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# taz.de -- Antisemitismus in Deutschland: Die Angst wird bleiben
> Weltweit kommt es zu antisemitischer Gewalt, auch in Deutschland. Wie
> erleben Jüdinnen und Juden diese Welle des Hasses? Vier Protokolle.
Bild: Mahnwache in Berlin: für jüdisches Leben in Berlin und gegen jede Form …
Als sich der Konflikt im Nahen Osten Anfang Mai zuspitzte, waren auch
Jüdinnen und Juden in Deutschland alarmiert. Würde sich der Hass von dort
auch hierzulande entladen? Bald nahmen antisemitische Attacken auf den
Straßen zu. In Münster und Bonn wurde vor den örtlichen Synagogen eine
Israelflagge verbrannt. In Gelsenkirchen wurde „Scheiß Juden“ vor einer
Synagoge skandiert. Überall in Deutschland wurde gegen Israel demonstriert.
In Berlin kam es dabei zu Straßenschlachten, Demonstrant*innen
forderten die Bombardierung Tel Avivs und Messerangriffe auf Israelis.
In den vergangenen Wochen schossen palästinensische Terrorgruppen über
4.360 Raketen auf Israel, 13 Israelis kamen dabei ums Leben. Israels
Luftwaffe beschoss daraufhin rund 1.500 Stellungen der Hamas in Gaza, 248
Palästinenser*innen starben. In israelischen Städten kam es zudem zu
massiver Gewalt zwischen jüdischen und arabischen Israelis. Seit dem 21.
Mai herrscht Waffenruhe.
Weltweit kommt es weiterhin zu antisemitischer Gewalt. Videos aus New York
etwa zeigen, wie Jüdinnen und Juden auf der Straße beschimpft, bedroht und
verletzt werden. In der Bundesrepublik habe sich ein „aggressives
antisemitisches Klima“ entwickelt, sagte Samuel Salzborn,
Antisemitismusbeauftragter der Stadt Berlin.
In der taz erzählen vier Jüdinnen und Juden: Wie erleben sie diese
Hasswelle? Was erwarten sie von der Mehrheitsgesellschaft? Und was bleibt,
wenn die öffentliche Wahrnehmung sich wieder anderen Themen zuwendet?
## „Wieder schmiss jemand einen Böller“
Antonia Yamin, 32, lebt in Berlin und ist Europa-Korrespondentin für den
öffentlich-rechtlichen israelischen TV-Sender KAN
„Es tut mir einfach weh. Ich bin in Deutschland geboren, in Mannheim. Ich
sehe mich nicht nur als Israelin, sondern auch als Deutsche. Und in meinem
Geburtsland gibt es Orte, an denen ich kein Hebräisch sprechen kann, weil
ich dann als Jüdin, als Israelin erkennbar bin. Das darf nicht sein, 76
Jahre nach dem Holocaust.
Als israelische Journalistin kann ich in Deutschland eigentlich frei
arbeiten. Aber es gibt Stadtteile in Berlin, in denen das leider nicht
geht. Vor drei Jahren habe ich live aus Neukölln über den Brexit berichtet,
auf Hebräisch. Drei Jugendliche haben das gehört und mich mit einem Böller
beworfen. Seitdem war ich nicht mehr in Neukölln.
Bis vorletzten Samstag, um über die große palästinensische Demonstration zu
berichten. Ich habe mit vielen Demonstranten gesprochen, auf Deutsch. Man
sieht natürlich nicht, dass ich Jüdin und Israelin bin. Ich habe sie auf
die Raketen, die Hamas auf Israel schießt, angesprochen: Das interessierte
sie nicht. Für sie hat Israel angefangen, sie denken, dass Israel alle
Leute in Palästina ermorden möchte. Während ich von RTL interviewt wurde,
schmiss wieder jemand einen Böller auf mich. Kurz davor habe ich hebräisch
gesprochen.
Viele verstehen nicht, wer hinter diesen Demos steht. In Rotterdam, wo ich
am Wochenende über den Eurovision Song Contest berichtet habe, wurde auch
gegen Israel demonstriert und ich wurde beleidigt. Darunter war der Leiter
einer Hamas-nahen Stiftung. Das sind keine friedlichen Leute.
In meiner journalistischen Arbeit provoziere ich niemanden, sondern lasse
die Leute reden. Das mache ich bei der palästinensischen Demonstration
gegen Israel, das habe ich bei einem Neonazi-Festival in Thüringen so
gemacht. So kommt die Wahrheit am besten raus.
