtschaft klingt martialisch, im Kern geht es aber | |
| um eine Organisationsform. | |
| taz: Der Staat soll auf eine Kriegswirtschaft umstellen? | |
| Saito: Der Klimakollaps zwingt uns, das aufzugeben, was als „business as | |
| usual“ gilt. [2][Wenn wir einfach so weitermachen, bedeutet das weniger | |
| Freiheit] und mehr Chaos. Wachstum ist kein tragfähiges Szenario. | |
| taz: Wie sähe die Rolle des Staates denn etwa aus? | |
| Saito: Sie ist komplementär zu den Graswurzelbewegungen, die ich in | |
| „Systemsturz“ beschrieben habe. Eine Top-down-Transformation: Planung, | |
| Organisation, Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen, Kontingentierung | |
| und Konzentration auf die essenziellen Güter. Es wird weiter | |
| privatwirtschaftliche Unternehmen geben, der Staat muss lebenswichtige | |
| Güter und Dienstleistungen bereitstellen. | |
| Wir sprechen von universeller Grundversorgung und Infrastruktur. Um | |
| bestimmte Güter und Dienstleistungen zu ergänzen, kann der Staat eine | |
| indikative Planung durchführen: Unternehmen fördern oder sie anweisen, mehr | |
| Elektrofahrzeuge und Solarmodule zu produzieren. | |
| taz: Das klingt nach weniger Freiheit. | |
| Saito: Es geht eher um eine Neudefinition von Freiheit. Wir müssen vom | |
| Klimakollaps ausgehen. Dann werden wir die Art von Freiheit, die wir heute | |
| im Kapitalismus als selbstverständlich erachten, verlieren. Eines der | |
| zentralen Konzepte von Degrowth zeigt auf eine andere Freiheit: Es geht | |
| nicht darum, mehr zu konsumieren und mehr zu produzieren. Das ist kein | |
| Freiheitsmodell und keines der Emanzipation. | |
| Mir scheint, eine radikale Neukonzeption von Freiheit ist die erste | |
| Voraussetzung für eine Transformation. Und die brauchen wir, weg von der | |
| Maximierung der Kapitalakkumulation und hin zu einem System, das sich für | |
| etwas entscheidet, das sonst im Kapitalismus marginalisiert wird. Es könnte | |
| Freizeit sein, Fürsorge, Natur, oder Gemeinschaft. | |
| Wir müssen uns auf eine Form der Selbstversorgung zubewegen, die mehr | |
| Handlungsspielraum innerhalb der planetaren Grenzen schafft. Und das | |
| bedeutet nicht, unsere Entscheidungsfähigkeit zu negieren. Ich sehe den | |
| Moment der Freiheit in der Wahl zwischen dem Notwendigen und dem Unnötigen. | |
| taz: Im Sinne Friedrich Engels’ „Freiheit als Einsicht in die | |
| Notwendigkeit“? | |
| Saito: Nur subjektiven Neigungen zu folgen, bedeutet heute, einfach mehr | |
| Konsum zu legitimieren. Wir können neue Dinge kaufen. Es macht Spaß. Das | |
| ist natürlich eine Form von Freiheit. Nur hat die keine Zukunft. Oder | |
| vielleicht eine, die in Barbarei endet. Wenn wir also planen, einschränken | |
| und regulieren müssen, klingt das alles sehr nach autoritärer Verneinung | |
| von Freiheit. | |
| Aber in der Geschichte gibt es genügend Beispiele für Epochen, aus denen | |
| wir lernen, dass Regulieren und Begrenzen als Freiheit galten. Und nicht | |
| das Befolgen seines animalischen Instinkts. Wenn man diese eher | |
| philosophische Definition von Freiheit in der Tradition der Aufklärung | |
| erkennt, muss man eigentlich nicht so viel Angst vor Begrenzung und | |
| Regulierung haben. | |
| taz: In der Gegenwart fürchten viele Menschen um ihren Lebensstandard, | |
| haben Angst, ihre Arbeit, ihre Wohnungen zu verlieren. Das bringt viele von | |
| ihnen dazu, rechte, autoritäre Parteien zu wählen. | |
| Saito: Für die Mehrheit der Menschen bedeutet der Fortbestand des heutigen | |
| Kapitalismus den Verlust von Wohnraum und Arbeitsplätzen – es wird weniger | |
| von all den guten Dingen geben, die die Menschen genießen. Nun verkennen | |
| viele Menschen Problem und Ursache. Sie glauben, dass wir aufgrund des | |
| geringeren Wachstums mehr Unsicherheit und Armut haben. | |
| Doch tatsächlich erleben wir aufgrund des heutigen Kapitalismus mehr | |
| Unsicherheit, mehr Verluste und mehr Instabilität. Weil er Wohnraum der | |
| Finanzspekulation zugänglich macht, Arbeitsplätze bedroht, Engpässe | |
| schafft. | |
| taz: Wie soll sich das ändern? | |
| Saito: Die nächste Pandemie könnte dauerhafter sein. Wir werden mehr | |
