# taz.de -- Belarussische Kunst in Polen: Reise nach Białystok | |
> An der polnischen Grenze zu Belarus stellen belarussische Künstler aus, | |
> was sie in ihrer Heimat nicht mehr zeigen können. Um die Ecke ist der | |
> Krieg. | |
Bild: Müde und auf der Flucht: diese Frau sitzt im Zug von Saporischschja nach… | |
BIAłYSTOK taz | Der Zug, der an diesem letzten Märztag bis an den | |
nordöstlichen Rand Polens fährt, ist halbleer. Richtung Osten, Richtung | |
Russische Föderation und an die Grenze zu Belarus, scheint momentan niemand | |
reisen zu wollen. | |
Einige Tage später, auf dem Rückweg, wird sich ein anderes Bild | |
präsentieren: Mehr als fünf Wochen [1][nach Ausbruch des Krieges] sind die | |
Züge in Polen immer noch voll mit ukrainischen Geflüchteten. Schweigende | |
Kinder schauen genauso ausdruckslos wie ihre Eltern aus den Fenstern des | |
Intercitys, dazwischen Hunde und Katzen, ebenfalls stumm. Was sie in den | |
letzten Wochen gesehen haben, ist schwer vorstellbar, viele haben nicht | |
mehr als einen kleinen Rucksack dabei. | |
Polen, normalerweise nicht für seine Freundlichkeit gegenüber Fremden | |
bekannt, begegnet den [2][Geflüchteten aus der Ukraine mit | |
Hilfsbereitschaft und Unterstützung]. Etwa 2,5 Millionen Ukrainer:innen | |
sollen sich aktuell im Land befinden. Selbst hier in Podlachien, Ziel | |
dieser Reise und nordöstliche Woiwodschaft Polens, die nicht gerade auf der | |
Fluchtroute gen Westen liegt, sind einige tausend angekommen. | |
Zwei Jahre zuvor erlebte diese Region allerdings eine viel größere Welle an | |
Zuwanderungen aus einem anderen Nachbarland. Allein nach Białystok, in die | |
Hauptstadt Podlachiens, sind damals etwa 10.000 Menschen aus Belarus | |
geflohen. Der belarussische Präsident Lukaschenko hatte im Sommer 2020 die | |
offensichtlich manipulierten Wahlen für sich reklamiert. Und Belarus | |
erlebte die größten Massenproteste seit der Unabhängigkeit 1991. | |
## Kein demokratischer Umbruch in Belarus | |
„Die kaputte Uhr unserer Geschichte ist durch Blendgranaten durchgerüttelt | |
worden. Jetzt ist ihr Ticken ohrenbetäubend und atemberaubend“, schreibt | |
die belarussische Schriftstellerin Julia Cimafiejeva im August 2020 in ihr | |
Tagebuch, noch auf einen demokratischen Umbruch hoffend. Das diktatorische | |
Regime Lukaschenkos ging jedoch mit Unterstützung Moskaus mit aller Härte | |
gegen die Demonstrierenden vor. [3][Heute ist die Bevölkerung der | |
ehemaligen Sowjetrepublik unterdrückt wie eh und je.] | |
So oder so ähnlich spiele sich der Teufelskreis aus gefälschten Wahlen und | |
Protesten alle fünf Jahre ab, sagt die Kuratorin Anna Karpenko in | |
Białystok. Die Galeria Arsenał zeigt hier aktuell in Kooperation mit dem | |
Goethe-Institut Warschau sowie der [4][GfZK-Galerie Leipzig] mit „When The | |
Sun Is Low – The Shadows Are Long“ zeitgenössische belarussische Kunst. | |
Die Grenze von Polen zu Belarus ist von hier nur etwa 50 Kilometer | |
entfernt. Aber schwer zu überwinden. Züge verkehren schon länger nicht | |
mehr, Flugzeuge aus Belarus dürfen in EU-Staaten nicht mehr landen, seitdem | |
das Lukaschenko-Regime eine Ryan-Air-Maschine in Minsk zum Landen zwang, in | |
dem der regimekritische Blogger Roman Protassewitsch saß. Die | |
Künstler:innen aus Minsk, die zur Vernissage in den Osten Polens | |
anreisten, mussten deshalb über Drittländer wie die Türkei und Armenien | |
fliegen, in einem Fall gar über Belize. | |
An der Ausstellung im polnischen Białystok teilzunehmen, ist dabei für | |
Künstler aus Belarus nicht ungefährlich. Der repressive Charakter des | |
Lukaschenko-Regimes wird explizit formuliert. Schweigen wollen die | |
Künstler:innen nicht. Lukaschenko habe viel zu tun, sagt ironisch | |
lächelnd Bazinato. Und, sie seien doch nur Künstler. Es ist der Mut der | |
Verzweiflung, von Menschen, deren Land Putins Armee gerade als | |
Aufmarschgebiet für die Invasion der Ukraine dient, und in dem Menschen auf | |
offener Straße verhaftet werden können, weil sie zu weißer Hose eine rote | |
Jacke tragen. | |
## Das Leben in Minsk | |
Doch Schweigen scheint trotz der Gefahr angesichts des brutalen Mordens im | |
südlichen Nachbarland Ukraine weniger denn je eine Option zu sein. Das sagt | |
auch Masha Svyatogor. Die Künstlerin zeichnet in ihren Collagen das Leben | |
in Minsk nach, erzählt vom Aufwachsen in einem der riesigen Wohnblöcke am | |