Doch ich muss meine Arbeit machen können. Bei den Protesten in Neukölln
waren viel zu wenige Polizisten, und die waren überfordert. Vom Angriff auf
mich haben sie erst im Nachhinein über Twitter erfahren. Vor Ort hat sich
niemand dafür interessiert, als Journalistin wurde man alleine gelassen.
Wenn diese jungen Männer antisemitische Parolen rufen und eine israelische
Journalistin mit Böllern bewerfen, dann muss das Konsequenzen haben. Sonst
denken sie sich: Warum sollte ich das nicht wieder machen?“
Protokoll: Kevin Čulina
## „Das ist purer Judenhass“
Rebecca Seidler, 40, Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde in
Hannover und Antisemitismusbeauftragte des Landesverbands der
Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen
„Am 12. Mai erhielten wir in der Liberalen Gemeinde in Hannover einen
Anruf. Es wurde gedroht, unsere Gemeinde anzuzünden. Natürlich sind unsere
Gemeindemitglieder und Mitarbeiter dadurch verunsichert. Mich persönlich
hat das bewegt, weil ich mich in der Verantwortung sehe, meinen
Gemeindemitgliedern den bestmöglichen Schutz zu bieten. Ich bin deshalb nun
viel stärker mit den Sicherheitsbehörden in Kontakt.
In den letzten zwei Wochen habe ich mich in die jüdische Community
zurückgezogen. Dort fühle ich mich sicher, werde verstanden und muss mich
nicht rechtfertigen oder verteidigen. Das brauche ich gerade. Und: Ich bin
wachsamer geworden.
Unsere jüngeren Gemeindemitglieder ziehen sich zum Teil aus den sozialen
Medien zurück. Sie werden dort aufgefordert, sich zu positionieren oder den
Nahostkonflikt in drei Sätzen zu erläutern. Das ist eine enorme
Erwartungshaltung. Die Jüngeren sagen auch, sie kommen mit den
antisemitischen Anfeindungen und Beleidigungen nicht mehr klar. Diese
Wucht, mit der sie einem entgegenschlagen, ist kaum noch auszuhalten.
Antisemitismus wird gerne relativiert oder negiert. Bei einer Demo in
Gelsenkirchen wurde vor einer Synagoge „Scheiß Juden“ im Chor gesungen.
Viele Medien berichteten, es handle sich um antiisraelische Proteste. Das
stimmt einfach nicht. Das ist purer Judenhass, der dort zum Ausdruck
gekommen ist.
Für viele ist es schwer, sich mit Jüdinnen und Juden in Deutschland zu
solidarisieren. Ich höre Aussagen wie: „Du weißt, ich bin gegen
Antisemitismus, aber bei Israel und Gaza, da will ich mich nicht
positionieren.“ Es gibt keine sofortige Solidarität. Das ist ein Zeichen.
Meine Befürchtung ist, dass die Aufmerksamkeit verschwindet, sobald es sich
im Nahen Osten beruhigt. Das ist fatal. Es müssten langfristige Strukturen
in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit entwickelt werden. Viel zu
oft sind gute Projektideen nur für ein Jahr befristet. Es ist eine Farce,
zu denken, dass man fest verankerten Antisemitismus hier in Deutschland in
einem Jahresprojekt bewältigen könnte.“
Protokoll: Erica Zingher
## „Da wussten wir: Es geht wieder los“
Laura Cazés, 31, lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als Leiterin für
Kommunikation und Digitalisierung bei der Zentralen Wohlfahrtsstelle der
Juden in Deutschland (ZWST)
„Als die aktuelle Eskalation in Israel/Palästina losging, kam in mir ein
bekanntes Unbehagen auf. Davon erzählten mir auch jüdische Freund:innen.
Wir dachten an die antisemitische Hasswelle, die sich zuletzt rund um den
Gaza-Krieg 2014 entladen hat, und wussten: Es geht wieder los.
Ich fragte mich, ob das von der Gesellschaft endlich als Antisemitismus
benannt werden würde. Würde man verstehen, in welcher Form diese sich
entladende Aggression direkt auf unser Leben als deutsche Jüd:innen
auswirkt? Leider haben sich viele Sorgen bisher bestätigt. Ich bekomme
viele Zuschriften, gerade von jungen Jüdinnen und Juden, die auch auf
Social Media die Wucht dieser Eskalation abbekommen: „Ich bekomme bald
einen Nervenzusammenbruch“, schreiben sie. Oder: „Ich will mein
Instagram-Konto löschen, aber schaue dann doch wieder rein.“ Viele können
nachts nicht mehr schlafen.
