# taz.de -- Prozess gegen den Attentäter von Halle: Offene Wunden | |
> Keine Reue des Täters, aber offene Fragen, gestellt von den Überlebenden: | |
> Das Verfahren um das Attentat von Halle neigt sich dem Ende zu. | |
Bild: Viele Kränze, wenig Aufklärung: der Kiez Döner am 9.10.2020, dem Jahre… | |
An diesem Mittwoch sind die Betroffenen noch einmal in den Saal C24 des | |
Magdeburger Landgerichts gekommen. Die Gläubigen aus der Synagoge, der | |
Betreiber des Kiez Döner, ein Mann, der vom Attentäter fast überfahren | |
wurde. Sie nehmen zwischen ihren Anwält:innen Platz, einige setzen sich in | |
den Saal. Sie haben sich vorbereitet, hart gemacht. Denn sie wissen, was an | |
diesem Tag kommen kann. Hass, Hetze, Beschimpfungen. Und es kommt. | |
Denn an diesem 25. und vorletzten Verhandlungstag im Prozess zum Anschlag | |
von Halle hält der Angeklagte sein Schlusswort. Er tut es so, wie er sich | |
den ganzen Prozess lang verhielt. Am Vormittag tritt er ans Rednerpult | |
neben der Anklagebank. Er schaut direkt auf die Betroffenen, setzt zu einem | |
verbissenen Vortrag an. Das Verfahren gegen ihn schmäht er als politischen | |
Schauprozess, vergleicht es mit den Nürnberger Prozessen. Das Urteil stehe | |
doch längst fest: „lebenslänglich“ mit anschließender Sicherungsverwahru… | |
Aber das werde ihn nicht von seinem Weg abbringen. Er bellt es fast in den | |
Saal. | |
Die Überlebenden verfolgen seine Worte mit versteinerten Gesichtern. Einige | |
Zuhörer:innen haben den Saal schon zuvor verlassen. Aber der Angeklagte | |
macht weiter. Er verteidigt seine Tat, beschwört antisemitische | |
Verschwörungslegenden, spricht von einem Bürgerkrieg. Und er leugnet | |
unverhohlen den Holocaust. „Stoppen Sie das“, rufen einige | |
Nebenklage-Anwälte Richterin Ursula Mertens zu. Und Mertens unterbricht den | |
Angeklagten: „Ich hatte Ihnen das erklärt, Sie dürfen das nicht | |
wiederholen.“ Dann, sagt der Angeklagte, wäre das alles. | |
Es sind nur wenige Minuten, die der 28-Jährige damit für sein Schlusswort | |
aufwendet. Als Mertens den Prozesstag kurz darauf beendet, nehmen einige | |
der Betroffenen einander in die Arme. Sie habe Schlimmeres befürchtet, sagt | |
[1][Christina Feist]. Sie war eine der Gläubigen aus der Synagoge, die mit | |
dem Leben davongekommen sind. „Dass es inhaltlich katastrophal wird, war ja | |
klar.“ [2][Ismet Tekin], der Kiez-Döner-Betreiber, ist sichtlich | |
erleichtert darüber, dass der Angeklagte in seiner Hetze gestoppt wurde. | |
„Dass er noch mal Menschen so wehtun musste, ist peinlich. Er ist ein | |
Feigling.“ | |
Damit geht der Prozess zu Ende, wie er im Sommer begonnen hat. Mit | |
reuelosem Hass des Angeklagten. Und mit Betroffenen, die diesem Hass mit | |
Stärke entgegentreten. Seit Juli ist über den Anschlag des jungen | |
Rechtsextremisten verhandelt worden. Er hatte am 9. Oktober 2019 versucht, | |
in Halle die Synagoge zu stürmen, als 51 Gläubige dort gerade Jom Kippur | |
feierten, den höchsten jüdischen Feiertag. Er scheiterte an den | |
verschlossenen Türen, erschoss aber eine Passantin, Jana L., und später im | |
Kiez Döner einen Mittagsgast, Kevin S. | |
Nun steht nur noch das Urteil aus, am 21. Dezember soll es fallen. Und es | |
besteht tatsächlich kaum ein Zweifel: Der Angeklagte dürfte zur | |