Stadtrand der belarussischen Hauptstadt. | |
Die Schlafquartiere mögen monoton und reizlos scheinen, man fühle sich dort | |
aber sicherer als im Zentrum, sagt sie. [5][„Man kann den Augen des Regimes | |
dort besser ausweichen als auf den großen Prachtstraßen im Stadtzentrum.“] | |
Minsk zu verlassen, komme für sie prinzipiell nicht in Frage. | |
Viele der in Białystok ausstellenden Künstler:innen haben ihrer Heimat | |
Belarus jedoch bereits den Rücken gekehrt. Kuratorin Anna Karpenko träumt | |
von einer Rückkehr in ein freies Minsk. Sie lebt seit der Niederschlagung | |
der Proteste im Herbst 2020 im deutschen Exil. Um bleiben zu können, | |
beantragte sie ein Studentenvisum, obwohl die Philosophin und Soziologin | |
einen weiteren Abschluss nicht braucht. Es gebe für Belaruss:innen, die | |
emigrieren müssen, generell wenig Hilfe, sagt sie. „Unser Land ist für | |
Europa immer noch ein blinder Fleck.“ | |
Belarus hat eine Bevölkerung von 9,4 Millionen Menschen, die Diaspora | |
außerhalb Russlands und den Vereinigten Staaten ist eher zersplittert. Eine | |
Ausstellung mit belarussischer Kunst wie hier im Ausland ist eine | |
Seltenheit, die sich die Galeria Arsenał jedoch nicht zum ersten Mal | |
leistet. | |
## Besucherandrang bei der Vernissage | |
Ein in Polen lebender US-amerikanischer Kurator betont bei der Vernissage, | |
welch Rarität solche Galerien fernab der Hauptstadt im | |
konservativ-katholischen Polen darstellen. Die Galerie ist am | |
Eröffnungsabend brechend voll. Die Besucher:innen drängen sich dicht an | |
dicht. Unmaskiert, das Virus ist in Polen qua Gesetz seit wenigen Tagen | |
abgeschafft. | |
Belarus, so glauben die meisten hier, werde sich nicht ändern, ohne dass | |
sich Russland verändere. Der Überfall auf die Ukraine ist das große | |
aktuelle Negativ-Beispiel. Die belarussischen Künstler:innen fühlen sich | |
den Betroffenen in der Ukraine sehr nahe. Ihre unmittelbare Betroffenheit | |
ist in den Gesprächen spürbar. Sie kennen den Aggressor. Und fürchten, dass | |
ihr Land noch weiter in Russlands Krieg in der Ukraine verwickelt wird. | |
Die polnisch-belorussische Grenzregion ist dünnbesiedelt. In der Mehrzahl | |
stimmen die Menschen hier für die konservative PiS-Partei. 2020 seien die | |
vielen belarussischen Geflüchteten dennoch freundlich aufgenommen worden, | |
sagt Maciej Chołodowski, der als Journalist bei der Gazeta Wyborcza | |
arbeitet. Sein Gesichtsausdruck lässt sich nicht deuten, während er dies | |
sagt und aus dem Fenster schaut, vor dem der Schnee einige Zentimeter hoch | |
liegt. Doch die Grenze nach Polen ist nicht nur für Belaruss:innen | |
schwer zu überwinden. | |
## Geflüchtete im Grenzwald | |
Zwischen den beiden Ländern wächst ein dichter Wald, der als eines der | |
letzten verbliebenen Urwaldgebiete Europas gilt. Wegen neuer Krisen fast | |
vergessen, irren darin immer noch schlecht ausgerüstete Geflüchtete umher, | |
die Lukaschenko aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan einfliegen ließ, um | |
die Europäische Union unter Druck zu setzen. | |
[6][Wie viele dort noch ausharren, ist unklar.] Chołodowski sagt, dass | |
viele seiner Landsleute der Staatspropaganda Glauben schenken, wonach unter | |
den muslimischen Flüchtlingen viele Terroristen seien. [7][Alle, die helfen | |
wollen, sagt er, machen sich strafbar.] | |
Einer der belarussischen Künstler hat sich der Situation in den | |
Grenzwäldern angenommen. Der in Berlin lebende Jura Shust fügt in seiner | |
Videoarbeit Drohnenaufnahmen des polnischen Grenzschutzes und Handyvideos | |
von Geflüchteten nahtlos aneinander. Die Aufnahmen sprechen für sich: | |
Geflüchteten, die sich in den Wäldern behelfsmäßig Unterschlüpfe bauen, | |
deplatziert, gefangen in einem Konflikt zwischen Ost und West. | |
Auch Jan Helda beschäftigt sich mit der Grenze. Helda lebt seit 15 Jahren | |
in Polen. Seine Skulptur kann als das Herzstück der Ausstellung in der | |
Galeria Arsenał gelten. Ein zweigeteiltes Kanu führt die Gegensätzlichkeit | |
der beiden Systeme – Belarus und Europa – vor Augen. Es scheint so, als | |
hätte man und auch Helda nicht wirklich eine Wahl, welche Seite des Boots | |
man wählen könnte: Die eine Hälfte besteht aus Holz, die andere aus | |
Stacheldraht. | |
10 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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