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# taz.de -- Jüdische Community in Sachsen-Anhalt: Aufbruch trotz Sorgen
> Mit zwei neuen Synagogen blickt die jüdische Gemeinschaft in
> Sachsen-Anhalt in die Zukunft. Doch der offene Antisemitismus und die AfD
> verunsichern.
Bild: Die Synagoge in Halle. Ein Rechtsterrorist versuchte sie 2019 zu stürmen
Halle taz | Igor Matviyets läuft am Samstag durch die Hallenser Innenstadt,
die Sonne scheint. Der 29-Jährige trägt ein braunes Jackett, um seine
Schulter hat er einen roten Jutebeutel gehängt. „Igor wählen“ steht darau…
Alle paar Meter wird er gegrüßt, Matviyets nickt freundlich zurück, sucht
Gespräche.
Matviyets kandidiert zur Landtagswahl für die SPD und ist Jude. Mit sieben
Jahren kam der junge Mann aus der Ukraine nach Deutschland, lebt heute in
Halle. Zwar sind seine Chancen eher gering, doch zöge er tatsächlich in den
Landtag ein, wäre Matviyets dort einer der sehr wenigen Migranten.
Gesellschaftliche Vielfalt ist ihm wichtig, er wirbt für bessere
Bildungspolitik, einen günstigen öffentlichen Nahverkehr.
Jetzt eilt Matviyets zu einer Menschenkette, die hunderte
Aktivist*innen unter dem Motto „Unteilbar“ für mehr Solidarität formen
wollen. Vor ihm läuft seine Parteivorsitzende Saskia Esken, auch sie ist
nach Halle gekommen. „Igor, ich hab' ein Anliegen“, ruft da eine Passantin
Matviyets zu. Und der nimmt sich wieder die Zeit – Esken ist mittlerweile
sowieso kaum noch einzuholen.
Die Passantin beklagt den Zustand der ehemaligen Trauerhalle am jüdischen
Friedhof in Halle. Die Nazis zerstörten die Davidstern-Fassade des in den
1920ern gebauten Hauses, heute zerfällt das Gebäude. Das müsse sich ändern,
findet die Bürgerin. „Genau dafür kämpfe ich!“, reagiert Matviyets
begeistert.
## „Brücken bauen, von Halle in die Welt“
Das Haus solle restauriert, die lange jüdische Geschichte der Stadt wieder
sichtbarer werden. Matviyets kommt ins Schwärmen: Der Architekt des Hauses,
Wilhelm Haller, zog nach seiner Flucht vor den Nazis 1933 in das noch junge
Tel Aviv, baute die Mittelmeermetropole mit auf. Die restaurierte
Trauerhalle wäre ein Zeichen der Vielfalt in der Stadt und würde
Verbindungen schaffen, ist Matviyets überzeugt. „Ich will Brücken bauen,
von Halle in die Welt.“
Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind indes komplizierter, das weiß
Matviyets auch. [1][Der Antisemitismus grassiert]. Das treibt in
Sachsen-Anhalt, und darüber hinaus, alle jüdischen Gemeinden um. Erst vor
einer Woche wurde ein Kippa-Träger in Magdeburg auf offener Straße
angegriffen. Zuvor gab es in Halle Demonstrationen gegen Israel. Teilnehmer
versuchten eine Israel-Flagge zu verbrennen, die Polizei konnte es
verhindern.
Und es ist nicht die erste Krise. Am 9. Oktober 2019 versuchte ein schwer
bewaffneter Rechtsextremist zu Jom Kippur [2][die Synagoge in Halle zu
stürmen]. Er scheiterte an der Eingangstür, erschoss daraufhin eine
Passantin und einen Gast in einem nahen Imbiss. Es war ein Schock, der
international Wellen schlug.
Max Privorozki, Gemeindevorsteher in Halle, war am Tag des Anschlags in der
Synagoge. „Die Tat wird hier niemand vergessen“, erzählt er. Und dennoch
sei das bestimmende Thema in der Gemeinde zuletzt ein anderes gewesen: die
Coronapandemie. Mehrere Feiertage hätten nur digital stattfinden können,
acht Gemeindemitglieder seien an der Krankheit gestorben, klagt Privorozki.