Höchststrafe verurteilt werden. Womöglich kommt er nie mehr in Freiheit. | |
Hans-Dieter Weber, der Anwalt des Angeklagten, versucht am Mittwoch dies | |
noch zu verhindern. In seinem Plädoyer spricht Weber von dem wohl | |
„schwierigsten Verfahren“ seiner Karriere. Nicht menschlich, da habe sich | |
der Angeklagte ihm gegenüber „höflich“ verhalten. „Obwohl ich klargemac… | |
habe, dass ich die Tat in keiner Weise teile.“ Aber der Anschlag reihe sich | |
ein in die Tradition nationalsozialistischer Verbrechen, sein Mandant habe | |
an seinen „menschenverachtenden und rassistischen Einstellungen“ keinen | |
Zweifel gelassen. Es sei ein Glück, dass der Anschlag misslang, sagt Weber. | |
Während der Verteidiger die Morde und einige Schüsse auf Passanten und | |
Imbissbesucher als unstreitig einräumt, relativiert er andere Vorwürfe. | |
Allen voran den des 51-fachen versuchten Mords an den Synagogenbesuchern. | |
Sein Mandant sei doch bereits am Hoftor gescheitert und habe, obwohl er | |
noch weiteren Sprengstoff hatte, von sich aus aufgegeben, bekundet Weber. | |
Es sei daher von einem straflosen Rücktritt vom Tatversuch auszugehen. | |
Die Ankläger, und auch die Nebenklage-Anwält:innen, hatten in ihren | |
Plädoyers widersprochen: Natürlich habe es sich bei dem Angriff auf die | |
Gläubigen in der Synagoge um Mordversuche gehandelt. Dass der Attentäter | |
die Menschen töten wollte, sei völlig unstrittig. | |
Weber fordert ein „gerechtes Urteil“, ein Strafmaß benennt er nicht. Sein | |
Mandant habe im Prozess zwar „alle Argumente für eine Sicherungsverwahrung | |
bemüht“. Er sei aber auch noch jung und eine Verhaltensänderung im Alter | |
sei durchaus möglich. Auch sei die jahrelange Selbstisolation des Täters | |
zu beachten, sie spreche für eine psychische Erkrankung und damit für | |
verminderte Schuldfähigkeit. Der Beschuldigte schüttelt dazu leicht den | |
Kopf. Seine Inszenierung ist eine andere: als politischer Täter, nicht als | |
Gestörter. | |
## Schlaflos in Magdeburg | |
Die von dem Anschlag Betroffenen hatten zuvor die Höchststrafe gefordert. | |
Eine von ihnen ist Christina Feist. Monate vor den Worten des Verteidigers, | |
in einer Nacht Ende Juli, der Prozess hat eben erst begonnen, liegt Feist | |
in ihrem Magdeburger Hotelzimmer. „Ist es denn wirklich so schlimm in | |
Deutschland?“ Als eine Frau ihr in dieser Nacht über Facebook diese Frage | |
stellt, ist Feist noch wach. Es ist eine der ersten Nächte, die Feist hier | |
schlaflos verbringt. Obwohl sie doch weiß, dass es ihr hier schlecht geht, | |
kommt sie in den folgenden Monaten immer wieder an diesen Ort. Sie checkt | |
ein, legt sich hin, bleibt wach. Am Morgen dann steht sie auf und begibt | |
sich auf die Suche nach einem Weg aus dem Trauma. In den Gerichtssaal C24. | |
Anfang Dezember ist wieder eine dieser Nächte. Als Christina Feist im Hotel | |
ankommt, ist es schon spät. Wie viele Gefühle hat sie an diesem Ort schon | |
durchlebt? An diesem Abend hat sie Angst. Sie hat Angst davor, dass die | |
letzten Monate verschenkte Liebesmüh gewesen sein könnten. Sie hat Angst | |
davor, dass der angestoßene Diskurs versandet. Sie hat aber auch | |
Gewissheit: Wenn sie morgen an das Pult tritt und ihr Plädoyer hält, wird | |
es das letzte Mal sein, dass man ihr wirklich zuhört – weil man ihr zuhören | |
