# taz.de -- Erinnerungskultur in der Ukraine: Folgen für die Geschichtspolitik | |
> Angriff auf die Kultur: Wie der Krieg in der Ukraine das Gedenken an den | |
> Nationalsozialismus beeinflusst, stand im Fokus einer Podiumsdiskussion. | |
Bild: Im Theater von Mariupol, das bei einem russischen Bombenangriff im März … | |
Dass Russlands Angriffskrieg nicht nur militärische Ziele in den Blick | |
nimmt, wurde schnell nach Beginn der Offensive vor fast einem Jahr | |
offenbar. Wohn- und Krankenhäuser, [1][aber auch Museen, Theater und | |
Denkmäler gerieten unter Beschuss.] Ende letzten Jahres bestätigte die | |
Unesco die Beschädigung von Kulturstätten an über 200 Standorten. | |
Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die vergangenen Sommer in die Ukraine | |
reiste, spricht von einem systematischen Angriff auf die ukrainische | |
Kultur. In Cherson seien 13.000 Gemälde verschwunden, sagt die | |
Grünen-Politikerin am Dienstagabend bei einer Podiumsdiskussion im | |
Jüdischen Museum Berlin, das die Folgen des Kriegs für die | |
Geschichtspolitik in den Mittelpunkt stellt. | |
Doch wie Anatolii Podolskyi, Direktor des Ukrainian Center for Holocaust | |
Studies in Kyjiw, live zugeschaltet berichtet, seien nicht nur Kulturgüter | |
betroffen. Gezielt hätten russische Truppen Schulbücher zerstört, die über | |
die NS-Verbrechen in der Ukraine aufklärten. | |
Podolskyi beklagt, dass insbesondere junge Russ:innen jahrelang | |
Propaganda ausgesetzt seien, die die historische Rolle der Ukraine | |
verdrehe: „In Russland ist eine ganze Generation erwachsen geworden, die | |
denkt, die Ukraine habe kein Recht darauf, als eigener Staat zu | |
existieren.“ | |
## Holocaustgedenken seit 30 Jahren | |
Doch auch die Erinnerungskultur in der Sowjetunion habe Gebiete außerhalb | |
Russlands größtenteils ausgespart. Das Gedenken an den Holocaust sei in der | |
Ukraine erst seit 30 Jahren wirklich präsent, sagt Podolskyi. Denkmäler und | |
Museen, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion überall in der Ukraine | |
entstanden und die Verbrechen im Land dokumentieren, das im Zweiten | |
Weltkrieg ein Viertel seiner Bevölkerung verlor, seien heute Ziel | |
russischer Kriegsaktionen. | |
Das passe zum Narrativ der russischen Geschichtsschreibung, die etwa die | |
Rote Armee, als ausschließlich russisch darstelle. Dass das nicht der | |
Wahrheit entspricht, lässt sich in Berlin heute noch anschaulich | |
nachprüfen. Besucher des Reichstagsgebäudes seien immer wieder überrascht, | |
unter den Inschriften, die Soldaten der Roten Armee 1945 im Gebäude | |
hinterließen, auch ukrainische und belarussische Schriftzüge zu finden, | |
berichtet Claudia Roth. | |
In dem Kontext betont sie die Wichtigkeit gesamteuropäischen Erinnerns und | |
verweist auf das [2][Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche | |
Besatzungsherrschaft in Europa“.] Das befindet sich zwar noch in der | |
Konzeptionsphase, soll aber einmal auch die weniger präsenten Einsatzorte | |
des Naziregimes berücksichtigen, wie Griechenland, Belarus oder eben die | |
Ukraine, die vor dem Krieg ein „blinder Fleck auf unserer Landkarte“ | |
gewesen sei, wie Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung | |
Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), sagt, die die | |
Podiumsdiskussion moderiert. | |
Gefährliches Halbwissen beklagt auch Floriane Azoulay. Die Direktorin der | |
Arolsen Archives zieht eine Studie heran, [3][die gestiegene | |
Zustimmungswerte zu russischer Propaganda belegt.] Demnach glauben etwa 27 | |
Prozent der Menschen im Osten Deutschlands, 16 Prozent im Westen, Putin | |
gehe „gegen eine globale Elite vor, die im Hintergrund die Fäden zieht“. | |
## Desinformation auf Social Media | |
Sorgen macht Azoulay jedoch vor allem, dass immer mehr Jugendliche und | |
junge Erwachsene den auf Social Media-Plattformen wie TikTok kursierenden | |
russischen Desinformationskampagnen Glauben schenken. Die | |
Politikwissenschaftlerin und Soziologin plädiert dafür, auf diesen | |
Plattformen schnell gegenzusteuern, mit treffsicheren Inhalten, die auch | |
mal vereinfachend sein müssten, Jugendliche aufzuklären. Gute Kampagnen | |
erforderten allerdings viel Geld, gibt sie sogleich zu bedenken. | |
In Azoulays Wirkungsstätte, den Arolsen Archives, lagern unter anderem auch | |
1,4 Millionen Akten von Soldaten und Zwangsarbeiter:innen aus der | |
Ukraine, sagt sie. Viele weitere Millionen befinden sich jedoch in der | |
Ukraine und seien aktuell davon bedroht, im Krieg zerstört zu werden. | |
Dass die Sicherstellung dieser auch für die ukrainische | |
erinnerungspolitische Bildung wichtig sei, betont Anatolii Podolskyi. Nicht | |
nur die russische Seite sei anfällig für sprachpolitische Vereinfachungen. | |
Auch in ukrainischen Medien höre man immer häufiger Vergleiche zwischen | |
diesem Krieg und den von Nazideutschland begangenen Verbrechen. Wörter wie | |
„Gauleiter“ fielen inzwischen regelmäßig. | |
15 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Krieg-und-Kulturgueter-in-der-Ukraine/!5898335 | |
[2] /Besatzungsmuseum-in-Berlin/!5869232 | |
[3] https://cemas.io/publikationen/belastungsprobe-fuer-die-demokratie/2022-11-… | |
## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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