# taz.de -- Festival „Goethe-Institut im Exil“: Simulation einer Bombardier… | |
> Interkultureller Austausch: In Berlin gewährte das Festival | |
> „Goethe-Institut im Exil“ Einblicke in die auch im Exil produktive | |
> ukrainische Kulturszene. | |
Bild: An der Hausfassade des Berliner Kunsthauses Acud flackerten Projektionen … | |
Man vergisst es leicht, doch grundsätzlich ist die Menschheit auf einem | |
guten Weg: Die Kindersterblichkeit sinkt, die Alphabetisierungsrate steigt, | |
immer weniger Menschen leben zudem in Armut. Rückschritte sind jedoch | |
ebenso zu verzeichnen, merkt Elias Krössin an. Er moderierte eine | |
Diskussionsrunde beim Festival „Goethe-Institut im Exil“, das am Wochenende | |
im Berliner Kunsthaus Acud stattfand. Erstmals seit 2004 gibt es weltweit | |
mehr Autokratien als Demokratien. | |
Nun war die Ukraine sicherlich auch vor dem Krieg keine vollkommene | |
Demokratie. Die junge Generation, so erzählt es der Künstler Andriy May, | |
der in der Ukraine mit jungen Menschen Theaterstücke erarbeitet, sei jedoch | |
annähernd geschlossen proeuropäisch orientiert. | |
Während May seit diesem Frühjahr in Deutschland lebt, ist der Dramaturg | |
Mohammad al Attar schon vor einigen Jahren aus Syrien migriert – als | |
Geflüchteter –, eine Zuschreibung, die er im Kontext künstlerischer Arbeit | |
zurückweist. Al Attar kritisiert die Einrichtung von Exilensembles, die | |
mittlerweile an vielen Theaterhäusern existieren. Nicht nur schränke es die | |
Autonomie der Dramatiker:innen ein, es schaffe auch Hierarchien | |
innerhalb des Theaters. | |
Exil als sprachliches Konstrukt beschäftigt indes Aslı Erdoğan. Literarisch | |
könne sie nur auf Türkisch schreiben, erzählt die Schriftstellerin, die | |
seit 2017 in Deutschland lebt, in anderen Sprachen würden die Wörter nicht | |
miteinander „flüstern“. Trotzdem verliere sie den Zugang zu ihrer | |
Muttersprache. Um Sprache lebendig zu halten, müsse man in ihr leben, neue | |
Erinnerungen schaffen. Sie spreche jedoch hauptsächlich Englisch, träume | |
auf Deutsch. | |
## Aus der Sprache vertrieben | |
[1][Erdoğan, die in der Türkei ein halbes Jahr lang im Gefängnis saß,] | |
resümiert: Sie wurde nicht nur aus dem Land, sondern auch aus ihrer Sprache | |
vertrieben. Zwar beklagt auch sie, dass sie als türkische Autorin | |
hauptsächlich zum Zustand des Landes befragt würde. Sie sehe es jedoch als | |
ihre Verpflichtung an, den Diskurs am Leben zu halten, zumal die Türkei | |
momentan aus dem Blickfeld gerate, findet sie. Al Attar stimmt ihr zu. Nach | |
Nachrichten aus Syrien müsste man „wühlen“, sagt er, dabei befinde sich d… | |
Land weiterhin im Krieg, 90 Prozent der Bevölkerung lebe unterhalb der | |
Armutsgrenze. | |
Trotz des alle Diskussionsteilnehmer:innen einenden | |
Flüchtlingsstatus ist die Wunde des Ukrainekriegs noch frisch. Während al | |
Attar, Erdoğan und auch die aus Polen zugeschaltete belarussische | |
Künstlerin Nadya Sayapina das Exil als andauernden Zustand anzunehmen | |
scheinen, sieht sich der aus Cherson stammende May nicht als Flüchtling, | |
sondern als nur temporär in Deutschland lebend. | |
Er sei zuversichtlich, nach Hause zurückzukehren. Gleichzeitig ruft er in | |
Erinnerung, dass der Ukrainekrieg nicht erst in diesem Februar begonnen | |
hat. Im Donbass wird seit 2014 gekämpft. | |
Von diesem Krieg erzählt auch „The Earth is Blue as an Orange“ (2020), der | |
neben weiteren jüngsten Filmen aus der Ukraine am Wochenende im Acud | |
gezeigt wurde. Ihm gelingt das Kunststück, von einer Familie zu erzählen, | |
die einen Film über ihr Leben im Krieg dreht, ebendiesen Krieg aber nicht | |
die Handlung diktieren zu lassen. | |
Nur zu Anfang trifft ein Geschoss die Straße der Familie im Donbass, was | |
die Bewohnerinnen mit lautstarkem Schimpfen quittieren. Es ist eine Welt | |
ohne Männer, die Regisseurin Iryna Tsilyk porträtiert, Männer tauchen nur | |
als vor Verantwortung fliehende Expartner auf, oder als Soldaten, die sich | |
mit ihren schneebedeckten Panzern in die ärmliche Stadtkulisse einfügen. | |
## Austausch über die Ukraine hinaus | |
Der Krieg hat sich mittlerweile auf die gesamte Ukraine ausgedehnt, in | |
Kiew bleibt das Goethe-Institut vorerst geschlossen. Wie es in zwei Jahren | |
aussieht, ist noch kaum abzusehen, bis 2024 ist „Goethe-Institut im Exil“ | |
jedenfalls angelegt. Neben Ukrainer:innen sollen sich auch | |
Kulturschaffende, die in anderen Ländern aufgrund von Krieg oder Verfolgung | |
nicht arbeiten, in Deutschland vernetzen können. Schwerpunkte zu | |
Afghanistan und Belarus sind in Planung. | |
Das viertägige Festival in Berlin war nur der Auftakt des Projekts, wobei | |
den Höhepunkt des Wochenendes wohl die „Bomb Shelter Night“ bildete. | |
Performances, Videoprojektionen und Live-Musik bespielten bis in die | |
Sonntagmorgenstunden das Acud, die ukrainische Band Das Wortspiel sorgte | |
dabei für einen stimmigen Einstieg. Folk- und Rockmelodien arbeiteten | |
Sängerin Mariana Golovko zu, die, sich gesanglich an Vorbildern wie | |
[2][Björk] oder Lisa Gerrard orientierend, ihren Schmerz über den | |
gewaltsamen Verlust der Heimat heraussang. | |
Gewaltsam kam die Musik dann auch zum Ende. Sirenen brachen los, Ordner | |
wiesen die Konzertbesucher:innen an, Schutz im Club des Kunsthauses | |
zu suchen. Dort unten ließen bereitliegende Isomatten und ein stetiges, | |
artifizielles Wassertropfen eine lange Nacht vorausahnen. Immer wieder | |
waren Einschläge zu hören, die das Gebäude zu erzittern schienen. | |
Spätestens als Sängerin Golovko, mittlerweile in Zivilkleidung, ihren | |
sphärischen Gesang leise durch den Raum schickte, erinnerte die Performance | |
klanglich mehr an Videospiel als an eine (ohnehin in Frage zu stellende) | |
Bombardierungssimulation. Minuten zuvor hatte Das Wortspiel“ die | |
Komplexität des Kriegs – Angst, Wut, Siegeswillen – in Gitarrenriffs | |
übersetzt. Sich auch buchstäblich unter Beschuss zu begeben wäre nicht | |
nötig gewesen. | |
10 Oct 2022 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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