„Das hat uns heftig getroffen.“
## Land unterstützt Sicherheitsmaßnahmen
Dabei wird jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt gerade wieder sichtbarer. Gut
1.200 Gemeindemitglieder zählt das Land, viele von ihnen kamen aus
Osteuropa. Momentan begeht auch Sachsen-Anhalt das Festjahr „1700 Jahre
jüdisches Leben in Deutschland“. Noch wichtiger: In Dessau und Magdeburg
entstehen zwei neue Synagogen. Zudem schloss das Land Ende 2020 eine
Sicherheitsvereinbarung mit den jüdischen Gemeinden: Das Land übernimmt nun
für die nächsten fünf Jahre komplett deren Sicherheitsmaßnahmen, zahlt für
Wachpersonal und Umbauten.
Privorozki lobt den Schritt: „Das ist ein sehr guter Vertrag. Aber wir
haben auch sehr viel nachzuholen an Sicherheitsmaßnahmen. Seit der Wende
ist da im Grunde nichts passiert.“ Auch Matviyets betont, wie wichtig
solche Konzepte sind. „So gerne ich offene Synagogen in Deutschland hätte:
Die Tür der Synagoge in Halle ist verschlossen, und wir haben gesehen, wie
gut das war.“
Das Land will zudem den Kampf gegen den Antisemitismus stärken. Ein
entsprechendes Landesprogramm wurde initiiert, Recherchestellen gefördert,
Bildungsprogramme sollen folgen. Matviyets freut das, ein überfälliger
Schritt sei es. Aber all zu große Illusionen macht sich der SPD-Kandidat
nicht: „Da, wo es diese Programme gibt, ist der Antisemitismus sicher nicht
verschwunden.“
In Dessau soll es über Sicherheitsmaßnahmen hinausgehen. Dort wird in Kürze
das Fundament für die neue Synagoge gegossen, ein lichtdurchfluteter
Rundbau, der 90 Gläubigen Platz bieten soll. 1,7 Millionen Euro soll der
Bau kosten und bereits im Mai 2022 eröffnet werden. „Es ist unser Traum,
dass das klappt“, sagt Gemeindevorsteher Alexander Wassermann.
## Zwei neue Synagogen
Noch etwas größer soll die Synagoge in Magdeburg werden. Hier erhielt die
Gemeinde vor drei Wochen den Zuwendungsbescheid des Landes über 2,8
Millionen Euro. Die Vorplanungen stehen, bis 2023 soll die Synagoge in der
Innenstadt stehen – nahe des Standorts des früheren Gebetshauses, das 1938
von den Nationalsozialisten zerstört wurde und das die Gemeinde danach auf
eigene Kosten abreißen musste. Auch hier sagt Gemeindevorsteher Wadim
Laiter, seine Gemeinde sei „unendlich dankbar“ für die Förderung: „Der
Synagogenbau ist eine Anerkennung, dass wir hier sein dürfen.“
Mit der Landespolitik zeigen sich Laiter, Wassermann und Privorozski denn
auch zufrieden. „Das jüdische Leben wird in Sachsen-Anhalt gefördert, es
gibt einen engen Draht zur Landesregierung“, sagt Laiter.
Doch es bleiben auch Probleme. Eines weist ebenfalls in die Zukunft: Den
Gemeinden fehlt der Nachwuchs. Viele Gläubige sind Senior*innen, die Jungen
wandern ab – so wie andere Sachsen-Anhalter*innen auch. Würde es bessere
Arbeit in Sachsen-Anhalt geben, würden auch die jungen Gläubigen bleiben,
sagt Gemeindevorsteher Laiter. Er sei aber optimistisch, dass sich die
Gemeindegrößen durch Zuzüge hielten.
Andere Probleme kommen von außen. Nicht vergessen ist der frühere
Innenminister Holger Stahlknecht, der [3][öffentlich aufrechnete], dass die
Arbeitsstunden der Polizei für den Schutz jüdischer Einrichtungen im Land
anderswo fehlten. Und Larissa Korshevnyuk, Vorsitzende der liberalen
Gemeinde in Magdeburg, beklagt, dass ihre Gemeinde nicht am neuen
Synagogenbau in der Stadt beteiligt wurde und die Stadt keine Kosten für
Beerdigungen von mittellosen, alleinstehenden Gläubigen auf dem jüdischen
Friedhof übernehme. „Hier haben die Stadt und das Land Probleme nicht
gelöst.“
## „Eine Anerkennung, dass wir hier sein dürfen“
Die größte Sorge aber ist der Antisemitismus. 87 antisemitische Straftaten
zählte Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr – auch nach dem Schock des
Halle-Anschlags. Mit den jetzigen Anti-Israel-Protesten verschärfe sich die
Lage erneut, klagt der Hallenser Gemeindevorsteher Max Privorozki. „Das
Sicherheitsgefühl ist wieder angeschlagen.“ Der Konflikt Israels mit der
Hamas sei dabei aber nicht die Ursache, sondern nur der [4][Katalysator für
den bestehenden Antisemitismus] in der Stadt und im Land.
