| # taz.de -- Jüdisch-muslimischer Dialog: Unser Miteinander | |
| > Ist Krieg in Nahost, verhärten sich auch in Deutschland die Fronten. Wie | |
| > kann eine neue Basis für das jüdisch-muslimische Miteinander gestaltet | |
| > werden? | |
| Bild: Demo in Stuttgart am 15. Mai 2021: Pro Palästina und gegen Israel | |
| [1][Was ist los bei euch im Nahen Osten?] Warum kriegt ihr das nicht hin | |
| mit dem Frieden? In Europa haben wir es doch auch geschafft.“ Fragen, die | |
| wohl alle hier lebenden Juden und Muslime kennen. Gerade jetzt: Alle sind | |
| wir plötzlich wieder Botschafter der Israelis oder Palästinenser, und alle | |
| sollen wir gefälligst eine einfache Lösung für ein komplexes Problem aus | |
| der Tasche zaubern. | |
| Doch längst schon verlaufen die Konfliktlinien nicht nur „da unten“. In der | |
| Migrationsgesellschaft bestimmen globale Konflikte auch immer das | |
| Zusammenleben hierzulande. Die Auseinandersetzungen zwischen türkischen | |
| Nationalisten und Kurden, zwischen Russen und Ukrainern werden auch auf | |
| deutschen Schulhöfen ausgetragen. | |
| Die Besonderheit des Nahostkonflikts besteht darin, dass nicht nur die | |
| unmittelbar betroffenen Gruppen, Israelis und Palästinenser, mobilisiert | |
| werden. Ganz selbstverständlich stehen sich hier, scheinbar unversöhnlich, | |
| Juden und Muslime gegenüber. | |
| Die Demonstrationen der vergangenen Tage sind ein trauriger Beweis dafür, | |
| wie dünn das Eis ist, auf dem das Zusammenleben von Juden und Muslimen | |
| hierzulande ruht. Auf der einen Seite die blau-weiße Fahne Israels; auf der | |
| anderen Seite, neben den Fahnen von Palästina und Hamas, auch die der | |
| Türkei, von Pakistan, Syrien und Afghanistan. Vornehmlich islamisch | |
| geprägte Staaten, in denen der Hass gegen den israelischen Staat weit | |
| verbreitet, oft sogar Teil der Staatspropaganda ist. | |
| ## Erstarken von Nationalismus | |
| [2][Es ist tragisch, wenn gerade die nationalistischen Stimmen aus den | |
| jeweiligen Communities auf die Straße gehen]. Wir glauben, dass die große | |
| Mehrheit der deutschen Muslime und Juden den Menschen in Nahost eine | |
| friedliche Lösung wünschen. Wir glauben, dass das Erstarken von | |
| Nationalismus auf beiden Seiten Teil des Problems ist und nicht der Lösung. | |
| Wir glauben, dass diejenigen, die ernsthaft für Frieden in Nahost streiten | |
| möchten, sich nicht erst einmal hinter Nationalflaggen sammeln sollten. | |
| Wie schon bei früherer Gelegenheit reagieren die offiziellen | |
| Vertretungsorgane beider Religionsgemeinschaften in Deutschland [3][mit | |
| reflexhaften Parteinahmen]. Sowohl der Zentralrat der Juden als auch der | |
| Koordinationsrat der Muslime, der die größten islamischen Verbände eint, | |
| wussten beide sehr früh, wer Schuld an der Eskalation trägt, und | |
| veröffentlichten gleichzeitig am 12. Mai ihre Statements. | |
| Für die Muslime war klar, dass „der Ausgangspunkt der Gewalt drohende | |
| Zwangsräumungen“ durch die israelische Regierung waren. Für die Juden lag | |
| die Antwort auf der Hand: „Die Verantwortung für die Eskalation der Gewalt | |
| liegt ganz klar aufseiten der Hamas.“ | |
| Genauso schematisch reagierten die üblichen Verdächtigen in den sozialen | |
| Medien. Unter #gazaunderattack werden Aufrufe zur Vernichtung des Staates | |
| Israel geteilt und von einem „Holocaust gegen Palästinenser“ geraunt. Unter | |
| #israelunderattack werden Sharepics geteilt, in denen der Bezug der Muslime | |
| zu Jerusalem geleugnet und die israelische Armee angefeuert wird, möglichst | |
| hart gegen Gaza vorzugehen. | |
| ## Der Tunnelblick wird immer enger | |
| Die Lebenswelten von Juden und Muslimen entwickeln sich auseinander und | |
| damit auch die Wahrnehmung darüber, was im Nahen Osten passiert. Die einen | |
| bekommen nur noch Fotos von ermordeten palästinensischen Kindern zu sehen, | |
| die anderen nur noch Videos von zerstörten Häusern in Tel Aviv. Ohne es zu | |
| merken, wird der eigene Tunnelblick immer enger, verkriecht sich jeder im | |
| rabbit hole der sozialen Medien, die beide Seiten in ihrer jeweiligen | |
| Überzeugung und Wahrheit bestätigen. Empathie für die anderen – | |
| Fehlanzeige. | |
| Dabei gibt es sie: Juden, die sich solidarisch mit Palästinensern zeigen, | |
| und Muslime, die Solidarität mit Israelis äußern. Wahrscheinlich ist es | |
| keine Überraschung, dass sie in den sozialen Medien als Verräter der | |
| eigenen Community dargestellt werden. | |
| So kritisierte eine jüdische Bloggerin auf Twitter das Handeln der | |
| israelischen Regierung und erntete einen regelrechten Shitstorm. | |
