| # taz.de -- Stalins Terror in Belarus: Die Nacht der erschossenen Dichter | |
| > 1937 ermordete der sowjetische Geheimdienst 108 belarussische | |
| > Intellektuelle. Kulturschaffende von heute müssen der Toten aus dem Exil | |
| > gedenken. | |
| Bild: Kreuze und Kerzen: Vor vier Jahren fand die Gedenkveranstaltung noch in K… | |
| Vilnius taz | Der kleine Wald von Kurapaty ist ein schrecklicher Ort. Die | |
| Erde schreit, jeder Schritt schmerzt. 30.000 Menschen sollen hier begraben | |
| sein. Allein in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1937 ermordete der | |
| sowjetische Geheimdienst NKWD in den Kellern seines Gefängnisses 108 | |
| belarussische Oppositionelle, Kulturschaffende und Wissenschaftler, hier | |
| sind sie verscharrt. | |
| Ihnen war vorgeworfen worden, einer „antisowjetischen | |
| national-faschistischen Terrororganisation“ anzugehören. Die Nacht gilt als | |
| die finsterste in der Geschichte des Landes. Zur Erinnerung an die Toten | |
| veranstalten Aktivisten regelmäßig die „Nacht der erschossenen Poeten“. | |
| Heute, wo viele belarussische Intellektuelle wieder im Exil leben, muss die | |
| Gedenknacht in Litauen oder Georgien stattfinden. Ende Oktober kamen dafür | |
| in Vilnius zahlreiche Kulturschaffende zusammen, die auf der Bühne nahe dem | |
| KGB-Museum gemeinsam Verse der ermordeten Dichter lasen. | |
| Zu den Vortragenden gehörten auch einige im Ausland lebende Vertreter des | |
| [1][belarussischen Journalistenverbands BAJ], die noch Anfang des Jahres | |
| für freie Meinungsäußerung und das Fortbestehen des Rechts auf | |
| Informationsverbreitung kämpften. Im Mai wurde dieses Recht abgeschafft. | |
| Die BAJ-Journalisten erinnerten auch an das Schicksal so vieler ihrer | |
| Kollegen und lasen die wohl jüngste Lyrik des Abends vor: die ihres | |
| Freundes, dem [2][zu 14 Jahren Haft verurteilten Medienmanager Andrei | |
| Alexandrow]. | |
| Die Parallelen zwischen damaliger Zeit und belarussischer Gegenwart lassen | |
| sich nicht leugnen: Neben Friedensnobelpreisträger [3][Ales Bjaljazki] sind | |
| in Belarus aktuell [4][33 Journalistinnen und Journalisten inhaftiert, NGOs | |
| mussten ihre Arbeit] einstellen. Lukaschenko versucht, die Intelligenz zum | |
| Schweigen zu bringen. Ein Exiltheater aus dem belarussischen Grodno | |
| erinnerte mit Soldaten des Regiments Kastus Kalinowski in einer | |
| interaktiven Inszenierung an die Nacht von 1937. Das Regiment kämpft an der | |
| Seite der Ukraine gegen den Angreifer Russland. Die in dicke schwarze | |
| Mäntel gekleideten Darsteller halten sich gegenseitig an den Armen, die | |
| Bretter der Bühne bedeckt mit dichtem Laub, im Hintergrund rot angestrahlte | |
| Kreuze und Projektionen von Porträts der Verstorbenen. Viele der Anwesenden | |
| rührte die Aktualität der Veranstaltung zu Tränen. | |
| ## Nie aufgearbeitet | |
| Der älteste Berater der [5][belarussischen Bürgerrechtlerin Swetlana | |
| Tichanowskaja], Journalist Franzischak Wjatschorka, plädierte am Rande der | |
| Gedenknacht, neben der Politik immer wieder auch Kultur und Bildung und | |
| „was uns sonst noch vereint“ in den Blick zu nehmen. „Die Sprache ist ein… | |
| der wichtigsten Gegengifte des Volkes bei der Verteidigung gegen das | |
| russische Imperium, das alle, die Russisch sprechen, als sein Eigentum | |
| ansieht. Wir Belarussen wollen nicht zurück in dieses Imperium.“ | |
| Das Waldstück nahe der Hauptstadt Minsk, der Ort, an dem die Toten begraben | |
| sind, blieb an dem Abend leer. Dort erinnert einzig eine Gedenkstätte an | |
| alle zwischen 1937 und 1941 hingerichteten Menschen. Die Verbrechen der | |
| stalinistischen Zeit sind in Belarus auf staatlicher Ebene nie verurteilt | |
| worden, jegliche Forschung in den 1990er Jahren wurde eingestellt. Die | |
| KGB-Archive sind bis heute nicht zugänglich. | |
| Historiker sprechen mittlerweile von mehreren Terrorwellen, denen die | |
| damalige belarussische Elite zum Opfer fiel. Die Stalin’sche Säuberung | |
| begann bereits Mitte der 1920er Jahre. Sie war auch eine Reaktion auf die | |