muss. Wie lauten die letzten Worte? | |
Es gibt Dinge, auf die können sich fast alle einigen. Ein Rechtsextremist, | |
der mit selbst gebauten Waffen eine Synagoge zu stürmen versucht, der auf | |
Dutzende Menschen zielt, einige dabei verletzt, der zwei Menschen ermordet, | |
einen vorsätzlich anfährt und bei unzähligen Menschen psychische | |
Verletzungen hinterlässt, einen Großteil dieser Taten auch noch filmt und | |
nach psychiatrischer Einschätzung voll schuldfähig ist – ein solcher | |
Mensch verdient die Höchststrafe. | |
Und doch umfasst der Prozess gegen den Attentäter von Halle bis zum Urteil | |
25 Prozesstage. Die Zahl der Betroffenen ist schwer zu ermitteln, aber 45 | |
von ihnen nehmen als Nebenkläger:innen an diesem Verfahren teil. Was treibt | |
diese Menschen an, wenn die Strafe doch auf der Hand und doch nicht in | |
ihrer Hand liegt? | |
## Die Motive benennen | |
„Wir sind alle hier, um Gerechtigkeit in ihren verschiedenen Formen zu | |
finden, für diesen Tag, das Böse, das wir alle so unterschiedlich erfahren | |
haben“, sagt [3][Talya Feldman] an jenem Pult, an das auch Christina Feist | |
treten wird. Beide Frauen waren am 8. Oktober 2019 in der Synagoge in Halle | |
anwesend. Feldman ist eine freundliche Frau, selbst als sie an diesem | |
Morgen mit etwas zittriger Stimme zu sprechen beginnt. Sie ist wie | |
Christina Feist eine derjenigen, die sich entschieden haben, in diesem | |
juristischen Verfahren aktiv nach Gerechtigkeit zu suchen. | |
Anfangs sucht Feldman nach Gerechtigkeit für ihre Gruppe. Während die Morde | |
an Jana L. und dem Besucher des Imbisses, Kevin S., unbestreitbar sind, | |
erkannte die Bundesanwaltschaft den akribisch geplanten und antisemitisch | |
motivierten Angriff auf die Synagoge in ihrer anfänglichen Anklageschrift | |
nicht als Mordversuch an. Schon vor Prozessbeginn bauen die Betroffenen so | |
viel Druck auf, dass die Anklageschrift auch diesen Angriff als versuchten | |
Mord wertet. | |
Gerechtigkeit bedeutete auch, dass die Tatmotive klar benannt werden: | |
Antisemitismus, Rassismus, Frauenhass. Dass der Täter keine Bühne für die | |
Ausbreitung dieser Ideologien bekommt. Dass der Mythos von einem | |
Einzeltäter keinen Bestand hat. Dass sein Onlineumfeld betrachtet wird, in | |
dem Rechtsterror wie in Christchurch glorifiziert wird. Dass ein | |
gesellschaftliches Klima erkannt wird, das gewisse Menschen und | |
Organisationen bereits vor Jahren Rassismus salonfähig gemacht haben. | |
Wenn Christina Feist im Gerichtssaal sitzt, macht sie sich Notizen. Sie | |
erkennt: „Es kommen immer wieder dieselben Hauptpunkte.“ Und doch gibt es | |
noch so viel zu sagen, dass sie sich entscheidet, noch ein letztes Mal das | |
Wort zu ergreifen, bevor das Urteil fällt. Sie ist damit nicht allein. | |
## Opfer verschiedener Klassen | |
Talya Feldman benennt eine der offensichtlichen Lücken in diesem Verfahren. | |
Ihre Stimme wird dabei fester, und ihr Gesicht verhärtet sich, als sie | |
sagt: „Nachdem dieser Mann monatelang Hass und Ideologie von sich gab, | |
wurden Adiraxmaan Aftax Ibrahim und Ismet Tekin immer noch nicht als | |
versuchte Mordopfer anerkannt, obwohl auch hier das Motiv doch | |
offensichtlich ist.“ | |
Während die Schüsse, die der Täter in Richtung von Polizisten abgab, im | |