| Anschließend schreibt sie: „Ich wünsche euch allen, dass ihr niemals mit | |
| sowas ganz alleine sein müsst.“ Als eine Muslima die Hamas kritisiert, wird | |
| sie als „zionistische Schlampe“ beschimpft und gefragt, ob der Zuhälter | |
| sein Geld erhalten hat. | |
| Wer von der Vehemenz auf den Straßen und im Netz überrascht ist, sollte ins | |
| Archiv gehen: Im Zuge des letzten Gazakriegs 2014 wirkten ganz ähnliche | |
| Dynamiken. Was haben wir in den letzten sieben Jahren gemacht, um die | |
| Gräben zwischen Juden und Muslimen zu überwinden? Sehr viel, nur | |
| tendenziell in die falsche Richtung. | |
| ## Dialog auf Banalitäten reduziert | |
| Man hantierte mit hübschen Begriffen wie „Bündnissen“, „Brücken“ und | |
| „Allianzen“. Alle konnten schön in der Komfortzone bleiben, wenn | |
| jüdisch-muslimischer Dialog auf Banalitäten reduziert wurde: „Wie lässt | |
| sich mein Hummusrezept verfeinern“, „wer hat Tipps für den nächsten | |
| Anatolien- oder Israelurlaub?“ Keine Fiktion: So berichtete noch vor kurzem | |
| stolz der Initiator eines solchen Projekts in der Jüdischen Allgemeinen. | |
| Da gab es eine Tandemtour durch Berlin mit Rabbinern und Imamen, ein | |
| Fußballspiel in Düsseldorf mit muslimischen und jüdischen Geistlichen, ein | |
| Kochduell mit Imam, Rabbi und Pfarrer. Es gab Begegnungsformate und | |
| Dialogprojekte, in denen gekickt und gekocht und gelegentlich auch über | |
| Inhalte gesprochen werden sollte. | |
| Besonders bekannt ist das Prestigeprojekt „[4][Schalom Aleikum]“, das von | |
| der Bundesregierung 2019 mit Millionen ausgestattet wurde. Das Projekt wird | |
| allein vom Zentralrat der Juden ohne Beteiligung eines muslimischen | |
| Partners geplant und durchgeführt, was im Widerspruch zum eigenen Anspruch | |
| steht, jüdisch-muslimischen Dialog auf Augenhöhe zu schaffen. | |
| Sicher haben die hochkarätig besetzten Podien in repräsentativem Ambiente | |
| zu mehr Sichtbarkeit beigetragen. Die Mehrheitsgesellschaft erfreute sich | |
| an Wohlfühlnachrichten wie: „Der Muslim Abdul-Jalil Zeitun und der Jude | |
| Semen Wassermann teilen sich mit Freude ein Sofa“, gesehen in der Neuen | |
| Osnabrücker Zeitung vom 31. Oktober 2019. | |
| ## Über den Elefanten im Raum sprechen | |
| Fraglich ist jedoch, welchen Einfluss man damit auf das tägliche | |
| Miteinander von Juden und Muslimen hatte. Die Auseinandersetzung mit den | |
| wirklich unbequemen Fragen fiel dabei zu oft vom Tandemsattel. | |
| Wir hoffen, dass die vereinbarte Waffenruhe in Israel-Palästina anhält. Für | |
| uns Juden und Muslime in Deutschland bleibt jedoch die Frage, wie wir die | |
| Wunden der letzten Tage heilen und eine neue Basis für unser Miteinander | |
| gestalten können. Das wird weder ein Kochduell noch eine Fahrradtour allein | |
| schaffen. Wir müssen über den Elefanten im Raum sprechen: den | |
| Nahostkonflikt. | |
| Dafür gilt es zunächst einmal für jede Seite, ihre Grenzen zu | |
| kommunizieren: Weder das Existenzrecht des Staates Israel noch das Recht | |
| der Palästinenser auf einen eigenen Staat sollen in Frage gestellt werden. | |
| Die Gesamtschuld für den Konflikt auf die Schultern einer Partei zu legen, | |
| ist per se falsch. Auch verbieten wir uns jeglichen Vergleich zwischen dem | |
| Handeln des israelischen Staates und den Nazis – genauso wie jede andere | |
| Form von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Über alles andere | |
| kann gestritten werden. | |
| Ja, das wird schmerzhaft. Es sollte auch nicht primär darum gehen, den | |
| anderen von der eigenen Einstellung zu überzeugen. Vielmehr muss man sich | |
| darauf einlassen, dass die Erfahrungen und Sichtweisen der Anderen zunächst | |
| genauso legitim sind wie die eigenen. Eine Grundlage dafür liefern die | |
| Arbeiten des Psychologen Dan Bar-On und des Pädagogen Sami Adwan, die | |
| jüdisch-israelische und palästinensische Narrative nebeneinanderstellten. | |
| Sie plädieren für mehr Aufklärung über die Geschichte und Hintergründe des | |
| Konflikts – und für mehr Empathie. | |
| Ja, es mag banal klingen, für mehr gegenseitiges Verständnis zu werben. Und | |
| sicher kann man damit keine Schlagzeilen machen, keine reißerischen | |
| Social-Media-Beiträge gestalten. Aber nichts ist banaler, als sich immer | |
| noch tiefer in seinen Vorurteilen einzugraben – und die eigene | |
| Empathieunfähigkeit mit Radikalität zu verwechseln. | |
| 23 May 2021 | |
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| [4] https://www.schalom-aleikum.de/ | |
| ## AUTOREN | |
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