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# taz.de -- Belarussisches Oppositionsmedium Nexta: Im Schwarm gegen Diktatoren
> Gefüttert von zahlreichen Einsendungen hat sich Nexta zu einer der
> wichtigsten Newsplattformen Osteuropas entwickelt. Ein Redaktionsbesuch
> im Warschauer Exil
Bild: Proteste in Minsk 2020, live übertragen auf dem Nexta Telegram-Kanal
Warschau taz | Eine Altbauvilla in der Innenstadt von Warschau, beste Lage,
die Botschaften der USA und Frankreichs sind nicht weit. Der polnische
Staat hat das Haus einer Stiftung belarussischer Oppositioneller zur
Verfügung gestellt, und die gab hier ein Stockwerk an die Macher:innen
von Nexta (Aussprache: Nechta).
Seit Russland den Krieg gegen die Ukraine begann, ist das einstige
Oppositions-Nachrichtenprojekt aus Belarus eine der wichtigsten
Newsplattformen in Osteuropa geworden. „The largest Eastern European media.
To let the world know.“ ist ihr Slogan.
Aus Sorge vor Angriffen aus Russland oder Belarus hielten die Macher sich
seither bedeckt. Das Interview mit der taz ist das erste seit Kriegsbeginn.
Drei junge Leute, alle Anfang 20, öffnen die Tür. Sie begrüßen einen
freundlich, als komme man zum Vorstellungsgespräch in einer WG. Einer von
ihnen ist Stepan Putilo, Nexta-Gründer, Chefredakteur und einer der
wichtigsten belarussischen Dissidenten.
Auf den Tag genau sieben Jahre ist es an diesem Mittwoch her, dass Putilo
[1][Nexta als Youtube-Kanal] gründete. Das erste Video, das er damals
hochlud, war ein Clip namens „Es gibt keine Wahl“. Es ging um die
Präsidentschaftswahl in Belarus 2015, bei der wie immer von vornherein klar
war, dass Lukaschenko sich zum Sieger erklären würde.
An den Wänden der Nexta-Räume hängen Guy-Fawkes-Masken, wie Hacker und das
„Anonymous“-Kollektiv sie gern verwenden. Putilo bittet in die Küche. Ein
schneeweißer Hund liegt unter dem Tisch.
## Ein Medium ohne eigene Webseite
Nexta hat keine eigene Webseite, die gesperrt, gehackt oder abgestellt
werden könnte. Es verbreitet seine Inhalte über Soziale Medien: 1,9
Millionen Abonnent:innen hat Nexta auf Telegram, eine Million [2][auf
Twitter], eine Million auf Youtube, 250.000 [3][auf Instagram]. Im
Minutentakt gibt es hier Nachrichten über den Krieg in der U-kraine,
überwiegend auf Russisch, auf Twitter auch auf Englisch. Über kaum einen
Kanal werden Videos, Bilder, Newshäppchen über den [4][Krieg in der
Ukraine] schneller weitergeleitet und kommen in dichterer Folge als bei
Nexta.
Es ist vor allem Telegram, durch das Nexta bis heute, trotz aller
Medienkontrolle, in Belarus und Russland zugänglich ist. Und es gebe „sehr
viele“ Zuschauer in Russland, sagt Putilo.
Der enormen Reichweite stehen begrenzte Mittel gegenüber. Neben
Freiwilligen gebe es rund zehn bezahlte Stellen, sagt Putilo: „Die
belarussische Staatspropaganda hat nicht glauben können, dass es technisch
möglichlich ist, dass so ein kleines Team so viel schafft.“ Sie habe
deshalb verbreitet, dass Nexta in Wahrheit ein „Zentrum für psychologische
Einflussnahme“ sei.
Finanziert werden die Mitarbeiter:innen im Wesentlichen mit Werbung
auf Youtube. Ein Redaktionsnetzwerk, mit Korrespondenten und Faktcheckern
gar, ist so unfinanzierbar. Was hilft, ist der Schwarm. „Nexta“ heißt
„jeder“ oder „jemand“. Jeder kann mitmachen, so ist das gemeint. „Uns…
Follower schicken uns die Nachrichten“, sagt Putilo. Die schiere Menge
würde die Nexta-Macher selbst überfordern. Immer zwei MitarbeiterInnen sind
pro Schicht für jede Social-Media-Plattform zuständig. „Teils kamen 200
Nachrichten pro Minute, 50 bis 70 Videos pro Stunde“, sagt Putilo. Die
Redaktion entscheidet, „was interessant und was relevant“ ist, sagt er.
## Im polnischen Exil
Putilo, 24, ist Sohn eines belarussischen Fernsehjournalisten, der heute im
Exil in Polen lebt. Er studierte Film- und Fernsehproduktion in Kattowitz
und sendete vor allem auf seinem eigenen Kanal – Nexta. Sein 2017 auf
Youtube veröffentlichtes Nexta-Video über die Todesstrafe in Belarus sahen
über 5,5 Millionen Menschen. 2019 folgte der Dokumentarfilm „Lukaschenko.