Prozess als Mordversuch bewertet werden, betrachtet die Bundesanwaltschaft | |
Angriffe auf andere Bürger dieses Staates offenbar als weniger bedeutend. | |
So wie bei Ismet Tekin, dem Besitzer des Imbisses Kiez Döner, den eine | |
Kugel nur knapp verfehlte. Oder wie bei dem Schwarzen Adiraxmaan Aftax | |
Ibrahim, der auf der Flucht vom Täter gezielt angefahren wurde. Das genügt | |
laut Bundesanwaltschaft nicht dem Anklagepunkt „versuchter Mord“, trotz | |
eines nachdrücklichen Antrags der Nebenklage. Ismet Tekin wendet sich im | |
Prozess an die Bundesanwälte. „Bei allem Respekt, ich akzeptiere nicht, was | |
Sie gesagt haben.“ Warum habe er bis heute Albträume und Schmerzen? | |
Natürlich habe der Täter ihn töten wollen. „Sonst hätte er gestoppt“, s… | |
Tekin. | |
Talya Feldmans Rechtsanwalt spitzt in seinem Plädoyer zu: „Der Prozess hat | |
gezeigt, dass Schwarzen und muslimischen Menschen doch nur widerwillig | |
zugehört wird.“ Sie selbst bringt das zu der Aussage: „In diesem | |
Gerichtssaal werde ich immer wieder daran erinnert, dass Gesetz nicht | |
Gerechtigkeit ist.“ | |
Schon im September sprechen einige Nebenkläger:innen im Zeugenstand. Die | |
vorsitzende Richterin gibt ihnen Zeit und Raum, ihr Inneres nach außen zu | |
kehren. Es ergibt sich ein Mosaik aus Bildern, Erlebnissen und Formen von | |
Traumata. Bunte Fenster, Scherben, Gebete, Starre, Fluchtinstinkt. Doch | |
ihre Aussagen haben in ihrer Vielfältigkeit zwei Dinge gemeinsam: das | |
Attentat und das Entsetzen über die Polizei. | |
Das findet sich in den Plädoyers wieder. Talya Feldman greift fest an ihre | |
Taille und streckt die Ellenbogen aus, als sie sagt: „Ich habe überlebt, | |
weil die Gemeinde in Halle so gut reagiert hat – sie und niemand sonst!“ | |
Ein Überlebender aus dem Kiez Döner, der anonym bleiben möchte, lässt durch | |
seine Anwältin berichten, man habe ihn am Tattag am Telefon einmal | |
abgewürgt und einmal aufgefordert „gefälligst lauter zu sprechen“, als er | |
aus seinem Versteck den Notruf wählte. Auch vor der Tür des Kiez Döner und | |
der Synagoge kümmerte sich die Polizei den Aussagen zufolge nicht um die | |
Überlebenden, sondern verschlimmerte nur deren Traumata. | |
Auch über den Tag des Attentats hinaus bleibt die Opferhilfe von | |
offiziellen Stellen, vorsichtig ausgedrückt, überschaubar. Der Kiez Döner | |
kämpft seit dem Anschlag um sein Überleben. Das Geld für den nötigen Umbau | |
wurde nicht vom Staat, vom Land oder von der Stadt Halle bereitgestellt, | |
sondern von einer jüdischen Studierendenorganisation gesammelt. Und wer | |
hat jemals auch nur in das Gesicht von Adiraxmaan Aftax Ibrahim gesehen? | |
Eine aktive Begleitung erfährt er nur durch die Mobile Opferberatung und | |
andere Betroffene, Soligruppen und Nachbar:innen. | |
Alle Betroffenen eint, dass sie gelernt haben, selbst handeln zu müssen – | |
während des Attentats, im Umgang mit den psychischen und finanziellen | |
Folgen und selbst im Prozess. „Ich bin wütend auf das BKA, dass es nicht | |
als seine Aufgabe anerkennt, Kontexte zu verstehen“, sagt Feldman. | |
Der Beamtin, die auf das Onlineverhalten des Täters angesetzt wurde, war | |
keine der einschlägigen Imageboards, deren Sprache und Ästhetik er sich in | |