Jüdische Menschen haben Angst. Die Belastung ist unglaublich spürbar – und
das nimmt mich sehr mit. Und das betrifft uns alle, egal wie wir uns
politisch positionieren: wir alle werden adressiert, wir alle bekommen den
Antisemitismus zu spüren. Uns allen schlägt sehr viel Hass und
Aggressivität entgegen.
Gerade in den sozialen Medien wird der Konflikt in Israel und Palästina
sehr verkürzt dargestellt. Postkoloniale Theorien und viele
antirassistische Aktivist:innen verstehen Israel leider als den
mächtigsten Staat, als Unterdrücker, und die überdimensionierte Vorstellung
allein schon ist antisemitisch.
Nach 2014 haben gerade junge Jüdinnen und Juden sich in Bündnissen
organisiert: intersektional, in muslimisch-jüdischen Allianzen.
Leider drohen die genau an diesem Punkt aufzubrechen. Es reicht nicht „Wir
sind gegen Antisemitismus“ zu sagen und dann Aufrufe der Boykottbewegung
gegen Israel zu teilen. Dann sind das nur Lippenbekenntnisse. Und dabei
können wir eine inklusive Gesellschaft nur zusammen gestalten, gerade
angesichts rechtsextremer Kontinuitäten, Hanau und Halle.
Heute gibt es zwar viele jüdische Safe Spaces, jüdische Austauschräume. Das
hilft. Doch die Anspannung wird bleiben. Antisemitische Weltbilder sind so
festgesetzt, auch wenn sie dann länger nicht ausbrechen. Und Jüdinnen und
Juden müssen sich fragen: Was macht es mit uns, wenn diese Aggressivität
wieder auf uns einschlägt? Merken andere überhaupt, wie unsicher wir uns
fühlen?“
Protokoll: Kevin Čulina
## „Heute traue ich mich nicht mehr alleine mit Kippa auf die Straße“
Anton Tsirin, 33, Schauspieler, Präsident von Makkabi Deutschland Jugend,
im Vorstand bei Kibbuz e. V. und Jugendreferent des Landesverbands der
Jüdischen Gemeinden Westfalen–Lippe
„Ich arbeite gerade in einem Projekt, das sich „Youde“ nennt. Letzte Woche
haben wir dafür gedreht, ein Experiment: Mit Kippa lief ich durch die
Straßen und hielt in der Hand ein Schild. Darauf stand: „Ich bin ein Jude.
Was wolltest du schon immer fragen oder sagen?“ Jemand sagte zu mir, es sei
eine Provokation, dass ich eine Kippa trage. Was provoziert da? Die Kippa?
Dass ich Jude bin?
Es wird immer wieder abgeraten, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen.
Als ich etwa 20 Jahre alt war, habe ich noch aus Prinzip gesagt: Ich ziehe
die Kippa an. Ich fand, dass Juden zu sehr zurückgezogen leben. Es bringt
nichts, sich zu verstecken, dachte ich, wir müssen uns zeigen, und dass es
normal ist in Deutschland ein Jude zu sein.
Heute würde ich mich nicht mehr alleine mit Kippa auf die Straße trauen.
Ich hätte jetzt Angst. Denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, Gewalt zu
erleben. Und ich möchte nicht, dass meine Familie sich um mich Sorgen
macht.
Als die ersten antisemitischen Demonstrationen stattfanden, fühlte ich
mich verantwortlich, etwas zu tun. Es überforderte mich auch. Ich sehe,
dass in den sozialen Medien viele falsche Berichte und Videos über den
Nahostkonflikt verbreitet werden. Viele Menschen teilen das, ohne wirklich
Ahnung zu haben. Das ist ein Problem. Ich habe lange und viel überlegt, wie
man diese Menschen erreicht. Aber da läuft man oft gegen eine Wand.
Es gab mehrere muslimische Gruppen, die sich solidarisch gezeigt haben.
Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Wir leben alle zusammen in Deutschland.
Wir alle sind nicht dafür verantwortlich, was dort passiert, sondern was
hier passiert. Und wir müssen alle zusammen für unseren gegenseitigen
Frieden einstehen.
Es wird wieder ruhiger werden in Deutschland. Was bleibt, ist die
Unsicherheit. Ich weiß nicht, ob ich als Jude meine Kinder mal unter diesen
Voraussetzungen hier aufziehen will.
Meine letzte Hoffnung ist, dass Menschen, die auch für ein friedliches
Zusammenleben sind, öfter ihre Stimme erheben. Und, neben Juden, mehr
andere Leute auf Demos gegen Antisemitismus auftauchen oder gar
mitorganisieren.“
Protokoll: Erica Zingher
24 May 2021
## AUTOREN
Erica Zingher
Kevin Čulina
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