Ein Strafregister“. Es gab ein Strafverfahren wegen „Beleidigung des
Präsidenten“. Seitdem reist Putilo nicht mehr nach Belarus.
Auf Youtube sendet Nexta zwei Mal pro Tag Nachrichten. Dazu gibt es „Jetzt
wird es klarer“, ein Studiogespräch. Zuletzt wurde den Zuschauern dabei der
Nordstream-Komplex erklärt. Neu ist ein Satireformat. „Man braucht Abstand
von negativen Emotionen“, sagt Putilo. Insgesamt entsteht ungefähr eine
Stunde Videomaterial pro Tag.
Der Sound lässt dabei nie Zweifel, auf welcher Seite man steht. Einer der
Nexta-Macher sagte einst mit Blick auf Belarus, er sehe sich „nur
verantwortlich im Hinblick darauf, ob es die Menschen zum Sieg führt und
das Ende der Diktatur bringt“.
Was ist Nexta? Putilo überlegt. „Wir sind ein unabhängiges Medium,“ sagt …
dann. Unabhängig von was? „Unabhängig davon, ob es positiv oder negativ
ist. Wir berichten, wenn es wichtig ist.“ Ein politisches Projekt, liberal
oder antiautoritär, dem man verpflichtet sei, das gebe es nicht.
Sieht er keinen Unterschied zu konventionellen Medien? „Bei normalen Medien
sind Journalisten vor Ort. Bei uns kommen die Meldungen von einer
unbegrenzten Zahl von Menschen. Jeder kann hier Journalist sein.“ Ein
„volksnaher“ Kanal sei das. „Bürgerjournalismus.“ Kämpft dieser
Bürgerjournalismus mit in diesem Krieg? „Wir kämpfen, indem wir gegen
russische Desinformation kämpfen.“
Und ja, natürlich wolle Nexta heute ebenso zum Sieg der Ukraine beitragen
wie zum Sieg der Opposition in Belarus. „Es ist für uns sehr wichtig, dass
die Ukraine siegt. Davon hängt das Schicksal von Belarus ab“, sagt Putilo.
## Das Medium der belarussischen Proteste 2020
Nextas Reichweite explodierte während der [5][Proteste nach der
Präsidentschaftswahl in Belarus 2020]. Nach dem offenkundig manipulierten
Wahlgang musste die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja nach
Litauen fliehen. Allein in den vier Tagen nach der Wahl wurden über 6.000
Menschen festgenommen, 250 verletzt und zwei getötet. Über Nexta
koordinierten sich die Proteste, das Medium zeigte als erstes Bilder der
Gewalt und Folter.
Die damals gesammelten Erfahrungen im Umgang mit einem stetigen Strom
eingehender Nachrichten bereiteten Nexta auf die heutige Lage vor. Putilo
hat erst spät erkannt, wie sehr Putins Angriff Nexta verändern würde.
Obwohl die USA schon im Dezember 2021 vor einem Krieg warnten, sei ihnen
erst bei der von Putin inszenierten Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates
am 21. Februar klar geworden, was bevorstehe, sagt er. In den ersten
Monaten des Krieges berichtete Nexta 24 Stunden.
Wer heute auf die Interaktionsrate, die Kommentare der nie ruhenden Social
Media-Kanäle schaut, dem scheint es, als konstituiere Nexta einen ganz
neuen Raum für eine transnationale, anti-autoritäre Öffentlichkeit
Osteuropas. Putilo will davon nichts wissen. „Wir verbreiten
Informationen“, sagt er dazu. Nicht mehr.
## Gefährdet durch Viren, Fake-News …
Doch auch das gefällt nicht jedem. Unter den Nachrichten, die an Nexta
geschickt werden, seien Viren und auch Fake News, die dazu gedacht seien,
Nextas Glaubwüdigkeit zu untergraben. „Manchmal werden wir einfach
zugespamt, manchmal bekommen wir Fotos mit verbotenen Inhalten“, sagt
Putilo. Wladimir Solowjow, Moderator und einer der bekanntestem
Propagandisten der russischen Staatsmedien, habe gar Falschmeldungen in den
Nexta-Kommentarbereich gepostet, um Nexta diese anschließend in seiner
Sendung vorzuwerfen.
Was wahr ist, kann die Redaktion allein nicht entscheiden. Eine
Verifikation ist für sie unmöglich. Nexta hat auch dies in den Schwarm
ausgelagert. Es gibt Chatkanäle mit Freiwilligen, überall im
russischsprachigen Raum. „Wenn wir Zweifel haben, schicken wir eine
Nachricht da rein“, sagt Putilo. Zu den Prüfern gehören auch
Investigativjournalisten. So könnten Fakes meist schnell erkannt werden.