seinem Tatvideo bedient hatte, bekannt. Sie kannte gerade mal die | |
Plattform, auf der er sein Video live streamte. Die Auseinandersetzung mit | |
den Schriften des Täters wurde ebenso nachlässig untersucht. Verweise auf | |
vergleichbare Attentate wie die von Christchurch wurden nicht ermittelt, | |
das Material auf den mitgeführten Datenträgern des Täters wurde nur | |
oberflächlich gesichtet und eine Untersuchung des Zusammenhangs all dieser | |
Punkte vollends unterlassen. | |
„Sie verstehen die offensichtliche Verbindung zwischen diesem Anschlag und | |
anderen Formen der online und offline stattfindenden Radikalisierung nicht. | |
Letztendlich sagt das, dass sie uns künftig nicht vor dieser Art der Gewalt | |
zu bewahren gedenken, dass sie nicht daran glauben, dass diese | |
Radikalisierung und Gewalt eine Gefahr sind“, sagt Feldman. | |
Kenntnisse sammelten dagegen die Nebenkläger:innen selbst auf der mit | |
Wissenschaftler:innen und Künstler:innen initiierten Website | |
nsu-watch.info. In den Gerichtssaal zieht dieses Wissen nur durch externe | |
Sachverständige ein, die Journalistin Karolin Schwarz, den Vorsitzenden der | |
Recherche- und Informationsstelle für Antisemitismus, Benjamin Steinitz, | |
und den Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und | |
Zivilgesellschaft in Jena, Matthias Quent. | |
Doch reicht diese Aufklärung für Gerechtigkeit? | |
## Die Traumata nach dem Attentat | |
Trauer, Trauma und Bewältigung haben viele Gesichter. Jeder Mensch hat | |
dieses Attentat anders erlebt. Manche haben Bänder der Solidarität | |
geknüpft, andere haben sich isoliert. Einige Betroffene verfolgen jeden | |
Prozesstag von der Nebenklage aus, den Angeklagten im Sichtfeld. Manche | |
kommen an besonderen Terminen, etwa wenn Menschen aus ihren Reihen das Wort | |
erheben. Wieder andere finden nicht die Kraft, sich von ihrer Couch zu | |
erheben, die seit dem Anschlag zu ihrem Lebensmittelpunkt geworden ist. | |
Gerade die jungen Betroffenen aus der Synagoge ziehen ihre Kraft aus | |
politischem Kampf. Und dennoch kann die Stärke der Betroffenen nicht | |
darüber hinwegtäuschen, wie viel Leid dieser Anschlag verursacht hat. | |
Etliche von ihnen haben berichtet, wie sie bis heute in Therapien seien. | |
Wie sie Angst hätten, Albträume. Und wie Antisemitismus und Rassismus | |
weiter ihren Alltag prägten. Dass er Opfer eines auch rassistischen | |
Anschlags wurde, sei letztlich „nicht unerwartet“ gekommen, wird der | |
Somalier Aftax Ibrahim von seiner Anwältin zitiert. Zu regelmäßig habe er | |
zuvor Anfeindungen erlebt. | |
Und es gibt gänzlich zerstörte Schicksale: die der Familien von [4][Kevin | |
S.] und [5][Jana L]. Die Angehörigen von Jana L. finden nicht die Kraft, um | |
an dem Prozess teilzunehmen. Die Mutter von Kevin S. braucht dazu bis zum | |
22. Verhandlungstag, bis zum Schlusswort ihres Anwalts. Versunken sitzt die | |
zierliche Frau hinten im Saal, kämpft mit den Tränen. Auch Kevins Vater | |
Karsten L. muss seine Zeugenaussage abbrechen, er kann vor Schluchzen nicht | |
mehr weitersprechen. Bis dahin hat der Gerüstbauer berichtet, wie Kevin S. | |
trotz geistiger Behinderung die Förderschule geschafft habe, eine | |
Ausbildung in einer Malerfirma erkämpft habe, leidenschaftlich Spiele des | |
Halleschen FC besuchte. „Er war megastolz.“ Und dann, neun Tage nach Beginn | |