Privorozki kritisiert hier auch die Politik: Deren Integrationspolitik
versage, die Foren gegen Antisemitismus blieben wirkungslos. Dabei gefährde
der Hass die gesamte Demokratie. „Die Politik sollte weniger sagen und mehr
tun“, findet Privorozki. „Es ist ganz einfach: Alle bestehenden Mittel
gegen den Antisemitismus müssen voll ausgeschöpft werden.“
Diese Probleme kennt auch Zohar Lioz Aviv. Auch der junge Israeli steht auf
der Unteilbar-Demo am Samstag in Halle. Der trans Mann kam vor einigen
Jahren aus Tel Aviv in die Stadt. In der alternativen Szene hier fühlt er
sich wohl – sie ist wie er.
Doch auch hier spürt Aviv immer wieder Konflikte. „Manchmal fühle ich mich
wie der Botschafter Israels“, erzählt er. Und das als Linker. Als jemand,
der sich stets einen politischen Wechsel in seiner Heimat wünschte, weg von
der Netanjahu-Regierung. Aber die Einseitigkeit, mit der viele den Konflikt
in Israel wahrnehmen, auch unter Linken, ärgert ihn. „Wieso sind die vielen
Raketen, die auf meine Familie geschossen werden, für viele nicht
relevant?“
## „Ich habe Angst, dass die Leute merken, dass ich Israeli bin“
In den letzten Wochen fühlt Aviv sich immer wieder unsicher, die
[5][antiisraelischen Proteste] besorgen ihn. „Ich habe Angst, dass die
Leute merken, dass ich Israeli bin“, erzählt er. Wenn er heute durch Halle
läuft und Nachrichten auf hebräisch liest, achtet er darauf, dass niemand
seinen Handy-Bildschirm sehen kann. „Ich glaube nicht, dass Menschen mit
anderer Nationalität ihre Sprache verstecken müssen, wenn sie durch die
Stadt laufen“, bedauert Aviv nachdenklich.
Ganz neu sei das Gefühl der Unsicherheit leider nicht. In seinem
Sprachkurs, wo er vor allem mit syrischen Geflüchteten saß, verheimlichte
er seine geschlechtliche Identität, wegen seines Herkunftslands war die
Stimmung zumindest anfangs etwas angespannt. Trotz allem fühlt Aviv sich in
Halle weitestgehend wohl, er kann sich vorstellen zu bleiben. Erstmal,
zumindest.
Die Parteien versprechen der jüdischen Community vor der Landtagswahl ihre
Unterstützung, sagen dem Antisemitismus den Kampf an. SPD und Grüne wollen
den Ansprechpartner der Landesregierung für die jüdischen Gemeinde zu einem
Antisemitismusbeauftragten aufwerten, die SPD zudem landesweite jüdische
Kulturtage einführen. Die CDU betont ihre Unterstützung für die
Synagogenbauten. Einzig die AfD äußert sich in ihrem Wahlprogramm gar nicht
zur jüdischen Community.
Die Gemeindevorsteher halten ohnehin Abstand zu der Rechtsaußen-Partei.
Wadim Laiter erinnert an die Relativierung der NS-Gräuel als „Vogelschiss“
oder verharmlosende Äußerungen zum Halle-Anschlag. „Das haben wir genau
registriert. Ich kann die AfD beim besten Willen nicht als demokratische
Partei beschreiben.“ Bei der Wahl hoffe er deshalb auf „Vernunft“, sagt
Laiter. Sollte die AfD aber tatsächlich einmal an die Macht kommen, könne
er sich keine Zukunft mehr in diesem Land vorstellen.
Auch Matviyets beunruhigen die Wahlumfragen, der absehbare Erfolg der AfD.
Er könne jeden verstehen, den es verunsichere, wenn ein Viertel der
Wähler*innen die Stimme für Rechtsextreme abgebe. Aber aufgeben will er
keineswegs. „Mein Ventil ist der Kampf nach vorne“, sagt er.
6 Jun 2021
## LINKS
[1] /Antisemitismus-in-Deutschland/!5769807
[2] /Prozess-gegen-den-Attentaeter-von-Halle/!5730637
[3] /Schutz-von-juedischen-Einrichtungen/!5716143
[4] /Antisemitische-Proteste-in-Deutschland/!5767861
[5] /Pro-Palaestina-Demos-weltweit/!5772473
## AUTOREN
Konrad Litschko
Kevin Čulina
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