„Am Anfang hatten wir damit noch mehr Probleme, aber das ist jetzt besser
geworden.“
Die Arbeit geht den Prüfern indes nicht aus. In dieser Woche sei im Netz
ein Dokument aufgetaucht, in dem behauptet worden sei, dass Russland die
„Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“, ein Militärbündn…
aus Ex-Sowjetrepubliken, aufgefordert habe, sich in der Ukraine
einzumischen. „Für uns war von Anfang an klar, dass das ein Fake ist,
obwohl sehr viele Medien das publiziert haben.“ Ähnlich sei es mit der
kürzlich verbreiteten Behauptung gewesen, dass Polen auch in der
westukrainischen Region Lwiw ein Annektions-Referendum plane. „Da haben wir
auch gleich gepostet, dass das ein Fake ist.“ Russland verbreite sehr
häufig Falschmeldungen. „Viele fallen darauf rein, sagt Putilo.
## … und Morddrohungen
Doch bei Fake News bleibt es nicht. „Wir bekommen sehr viele Morddrohungem
von russischen Accounts, die ankündigen, dass sie die Redaktion in die Luft
sprengen oder Leute, die mit uns arbeiten, vergiften“, sagt eine
Mitarbeiterin. Ein Stück weit habe sie sich an die Gefahr gewöhnt, doch
ganz vermag man das nie.
„2020 sind wir zur Polizei gegangen“, sagt Putilo. Die habe die Sorgen
ernst genommen. Seitdem steht ein Polizist vor dem Haus. Kameras überwachen
den Eingangsbereich. Dass das Gebäude mitten im gut bewachten
Botschaftsviertel stehe, gebe zusätzlich das Gefühl von Sicherheit. Mehr
nicht. „Wir wissen, dass der Geheimdienst weiß, wo unsere Räumlichkeiten
sind“, sagt Putilo. Doch wer genau sich wann hier aufhalte, das versuche
man soweit wie möglich zu verschleiern.
„Du weißt ja wahrscheinlich, was mit Roman Protassewitsch passiert ist“,
sagt Putilo.
Der belarussische Dissident Protassewitsch hatte sich 2020, damals 25 Jahre
alt, Nexta angeschlossen. Putilo machte ihn zum Chefredakteur.
Protassewitsch blieb allerdings nur kurz. Als Journalisten trennten sich
ihre Wege, als politisch Verfolgte teilen sie weiter ein Schicksal.
## Der Fall Roman Protassewitsch
Am 5. November 2020 wurden Protassewitsch und Putilo wegen der
„Organisation von Massenunruhen“ und diverser andere Tatbeständte
angeklagt. Protassewitsch kam auf eine KGB-Terrorliste und floh in die
litauische Hauptstadt Vilnius. Putilo blieb in Warschau. Am 23. Mai 2021
flog Protassewitsch mit seiner Freundin Sofja Sapega mit den Ryanair-Flug
4978 von Athen nach Vilnius. Als das Flugzeug über Belarus war, leitete die
Regierung das Flugzeug wegen einer möglichen Bombe an Bord nach Minsk um,
eskortiert von einer MiG-29.
Putilo erfuhr in Warschau davon. „Ich dachte erst, das ist ein Witz“, sagt
er. „Wir hatten darüber gesprochen, dass es wichtig ist, nicht über Belarus
zu fliegen.“ Aber Protassewitsch habe sich nicht daran gehalten. Er und
seine Freundin kamen in Gefängnis, danach in Hausarrest. Im Januar 2022
wurde bekannt, dass der belarussische Geheimdienst Protassewitsch, zusammen
mit Stepan Puzila und anderen Dissidenten, eine „Verschwörung zur
Machtergreifung“, „extremistische Formationen“ und Hochverrat vorwirft.
Putilo ist in Polen sicher, jedenfalls vor der Auslieferung, die Belarus im
November 2020 beantragt hat. Anfang 2022 erklärte das Warschauer
Bezirksgericht diese für unzulässig. Belarus verlange „die Auslieferung
eines völlig unschuldigen Bürgers, nur weil er andere Ansichten hat als ein
psychopathische Diktator“, sagte der Richter. Auch gegen ihn leitete die
Generalstaatsanwaltschaft in Minsk daraufhin ein Strafverfahren ein.
Stellen sie Nexta ein, wenn Lukaschenko gestürzt ist?
Nein, sagt Putilo. „Es ist eine sehr bekannte Marke. Wir haben auf jeden
Fall vor, das weiterzuentwickeln.“
8 Oct 2022
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/c/nextalive
[2] https://twitter.com/nexta_tv
[3] https://www.instagram.com/nexta_tv
[4] /Schwerpunkt-Krieg-in-der-Ukraine/!t5008150
[5] /Proteste-in-Belarus--ein-Jahr-danach/!5793840
## AUTOREN
Christian Jakob
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