| Bolschewiki, die gemeinsam mit Kulturschaffenden für die Eigenständigkeit | |
| von Sowjetrepubliken warben. Schriftsteller und Dichter trieben diese | |
| sogenannte belarussische Wiedergeburt grundlegend an. In den Jahren 1929 | |
| bis 1931 wurden sie dafür bestraft. | |
| So starb der wunderbare Lyriker Uladizimir Zhylka Anfang der 1930er Jahre | |
| im russischen Wjatka. Kurz zuvor war er trotz seiner Tuberkuloseerkrankung | |
| dorthin verbannt worden. Der Dichter und Shakespeare-Übersetzer Uladzimir | |
| Dubouka wurde zur selben Zeit verhaftet – an Ort und Stelle im Kreml, wo er | |
| als Übersetzer sowjetischer Gesetze ins Belarussische arbeitete. | |
| Manche bedeutenden Lyriker, wie Janka Kupala und Jakub Kolas, kamen davon. | |
| Doch in welchem Zustand muss sich Kupala befunden haben, als er nach einem | |
| nächtlichen Verhör versuchte, sich das Leben zu nehmen? Er schreibt in | |
| seinem Abschiedsbrief: „Majakowski hat sich erschossen, Jesenin hat sich | |
| erhängt, ich werde ihnen wahrscheinlich folgen.“ (Wladimir Majakowski, | |
| 1893–1930, war ein sowjetischer Dichter und Futurist, Sergei Jesenin, | |
| 1895–1925, ein russischer Lyriker; d. Übersetzerin) | |
| ## „Belarus möchte Teil Europas sein“ | |
| Kupalas Porträt hing damals in jeder staatlichen Einrichtung. In den Jahren | |
| der „Wiedergeburt“ hatte man ihn auf ein Podest gehoben, er war so etwas | |
| wie der erste belarussische Volksdichter. Die Behörden beschlossen also, | |
| den Dichter nicht anzurühren, sein Tod hätte die Bevölkerung zu sehr | |
| entsetzt. Im Jahr 1942 starb er in einem Moskauer Hotel nach dem Sturz von | |
| der Treppe, er war sofort tot. Einiges deutet auf einen Mord hin. | |
| Der systematische Terror ist im kulturellen Gedächtnis von Belarus tief | |
| verankert. Hätte es ihn nicht gegeben, wäre dieses Land ein anderes. Die | |
| ermordeten Persönlichkeiten haben die Entwicklung der belarussischen | |
| Identität beeinflusst. | |
| Tichanowkskajas Berater appelliert während der „Nacht der erschossenen | |
| Poeten“ auch an Deutschland. „Ziel muss die Befreiung der zahlreichen | |
| Menschen sein, die sich zurzeit im Gefängnis befinden“, sagte er. „Wir | |
| hoffen, dass die deutsche Regierung unsere demokratischen Kräfte als | |
| strategische Verbündete betrachtet. Belarus möchte Teil Europas sein, Teil | |
| der europäischen Zivilisation.“ | |
| Aus dem Russischen von Gaby Coldewey | |
| 6 Nov 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Belarussischer_Journalistenverband | |
| [2] /Staatsgewalt-gegen-Medien-in-Belarus/!5789963 | |
| [3] /Friedensnobelpreis-2022/!5886459 | |
| [4] /Friedensnobelpreise-2022/!5884261 | |
| [5] /Karlspreis-fuer-Aktivistinnen-aus-Belarus/!5857302 | |
| ## AUTOREN | |
| Janka Belarus | |
| ## TAGS | |
| Belarus | |
| Swetlana Tichanowskaja | |
| Terrorismus | |
| Schwerpunkt Krisenherd Belarus | |
| Dichter | |
| Lyrik | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Belarus | |
| Nobelpreis | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Verbannte Literatur in Belarus: „Extremistische“ Bücher | |
| Ein 400 Seiten langes Register führt in Belarus Texte auf, die als | |
| extremistisch gelten und verboten sind. Manche davon erscheinen dann im | |
| Ausland. | |
| Belarussisches Oppositionsmedium Nexta: Im Schwarm gegen Diktatoren | |
| Gefüttert von zahlreichen Einsendungen hat sich Nexta zu einer der | |
| wichtigsten Newsplattformen Osteuropas entwickelt. Ein Redaktionsbesuch im | |
| Warschauer Exil | |
| Friedensnobelpreis 2022: Ein Zeichen gegen Krieg und Diktatur | |
| Der Friedensnobelpreis geht an Ales Bjaljazki aus Belarus, die russische | |
| Organisation Memorial und die ukrainische Menschenrechtsorganisation Center | |
| for Civil Liberties. | |
| Repressionen in Belarus: Die Verhaftungen gehen weiter | |
| Auch zwei Jahre nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen werden in | |
| Belarus Menschen verurteilt. Von Swetlana Tichanowskaja sind die Menschen | |
| enttäuscht. |