| Naturkatastrophen erleben und weniger Wasser haben. Preise für Lebensmittel | |
| und Energie werden steigen, ebenso die Inflation. Das heißt, wir werden | |
| weniger konsumieren können. Daraus ergeben sich Chancen. Die Menschen | |
| werden erkennen, dass wir den Konsumismus aufgeben müssen. Das könnte unser | |
| Leben verändern und sich positiv auf unsere Gesundheit auswirken. Zum | |
| Beispiel, weil wir momentan einfach zu viel Fleisch und Fast Food essen. | |
| Allerdings werden ohne Regulation insbesondere Superreiche einfach | |
| weitermachen. Das würde Gefühle von Ungerechtigkeit und einem | |
| Missverhältnis bei der Lastenverteilung der Verheerungen des Klimawandels | |
| auslösen und mehr Frustration schüren. Ultrarechte Parteien würden | |
| profitieren. Eine heikle Perspektive. | |
| taz: Das Szenario einer Kriegswirtschaft lässt nicht so richtig befreit | |
| aufatmen … | |
| Saito: Die Terminologie ist problematisch, das ist mir bewusst. Ich forsche | |
| gerade zu den systematischen Grundlagen. Mir geht es im Wesentlichen darum, | |
| zu erkennen, dass Kapitalismus Knappheit schafft, und Entschleunigung mehr | |
| Sicherheit schafft. Und nur mit Kollektiven und Graswurzelgruppen wird | |
| Transformation nicht funktionieren. Es wäre wichtig, dass der Staat | |
| Wohnraum, Nahrung oder Mobilität als essenzielles, entkommerzialisiertes | |
| Gemeingut reguliert. | |
| Das kann er nur, wenn er mit politischem Druck dazu gedrängt wird. Wir | |
| müssen erkennen, dass die Interessen des Kapitals nicht unbedingt mit den | |
| Interessen der Mehrheit der Menschen übereinstimmen. Was ich als ersten | |
| Schritt klarmachen möchte, ist etwas ganz Einfaches: [3][Der Kapitalismus | |
| ist ein grundlegendes Problem, nicht Degrowth.] | |
| taz: Warum setzte sich Degrowth bislang nicht durch? | |
| Saito: In einer Gesellschaft, die ständiges Wachstum systemisch erfordert, | |
| ist es beinahe unmöglich, Degrowth-Ideen erfolgreich zu verbreiten. Ich | |
| schätze, zehn Prozent der Menschen sehen, dass ständiges Wachstum nicht | |
| mehr funktionieren kann. Viel mehr aber würden sagen: Wachstum ist nicht | |
| das Problem, sondern Verteilung. Sie glauben also, wenn es Wachstum und | |
| bessere Verteilung gäbe, ginge es uns gut. | |
| taz: Verteilungsfragen blicken auf konkrete soziale Probleme, die man | |
| scheinbar direkt angehen kann … | |
| Saito: Wenn man die Ökologie berücksichtigt, wird die Sache erheblich | |
| komplizierter. Ich habe früher den Green New Deal unterstützt, weil ich | |
| dachte, es sei möglich, dass eine Art Wohlfahrtsstaat bessere grüne Politik | |
| umsetzen und damit mehr Arbeitsplätze, mehr Sicherheit und eine | |
| Dekarbonisierung insgesamt ermöglichen könnte. | |
| Ökologische Fragen sind viel komplizierter. Wir wissen, dass ein grüner | |
| Kapitalismus die Entkopplung der Emissionen vom Wachstum des | |
| Bruttoinlandsprodukts nicht schnell genug schafft. Und jeder muss sehen, | |
| dass der exzessive Konsum im globalen Norden das Problem ist. Die | |
| Schwierigkeit von grünem Kapitalismus liegt offensichtlich darin, dass es | |
| einfach nicht attraktiv ist, den Leuten zu sagen: „Essen Sie nicht zu viel | |
| Fleisch, fliegen Sie nicht zu viel.“ | |
| taz: Wie soll nun ein neues Verhalten, eine Hinwendung zu Natur, Freizeit | |
| und Gemeinschaft entstehen? | |
| Saito: Es geht nur im Zusammenspiel: Zunächst müssen wir Gemeinschaften | |
| aufbauen, eine Zivilgesellschaft, uns auf lokaler Ebene vernetzen. Dort | |
| kann man spüren und erleben, dass Waren und Geld nicht alles sind. Dort | |
| kann man Wege finden, um anders zu leben, indem man ein Gefühl von | |
| Stabilität und Solidarität mit Menschen aufbaut, die man mag, die dieselben | |
| Werte teilen. Und neue Werte entwickeln. | |
| Ohne diese Bottom-up-Bewegung ist eine Top-down-Bewegung schlicht | |
| unmöglich. Doch die braucht es auch. Es wird unter dem zunehmenden | |
| Klimanotstand rasch auf eine ganz andere Form des Wirtschaftens | |
| hinauslaufen müssen. Da kommt der Staat ins Spiel. | |
| 14 Apr 2025 | |
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| Lennart Laberenz | |
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