seiner Lehre, wird Kevin beim Mittagessen erschossen. Die Eltern sehen das | |
Video des Mordes. Als Karsten L. dies erwähnt, ist es der Moment, in dem | |
nichts mehr geht. Er und Kevins Mutter sind bis heute in psychologischer | |
Behandlung, teils stationär. „Wir brauchen extrem Hilfe“, sagte er. | |
Nur die, die sprechen, können zitiert werden. Einige achten genau auf ihre | |
Worte und spitzen sie zur Waffe, andere nutzen die des Täters. Einige | |
zitieren die Tora. | |
## Losgesagt von der Macht des Täters | |
Der Täter selbst hätte im Gerichtssaal am liebsten seine Ideologien | |
ausgebreitet. Anfangs nutzt er jede Chance dazu, bis das Gericht strenger | |
mit ihm wird. Von da an verfolgt er den Prozess mit betonter Gelassenheit, | |
teils grinsend oder auflachend. Aussagen der Betroffenen kommentiert er mit | |
Zwischenrufen, während der Plädoyers hält er Zeichnungen hoch, um die | |
Betroffenen aus dem Konzept zu bringen. Ein erbärmlicher Auftritt. | |
Doch schon in den Aussagen im September sagen sich einige Überlebende von | |
seiner Macht los: „Du hast dich mit der falschen Person angelegt, mit der | |
falschen Familie, mit den falschen Nebenklägern“, sagte Mollie Sharfman. | |
„Von diesem Tag an wird er mir keine persönlichen Qualen mehr verursachen. | |
Es endet heute.“ Vorbeter Roman Remis betont die breite Solidarität nach | |
dem Anschlag. „Ich bleibe hier. Und du? Für den Rest deines Lebens musst du | |
damit leben: Was du getan hast, hat nichts gebracht.“ Auch Ismet Tekin hat | |
den Angeklagten direkt angesprochen: „Sie haben nicht gewonnen. Sie haben | |
auf ganzer Linie versagt. Mein Bruder lebt, ich lebe. Entstanden ist noch | |
mehr Zusammenhalt und mehr Liebe.“ | |
In den Plädoyers der Nebenkläger:innen liegt die Macht nicht mehr beim | |
Täter. Wer an diesen Tagen an das Pult tritt, findet nur Worte der | |
Ablehnung. Die letzten Worte an den Täter sind: Versager. Verweichlichtes | |
Muttersöhnchen. Der sich ob seines erbärmlichen Daseins in Selbstmitleid | |
Suhlende. Der, der nichts, aber auch nichts auf die Reihe bekommen hat. Um | |
ihn mit den Worten seines Onlineumfelds zu benennen: ein Ronny-Terrorist. | |
Da hilft dir auch dein Lachen nicht weiter. | |
## Lob für Richterin Ursula Mertens | |
Richterin Ursula Mertens hat in dem Verfahren den Betroffenen ihren Raum | |
gelassen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, wie man an den Prozessen | |
gegen den NSU oder den Lübcke-Attentäter sieht, in denen Opfer oder | |
Angehörige vom Gericht teils schroff befragt wurden. Mertens aber lässt sie | |
alle aussprechen, hört ihnen zu. Sie lädt Sachverständige, die ihre | |
Anwält:innen vorgeschlagen haben. Sie gewährt über lange Zeit gar Applaus | |
im Gerichtssaal. Und als Mertens dies doch unterbindet, lässt sie zu, dass | |
sich ZuhörerInnen fortan nach Aussagen von Nebenklägern erheben, um ihnen | |
so Respekt zu zollen. | |
Mehrere Nebenklageanwälte bedanken sich am Ende bei Mertens für ihre | |
Prozessführung. Auch Verteidiger Weber will am Mittwoch von einem | |
Schauprozess, wie es der Angeklagte behauptet, nichts wissen. Er bedankt | |
sich ebenso, seinem Mandanten seien alle Rechte gewährt worden. | |
9 Dec 2020 | |
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